Die Kampf-Doktrin
Das kapitalistische Menschenbild und seine Fixierung auf den Wettbewerb vergiften zunehmend alle Lebensbereiche. Exklusivabdruck aus „Die Wiederentdeckung des Menschen“.
Das Synonym für „gut“ lautet heute „wettbewerbsfähig“. Die Fähigkeit, andere unter Aufbietung aller verfügbaren Kräfte niederzuringen, gilt als Kardinaltugend des neuen, vom Ökonomismus bis an die Haarspitzen durchdrungenen Menschen. Dies geschieht auf allen Ebenen: von der vermeintlich harmlosen „Game-“ oder „Casting-Show“ über die Bewerberauslese bis zum globalen Ringen der Supermächte um Dominanz und Marktanteile. Selbst kritische Menschen haben heute den (kapitalistischen) inneren Antreiber im Kopf. „Ich muss besser werden als…“. Dies verursacht erheblichen emotionalen Stress, erzeugt ein Lebensgefühl der Vereinzelung und zerstört die Solidarität in der Gesellschaft.
„Ein großes, globales Rennen hat begonnen: die Weltmärkte werden neu verteilt, ebenso die Chancen auf Wohlstand im 21. Jahrhundert. Wir können wieder eine Spitzenposition einnehmen, in Wissenschaft und Technik, bei der Erschließung neuer Märkte“ (1) — Roman Herzog.
Es kann heute kein Zweifel bestehen: Konkurrenz herrscht überall, der Druck des Wettbewerbs bestimmt das Leben. Diese Einschätzung ist so selbstverständlich, dass 15 Jahre nach der sogenannten Ruck-Rede des damaligen Bundespräsidenten der ehemalige britische Premierminister David Cameron seine Landsleute fast wortgleich auf den schweren Konkurrenzkampf einschwört:
„Die Wahrheit ist: Wir befinden uns heute in einem globalen Wettlauf, und das bedeutet eine Stunde der Abrechnung für Länder wie das unsere; sinken oder schwimmen; tun oder sinken“ (2).
In der Tat. Es kann heute kein Zweifel bestehen: Konkurrenz herrscht überall, der Druck des Wettbewerbs bestimmt das Leben. Sei es in der Schule, bei der Bewerbung oder am Arbeitsplatz, in der Freizeit auf dem Sportplatz oder bei der Castingshow im Fernsehen, nicht zuletzt sogar bei der Anzahl der Freunde auf Facebook (3). Zwischen Betrieben und Unternehmen herrscht Konkurrenz. Zunehmend zwischen Schulen und auch zwischen Universitäten. Zwischen gewerblich genutzten Standorten und auch zwischen Krankenhäusern. Und letztendlich herrscht auch zwischen den Staaten ein gnadenloser Wettkampf, sei es um Ressourcen, die Positionierung in der Weltwirtschaft oder im internationalen Steuerwettbewerb.
Konkurrenz ist nicht zuletzt das zentrale Merkmal des Neoliberalismus, wie der The Guardian-Journalist George Monbiot in seinem Versuch schreibt, dieses widersprüchliche Phänomen zu definieren: „Der Neoliberalismus betrachtet den Wettbewerb als das bestimmende Merkmal der menschlichen Beziehungen. Er definiert die Bürger neu als Verbraucher, deren demokratische Entscheidungen am besten durch Kauf und Verkauf getroffen werden, ein Prozess, der Verdienste belohnt und Ineffizienz bestraft. Er behauptet, dass ‚der Markt‘ Vorteile bietet, die durch Planung nie erreicht werden könnten“ (4).
Die Vorteile des Marktes scheinen so offenkundig, dass sie kaum mehr diskutiert werden.
Die Konkurrenz schläft bekanntermaßen nie, sondern sie belebt das Geschäft. Die Konkurrenz zwingt die Anbieter am Markt, den Preis kompetitiver zu gestalten und die Qualität des Produkts zu verbessern. Im Gegensatz zum Staatsmonopol, das den Preis festschreibt und so dem Hersteller keinerlei Druck auferlegt, die Qualität stetig zu verbessern und die Konkurrenten auszustechen, reguliert der Markt unbeirrbar und unbestechlich den Preis. Zum Vorteil des Käufers, denn dieser kann bei dem Händler einkaufen, der den attraktivsten Preis anbietet. So die Theorie.
