Die Kanzlerflüsterin

Bevor Olaf Scholz in seinem neuen Amt richtig loslegen kann, braucht er dringend Inspiration von berufener Seite.

Bundeskanzler, das ist eine verantwortungsvolle Aufgabe. Und mitunter hat man sie lange, wie das Beispiel Angela Merkels gezeigt hat. Noch dazu konnte ja jemand, der für die SPD antritt, nicht ernsthaft damit rechnen, dass er tatsächlich gewählt wird. So durften sich frühere SPD-Kandidaten darauf freuen, nach ihrer erwartungsgemäß gescheiterten Kandidatur ihre Rente zu genießen. Nicht so Olaf Scholz. Sein Erfolg hat ihn kalt erwischt, und sicher taumelt er jetzt orientierungslos in Richtung Kanzlerschaft. Auf der Schwelle zu ungeahnter Machtfülle braucht so jemand deshalb dringend Rat. Und wer könnte den kompetenter und zugleich warmherziger geben als unsere Autorin?

„Geben Sie Gedankenfreiheit!“, riet Marquis Posa bei Schiller bekanntlich seinem König. „Geben Sie Volksabstimmungen!“, „Fördern Sie ausnahmsweise mal nicht das Wirtschaftswachstum, sondern geistiges Wachstum!“ und „Vergessen Sie die weniger Betuchten nicht!“. Das sind die Anregungen einer Bürgerin, die selbst nicht immer auf der Sonnenseite des Lebens stand. Von allein käme ein Sozialdemokrat ja auch nicht auf das Soziale. Man sieht, zum Start seiner Kanzlerschaft kommt der kühle Macher aus dem Norden keinesfalls ohne die Autorin klar.
 
Sehr geehrter Herr Scholz,

zunächst meinen herzlichen Glückwunsch zur gewonnenen Wahl. Meine Freunde und ich erhoffen sich nun von Ihnen und Ihrer Regierung nicht nur eine ökologisch nachhaltige und finanziell stabilisierende, sondern auch eine wahrhaft soziale Führung und Haltung.

Hab ich das nicht toll gesagt? So richtig professionell!

Hierzu darf ich Ihnen einen guten Rat geben. Ich bitte inbrünstig — jawohl: inbrünstig, aus vollem Herzen, mit ganzer Kraft — darum, dass Sie und Ihre Regierung den guten Rat annehmen und natürlich auch umsetzen.

1) Etablieren Sie den „Bürgerrat“ — nach dem Vorbild der bisherigen Räte zum Thema „Mehr Demokratie“ und „Deutschlands Rolle in der Welt“ — dahingehend, dass der Rat der Bürger in einer Volksabstimmung ratifiziert wird, falls die Regierung diesem nicht umgehend folgt. Schaffen Sie dafür die gesetzliche Grundlage und lassen Sie dieses Gesetz in einer ersten Volksabstimmung gemäß Grundgesetz (GG) Artikel 20/2 bestätigen.

Anschließend waschen Sie rituell Ihre Hände in Unschuld — für alle Fälle, falls der Wille des Souveräns gefährlich werden könnte. Gefährlich für wen eigentlich?

2) Folgen Sie in Sachen ökologische Nachhaltigkeit fachübergreifenden wissenschaftlichen Erkenntnissen — notfalls mithilfe von extraterrestrischen Wesenheiten — wie UFO-Berichte des Militärs nahelegen.

Keine Sorge: Die Sache mit den Außerirdischen ist nur ein Kunstgriff von mir. Ich bin Künstlerin. Ich darf das.

3) Etablieren Sie eine Regierungsform, in der die Bedürfnisse der Wesen — selbstverständlich auch der Tiere, ja sogar der Bäume und Pflanzen — befriedigt werden, und setzen Sie Rahmenbedingungen zur Förderung des geistigen Wachstums.

Ich fange von hinten an, diesen meinen guten Rat für Sie näher zu erklären:

Die Bedürfnisse der Wesen befriedigen und Rahmenbedingungen zur Förderung des geistigen Wachstums setzen.

