Die Hygiene-Religion
Überall aushängende Gebotstafeln, die uns die Corona-Regeln erklären, unterwerfen alles Leben einer unsichtbaren Macht.
Sie hängen überall aus, zeigen an: Hier sind Sie sicher. In diesen Räumlichkeiten ist für Virusfreiheit gesorgt. Ohne Hygienepläne geht dieser Tage gar nichts mehr. Sie sind die eigentliche Konzession, die wahre Zulassung, um einen Laden öffnen zu dürfen. Pfeile auf den Boden geklebt, Desinfektionsmittel aufgestellt und dazu noch einige Regularien gut lesbar angebracht: Fertig ist die Eintrittskarte zur neuen Normalität. Gut, dass im Grunde vieles von dem, was als Hygieneplan umgesetzt wird, sinnlos ist und zudem gar nicht mit dem korrespondiert, was wir bislang über das Virus zu wissen glauben. Das könnte sonst Zweifel nähren. Warum muss man eine Maske tragen, wenn man einen Biergarten betritt, dort zehn Meter zu einem Tisch geht, um dort unmaskiert sitzen zu dürfen? Weshalb sehen es Textilläden als geboten an, die Kundschaft vor Eintritt zur Händedesinfektion aufzufordern? Der Hygieneplan ist die Syntax der Corona-Zeit, der Algorithmus, der den Eindruck erweckt, als ob alles seinen vor Viren gesicherten Gang geht.
Sinnfreie Pläne: Sinnstiftung in Tagen von Corona
Zwischen Willkür und falscher Auslegung des Virus gibt es allerlei Facetten der Hygieneplanung. Neulich am Eingang zu einem kleinen Café konnte man lesen: Sitzen sei ohne Maske erlaubt, sich frei im Laden bewegen nur mit. Ist das nach dem, was man über Aerosole zu wissen glaubt, nicht gerade andersherum sinnvoll? Wer aufsteht, um die Toilette aufzusuchen, redet gemeinhin wenig — wer aber am Tisch sitzt mit anderen, der quatscht viel, quatscht auch laut. Nach Kenntnisstand ist klar, was da gefährlicher ist.
Mit einer Schmierinfektion habe wir es indes nicht zu tun. Sich die Hände zu waschen, gilt jedoch immer noch als Top-Empfehlung. Die Bundesregierung wiederholt das noch immer an jeder passenden und unpassenden Stelle. Klar, das schadet nicht, unsere Eltern haben uns Kindern das schon beigebracht. Lieber einmal zu viel als zu wenig gewaschen. Aber als Schutzmaßnahme scheint das relativ unerheblich zu sein. Trotzdem sterilisieren jeden Tag Millionen Einkäufer den Einkaufswagen.
Der Virologe Hendrik Streeck hat schon relativ früh belegt, dass die Infektionsgefahr niedriger ist, als von Anfang an allgemein angenommen wurde. Er hat Covid-19-Patienten in ihren eigenen vier Wänden besucht, Abstriche gemacht, besonders Türklinken hatten es ihm angetan. Ergebnis: Nichts. Ja, noch nicht mal alle im Haus befindlichen Familienmitglieder haben sich angesteckt.
Sicher, hier ist die Rede von der Heinsberg-Studie, die dann ja schnell in Verruf geriet. Sie sei womöglich nicht nach allen Standards der Wissenschaft erfolgt. Das kann sein, das müssen Akademiker beantworten. Dennoch kann man ja nicht leugnen, dass die Studie so oder so praktische Resultate zeitigte. Sie hat aufgezeigt, dass Covid-19 nicht Ebola oder die Pest ist, also keine dieser Krankheiten, die quasi per Wimpernschlag weitergegeben werden.
Selbst die kurzzeitige Überwindung des Abstandsgebotes ist demnach noch kein Problem. Wer die 1,5 Meter mal kurz unterschreitet, der hat nicht gleich die Übertragung angeschoben. Dass das aber so ist, glauben offenbar noch immer viele Menschen. Die Regeln, die ja nicht immer und nicht überall falsch sind, die man nicht per se als Mumpitz abtun sollte, scheinen die Sinnstiftung des Augenblicks zu sein. An irgendwas muss man sich ja klammern können.
Nicht küssen: Hygienepläne als Anstandswauwau
Der Hygieneplan ist die Symbolik einer Haltung, die so tut, als wäre der interne Ablauf strukturiert, durchdacht, unfehlbar und damit sicher. Er muss daher gar nicht in sich schlüssig, ja auch nicht logisch sein. Er muss die Erkenntnisse, die man über Covid-19 eingeholt hat, nicht berücksichtigen, sondern darf sich eine gewisse spielerische Freiheit leisten, die es den Geschäftsführern, Mitarbeitern, Kunden und Gästen erlaubt, sich Sicherheit zu imaginieren.
Tragbar ist dabei offenbar fast jede Anordnung. Neben den üblichen Vorgaben findet sich beispielsweise beim Kinobesuch die Aufforderung, sich nicht zu umarmen oder zu küssen. Für Paare, die kurz vor dem Kinobesuch vielleicht noch miteinander kopuliert haben, eine sonderbare Vorstellung, jetzt durch Abstand Sicherheit erzeugen zu müssen. Solche Ansagen kannte man früher nur von der lästigen Begleitung, die zwei jungen Menschen bei den ersten Dates nachlief und sie mit Argusaugen überwachte. So ein Anstandswauwau hatte im Grunde auch nur einen Hygieneplan im Kopf.
Auch er wollte körperliches Zusammenkommen vermeiden.
Geben all die vielen Regeln, die sich Ladenbesitzer ausgedacht und als Plan umgesetzt haben, einen Sinn? Ganz sicher nicht! Aber die Sammlung aller Anordnungen, aller Maßnahmen und Empfehlungen, der Hygieneplan als solcher, trägt zur Sinnstiftung in einer Zeit bei, in der Andere nicht nur die Hölle, sondern auch noch Infektionsherde sein sollen.
Der Hygieneplan fungiert als analoger Algorithmus, der die Abläufe im Geschäft lenkt, steuert, ja letztlich berechnet. Dass Algorithmen nicht immer logisch sind, nicht menschlich agieren und schon gar nicht zwischen den Zeilen lesen können, kennen wir ja von Facebook und Kollegen.
Relativ schnell nachdem das öffentliche Leben heruntergefahren wurde, schien klar zu sein, was die Pandemie zunächst eindämmte: Die Absage aller Massenveranstaltungen. Alle anderen Einschränkungen, die Kontaktverbote und Abstandsregeln, die Masken und Desinfektionen, kamen danach, als der Trend schon eingeleitet war. Dennoch heißt es nun, dass es diese Regeln sind, die Hygienepläne, an die wir weiter glauben müssten. Sie seien unser Ausweg aus der Krise. Das Wort „Religion“ kommt von relegere, was so viel heißt wie achtgeben oder beachten. Insofern passt das: Der Hygieneplan, eine neue Religion.