In der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Realität sind viele strukturelle Rahmenbedingungen mittlerweile bewusst so gestaltet worden, dass sie dem kapitalistischen Menschenbild und den Gesetzen der Wirtschaft entsprechen. So getroffene Entscheidungen erscheinen uns inzwischen ebenso naheliegend wie der Glaube an das kapitalistische Menschenbild. Bevor wir anhand einiger Beispiele diese Rahmenbedingungen kurz darstellen wollen und anschließend diese am Beispiel der Schule detaillierter darlegen werden, wollen wir skizzenhaft darstellen, wie allgegenwärtig der Konkurrenzkampf in Gesellschaft und Wirtschaft ist.
Konkurrenz herrscht in fast allen Sportarten, in fast allen Spielen (5), in fast allen Reality-Shows von The Voice über Big Brother bis zum Dschungelcamp. Auch bei der Arbeitssuche ist er zu finden, wenn der Mitmensch schnell zum Konkurrenten wird und man als „unternehmerisches Selbst“ die Vorteile der eigenen Ich-AG herausarbeiten muss, mit dem erklärten Ziel, das eigene Profil von der breiten Masse der anderen Bewerber abzusetzen.
Die Allgegenwart des Konkurrenzkampfes zeigt sich auch in den politischen Debatten, insbesondere im Fernsehen. „Talkshows sind Teil der Unterhaltungsindustrie. Sie arrangieren komplizierte Fragen als Kämpfe, bei denen das Publikum Sieger und Besiegte sehen will“, wie die Autoren von „Mit Rechten reden“ feststellen (6). Der Wille, in den Augen der Fernsehzuschauer als Sieger einer Talkrunde zu erscheinen, ist fast immer wichtiger als der Wunsch, gemeinsam — auch mit Menschen aus anderen politischen Lagern — an einer Lösung des zu erörternden Problems zu arbeiten, einander zuzuhören und voneinander zu lernen. Ähnliches lässt sich selbstverständlich über die Politik insgesamt sagen: Gemeinsame Lösungen anzustreben und nach langen Verhandlungen auch als Kompromiss zu finden, ist eine Ausnahme, da die Parteien Sorge haben, der jeweils am Kompromiss beteiligte Gegner könnte größeren Profit herausschlagen und man verlöre an Parteiprofil und damit in der Umfragegunst.
In der Weltpolitik zeigt sich Konkurrenz so selbstverständlich, dass es nicht einmal mehr wahrgenommen wird. Zu natürlich erscheint es, dass jedes Land sich selbst das Nächste ist („America First”) und den eigenen geostrategischen Einfluss auszuweiten trachtet. Von der Expansion der eigenen Wirtschaft ganz zu schweigen. Als stellvertretendes Beispiel sei hier eine Folie des US-amerikanischen Geheimdienstes NSA zitiert, die sich in den Dokumenten des Whistleblowers Edward Snowden befand.
Unter dem Titel „Die Rolle der nationalen Interessen, Geld und Ego” erklärt der Autor, dass diese drei Faktoren zusammen die Hauptmotive der USA seien, um die weltweite globale Überwachungsherrschaft zu behalten. Auf einer Folie wird explizit die Frage gestellt: „Welches Land will die Welt nicht zu einem besseren Ort machen … für sich selbst?“ (7). (Mit ziemlicher Sicherheit darf man annehmen, dass jedes Land ähnliche Interessen, zumindest aber vergleichbare Wünsche hat oder hätte, wenn es sich in einer ähnlichen Machtposition befände).
In der Weltwirtschaft zeigt sich ein ganz ähnliches Phänomen. Jedes Land will möglichst auf das Siegertreppchen der Liga der Wirtschaftsmächte und ein höheres BIP als die Konkurrenz.
So selbstverständlich erscheint uns der internationale Konkurrenzkampf, dass wir offenbar nicht einmal mehr auf den Gedanken kommen, eine Verbesserung der eigenen Wirtschaft müsse nicht zwangsweise den Triumph über ein anderes Land beinhalten.