Nehmen Sie dazu bitte meine Person als ideales Beispiel:

Ich bin bald 65 Jahre alt, überwiegend alleinerziehende Mutter von 5 Kindern gewesen, habe mit 17 Jahren nach dem Abschluss der Mittleren Reife angefangen zu arbeiten und erhalte heute seit Anfang des Jahres eine monatliche Rente von circa 900 Euro netto. Ich bin krankenversichert und habe bis zum Erreichen des gesetzlichen Rentenalters mit 67 Jahren eine Zuverdienstgrenze von 6.300 Euro im Jahr, unversteuert. Das entspricht dem berühmten 450-Euro-Job mit 14 Gehältern. Wenn ich dann 67 Jahre bin, kann ich hinzuverdienen, so viel ich kann und will, ich muss es halt versteuern.

Das heißt: Wenn ich älter und gebrechlicher werde und nichts mehr dazuverdienen kann, werden meine Kinder und Enkelkinder auf Geschenke verzichten müssen, und eventuell werden sie mich sogar finanziell unterstützen. Das machen sie bestimmt gerne, insbesondere da sie ja schon ohnehin derzeit zusammen etwa 2.000 Euro oder mehr in die Rentenkasse zahlen. Als Ausgleich dafür, dass meine Kinder in die Rentenkasse einzahlen, dürften sie dann die eigene Mutter — die Väter auch nicht zu vergessen! — im Alter zusätzlich auch noch unterstützen und bekommen obendrauf das Versprechen, dass sie selber auch einmal eine Rente erhalten werden. Was die dann wert sein wird, weiß kein Mensch.

Weiter in meinem idealen Beispiel mit den 900 Euro Bürgergeld.

Ich nenne es jetzt Bürgergeld. Denn — wie oben erwähnt — ich würde mir ja wünschen, dass es alle so gut haben sollen wie ich. Auch die Hartz-IV-Menschen, die Studenten, die Kinder und die zahlreichen Frauen, die sich um Kinder und Alte kümmern und die deutlich weniger als 900 Euro im Monat haben.

Wie lebe ich?

Von den 900 Euro lege ich 300 Euro in die Haushaltskasse für Einkäufe des täglichen Bedarfs. Das reicht nicht wirklich, weil wir uns gesund ernähren und auf faire Lieferketten nicht verzichten möchten, das kostet extra. Und zwar mich kostet das extra, nicht etwa die Saubären, die Leute ausbeuten und betrügen, damit sie selber höhere Gewinne einfahren.

300 Euro benötige ich fürs Wohnen, kalt — dazu später mehr. Das reicht natürlich normalerweise hinten und vorne nicht und geht auch nur, weil die Wohnung mir gehört. Zum Glück. Ich wünschte, die vielen Wohnungslosen hätten auch dieses Glück. Spätestens im Alter. Zum Aufstocken der spärlichen Rente.

Die restlichen 300 Euro sollten dann reichen für Wärme, Strom, Telefon, Transport — also Energiekosten. Für Sonstiges wie Kleidung, Reparaturen et cetera könnte ich noch 100 Euro extra gebrauchen. Aber ich habe ja einen Zuverdienst, und durch den Zuverdienst geht es mir gut, sodass ich es mir leisten kann, etwas zu verschenken oder zu spenden. Ich wünschte wirklich, jedem Menschen auf der Welt würde es so gut gehen wie mir. Fangen wir also hier bei uns in Deutschland damit an. Das ist mein ernstgemeinter Rat.

Denn tatsächlich geht es bei Weitem nicht allen Deutschen so gut wie mir. Ich kann Ihnen auf Anhieb vier Leute nennen, denen es finanziell schlechter geht. Die haben richtig Mangel und Not. Tja. Die haben nicht bloß Pech gehabt. Die sind unschuldig in den Strukturen der Bundesrepublik hängengeblieben.

Deshalb schreibe ich Ihnen ja. Sie als ehemaliger Finanzminister werden wissen, dass die These, für das Finanzsystem sei Mangel vonnöten, damit es funktioniert, ein dreister Schwindel ist. In Wirklichkeit besteht überhaupt kein Mangel an Geld! Bei Bedarf kann Geld quasi aus dem Nichts geschöpft werden. Das nennt man Fiat-Money. Es werde Geld! Das wissen Sie ja. Für unser Modell — welches übrigens weltweit kopiert werden kann — werden Sie eventuell neues Geld schöpfen müssen. Es sei denn, Sie bevorzugen, das alte Geld zu konfiszieren und neu auszuschütten.