Der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman hat übrigens schon früh darauf hingewiesen, dass der Glaube, andere Länder müssten auf der Rangliste zurückfallen, damit es dem eigenen Land gut ginge, schlicht Unsinn sei. Vielmehr ist nach seiner Einschätzung Wettbewerbsfähigkeit „eine gefährliche Obsession”, und er rät: „Wenn wir Studenten beibringen können, zusammenzuzucken, wenn sie jemanden über Wettbewerbsfähigkeit sprechen hören, haben wir unserer Nation einen großen Dienst erwiesen.“ (8).
Die Überzeugung, dass das kapitalistische Menschenbild der Natur des Menschen tatsächlich entspricht, durchzieht Gesellschaft und Wirtschaft. Anreizsysteme sind daher fast durchweg extrinsischer Natur. In der Schule sind es die Noten und die Gefahr des Sitzenbleibens, auf dem Arbeitsmarkt ist es die Drohung, entlassen zu werden, keine Stelle zu finden und bei nicht ausreichendem Eigenantrieb sogar das Anrecht auf Hartz-IV zu verlieren. Obwohl in Management-Theorien inzwischen durchaus intrinsische Motivationen des Menschen berücksichtigt und untersucht werden, bildet die extrinsische Motivation bei der Arbeit weiterhin die Hauptachse der Motivation. Man darf daher getrost den Korrumpierungseffekt als einen zentralen Effekt in der heutigen Welt bezeichnen.
Die Grundüberzeugung des Kapitalismus, der Egoismus sei eine zentrale Eigenschaft des Menschen, ist in der Gesellschaft, Politik und Wirtschaft allgegenwärtig. Sie führt nicht zuletzt zur Veränderung der sozialen Sicherungssysteme und der Auflösung des Sozialstaates.
Strukturell wird dabei die Zersetzung der Gemeinschaft und der Solidarität begleitet durch Schlagworte, wie „Eigeninitiative” (ein anderer Begriff für „Jeder für sich“ und „Die Letzten beißen die Hunde“) und anderen ähnlich positiv besetzten Begriffen. Daneben führen massive Zweifel an der dauerhaften Finanzierbarkeit staatlicher Einrichtungen (Sozial-, Renten- und Kranken- und Pflegeversicherung) dazu, dass die Menschen zunehmend gehalten sind, für sich selbst Vorsorge zu betreiben (sehr zur Freude der entsprechenden Privatunternehmen).
Unser Vorrat an gemeinschaftlicher und von Gemeinsinn geprägter Vorsorge wird klein und kleiner. Als Folge sorgt dieser Versicherungswahn dafür, dass wir uns stolz der Überzeugung hingeben, nicht mehr auf unsere Nächsten angewiesen zu sein. Oder negativ und realistisch ausgedrückt: Weil wir alle vereinzelt sind, hilft uns im Notfall nicht mehr die Gemeinschaft, sondern sind wir auf eine private Vorsorge angewiesen (9).
Quellen und Anmerkungen:
(1) Herzog (1997).
(2) Falloon, 10.10.12.
(3) Der Journalist David Kirkpatrick schreibt zu Facebook: „Das ‚Freunde-Finden‘ besaß von Anfang an einen Moment von Konkurrenz ... Wenn dein Zimmergenosse 300 Freunde besaß, du aber nur 100 hattest, nahmst du dir vor, es besser zu machen.“ (Sennett, 198f).
(4) Monbiot, 15.04.16.
(5) Kooperationsspiele wie „Hanabi“ und „The Game“ sind äußerst selten.
(6) Leo, Steinbeis, Zorn, 33.
(7) Greenwald, 167.
(8) Krugman, März 1994. Dort warnt Krugman auch: „Eine Regierung, die mit der Ideologie der Wettbewerbsfähigkeit verheiratet ist, wird ebenso unwahrscheinlich eine gute Wirtschaftspolitik betreiben wie eine Regierung, die sich dem
Kreationismus verschrieben hat, eine gute Wissenschaftspolitik.“
(9) Smith, Ethische Gefühle, 137.