Wie Sie wissen, wäre das eigentlich notwendig, und es wäre auch kein Problem. Das Grundgesetz gibt das her bei entsprechender Deutung. Sie brauchen halt nur wieder die Zustimmung des Souveräns — siehe oben Punkt 1. Sonst wird es nicht funktionieren. Der Souverän muss einverstanden sein. Immerhin geht es um einen Neustart. Mit MEHR DEMOKRATIE — statt weniger! — und mit einem NEUEN WIRTSCHAFTS- UND FINANZSYSTEM.

Ich schreib das extra in Großbuchstaben. Weil meine Freunde, die Außerirdischen, die meinen das schon ernst. Leider dürfen sie nicht direkt eingreifen. Sie wissen schon: die oberste Direktive! Deshalb verlegen sie sich aufs Einflüstern. Hören Sie also gut zu!

Wir brauchen ein neues Wirtschafts- und Finanzsystem! Ehrlich. Wirklich. Echt.

Und Sie, Herr Scholz, können dann in die Geschichte eingehen als derjenige, der es auf den Weg gebracht hat. Wär das was? Übrigens kann das neue Geld durchaus eine Weile parallel mit dem alten Geld fließen. Das kennen wir Älteren ja schon von der Einführung des Euro damals.

Ich könnte noch viel zu diesem guten Rat hinzufügen. Aber ich lasse es jetzt vorerst einmal so stehen. Ich gehe davon aus, dass Sie mir geistig folgen können. So schwer ist es nicht, sich ein neues Geld vorzustellen. Vor allem, wenn man schon einmal die Einführung von neuem Geld erlebt hat. Nur: Dieses Mal möchte ich gerne mitgestalten. Ich als Bürgerin und Künstlerin. Ich bin nämlich eine dieser fachübergreifenden Spezialistinnen dafür!

Jedenfalls noch mal zur Wiederholung — das sind die drei Eckpunkte für meinen guten Rat von heute:

  1. Bürgerräte und Volksabstimmung gesetzlich verankern.
  2. Fachübergreifende ExpertInnen-Räte wegen Natur- und Klimaschutz und überhaupt.
  3. Existenzielle Bedürfnisse befriedigen und Rahmenbedingungen zur Förderung des geistigen Wachstums schaffen.

Ich gehe davon aus, dass Sie das Prinzip der Bürgerräte und der Weiterentwicklung der Demokratie bereits auf dem Schirm haben. Wenn nicht, fragen Sie doch bitte den Herrn Schäuble. Er war Schirmherr der bisherigen Bürgerräte.

Und dass der Rat von ExpertInnen, wenn diese nur aus einer Fachrichtung kommen, große Probleme nach sich zieht, haben Sie ja während der Coronakrise gesehen. Sie sollten wirklich wissen: Alle Probleme, die wir derzeit auf diesem schönen Planeten haben, greifen ineinander. Alle! Die Maßnahmen wegen des Virus haben zum Beispiel zahlreiche soziale Verwerfungen hervorgebracht beziehungsweise verstärkt und vor allem die ohnehin große Anzahl psychischer Erkrankungen drastisch erhöht, besonders bei Kindern und Jugendlichen. Das wissen Sie doch, oder?

Auch ist derzeit in Deutschland die Versorgung von Kindern in Kinderkrankenhäusern nicht gewährleistet. Wissen Sie das? Aber das ist nur eine weitere Baustelle; ich kann auch dazu guten Rat geben. Mir fällt immer etwas ein. Als Künstlerin bin ich da im Vorteil! Deshalb bitte: in Zukunft fachübergreifenden Rat einholen! Vor allem von mir! Da es Ihnen möglich ist, sogar extraterrestrischen Rat einzuholen, nämlich über mich als Medium — tun Sie es! Keine Angst — ich beiße nicht!

Mit freundlichen Grüßen

Ihre gute Ratgeberin
Monika Herz