Die hohe Schule der Diskriminierung

An Universitäten werden Menschen aus Gründen des Gesundheitsschutzes ausgeschlossen — schon bald kann dies aus anderen Motiven geschehen.

Immer mehr Länder lassen die Coronamaßnahmen fallen. Hierzulande scheint es einigen Personen schwerzufallen, sich von diesen Regeln zu trennen. Dazu gehören auch jene Einrichtungen, die Diversität, Gleichberechtigung und Chancengleichheit zu ihren Leitbildern erkoren haben: die Hochschulen und Universitäten. Es besteht Grund zur Sorge, dass diese Institutionen erstens die Coronamaßnahmen von sich aus weiterführen und zweitens diese Regeln, sobald es eine neue Notsituation gibt, aus eigener Initiative erweitern. Auch die Entwicklung in der Ukraine setzte eine neue Dynamik in den Hochschulen in Gang, die mit den eingeübten Mustern der Coronakrise zusammenhängt: In Italien wurde ein Seminar zu Dostojewski „verschoben“, und die Direktorin einer Klinik für Humangenetik am Klinikum der Universität München wollte keine russischen Patienten mehr behandeln. Das zeigt: Wer heute aus Gründen des Gesundheitsschutzes ausgeschlossen wird, kann morgen aus weiteren Motiven ausgegrenzt werden.

In diesem Text geht es nicht direkt um das neue Infektionsschutzgesetz, sondern eher um die Einstellung der Hochschulen zu den Coronamaßnahmen und dem, was daraus unter anderem erwachsen kann, sobald eine weitere Notlage entsteht. Während immer mehr Länder die Coronamaßnahmen beenden, gibt es in Deutschland Bildungsinstitutionen, die bereits vor dem Beschluss des neuen Infektionsschutzgesetzes angegeben haben, dass sie diese Maßnahmen beibehalten wollen. Hierzu zählen zum Beispiel die Entscheidungen der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Uni Halle) und der Freien Universität Berlin (FU Berlin).

Letztere gab am 28. Februar 2022 für das Sommersemester, welches am 1. April beginnt, Folgendes bekannt:

„Für die Teilnahme an Lehrveranstaltungen, Praxisformaten und Prüfungen in Präsenzform gilt für Studierende bis auf Weiteres die 3G-Regel. Die Erfüllung der jeweiligen Anforderungen wird infolge der Vereinbarungen mit dem Land Berlin durch Stichprobenkontrollen festgestellt.“

Und:

„In geschlossenen Räumen gilt die Pflicht zum Tragen einer FFP2-Maske“ (1).

Die Uni Halle aktualisierte ihre Bestimmungen für das Sommersemester am 24. Februar 2022. Sie gibt für die Präsenzveranstaltungen bestimmte Maßnahmen vor: „3G-Regel und FFP2-Maskenpflicht gelten zunächst wie bisher praktiziert“ (2). Eine Begründung wird nicht genannt. Es wird nur erwähnt, dass diese Vorgaben noch geändert, also gelockert oder auch verschärft werden könnten. Das sei „in Abhängigkeit vom Infektionsgeschehen möglich“ (3).

Missachtung des eigenen Leitbildes

Nun sollte mittlerweile bekannt sein, dass die Covid-Impfungen keine sterile Immunität herstellen, auch wenn das von der Politik so mitunter kommuniziert wurde (4). Die Transmission ist weiterhin gegeben und Infektionen sind ebenso möglich. Auch die 3G-Regel verhindert laut Professor Thomas Hofsäss, Prorektor für Bildung und Internationales an der Universität Leipzig, keine Infektionen: „Auch Personen mit dem 3G-Status können Infektionen weitertragen“ (5).

Trotzdem ließen sich in den Hochschulen weitestgehend ohne Widerstand seitens der Studenten, Professoren und Universitätsmitarbeiter die 2G- beziehungsweise 3G-Regel etablieren.

Doch jedes Mal, wenn eine Hochschule Studenten ausschloss, missachtete sie auch ihr eigenes Leitbild: Chancengleichheit, Bildungsgerechtigkeit und Diversität lassen sich schlecht mit der 3G-Regel verbinden.

Über diesen Konflikt schrieb ich in einem Artikel im vergangenen September.

Es geht hier nicht explizit um die Uni Halle, die FU Berlin oder um die Uni Leipzig. Denn es würde unter den mehreren Hundert Hochschulen, die in Deutschland existieren, wohl kaum eine Uni geben, die diese Maßnahmen nur aus eigener Motivation ein- beziehungsweise weiterführt, wenn es dafür keine gewisse gesellschaftliche Akzeptanz gäbe.

Selbst wenn die Uni Halle die genannten Bestimmungen für das Sommersemester in den nächsten Tagen wieder fallen lassen würde, stellt sich immer noch folgende Frage: Wieso wurden, gerade in Anbetracht der Möglichkeit, dass die Coronamaßnahmen bald fallen könnten, bereits bestimmte Maßnahmen für das Sommersemester festgelegt, bevor überhaupt klar ist, welche Maßnahmen ab dem 20. März noch gelten sollen? Führt die Hochschule die 3G-Regel und die Maskenpflicht „freiwillig“ weiter, weil sie vermutet, dass dieses Verhalten erwünscht ist? Seitens der Studenten? Der Politik?

Für den Fortbestand der Maßnahmen an den Hochschulen lässt sich wohl keine laute Mehrheit unter den Studenten finden, aber der große studentische Aufstand gegen die Maßnahmen blieb ebenfalls aus. Und an der Abhängigkeit zwischen den Hochschulen und dem Staat hat sich auch während der Pandemie nichts geändert (6).

Als im Sommersemester 2018 in Berlin die Studenten streikten, fielen an den Berliner Hochschulen „rund 400 Lehrveranstaltungen der studentischen Mitarbeiter“ aus (7). Die Leitung der FU Berlin konnte zu dieser Zeit keinen Ersatz schaffen, also fielen beispielsweise Tutorien mehrmals aus (8). Die Überprüfung der 2G-Plus-Regel dagegen, die vom 15. Januar bis zum 3. März 2022 in den Mensen des Studierendenwerks Berlin galt, war problemlos möglich (9). An zwei Eingängen der Mensa FU II kontrollierten je zwei Personen den G-Status der hungrigen Studenten.

G-Regeln als Grundlage für weitere Ausgrenzungen

Es drängt sich der Eindruck auf, dass es den Hochschulen leicht fällt, Entscheidungen zu treffen und Handlungsweisen an den Tag zu legen, die politisch genehm sind. Wenn, wie gesagt, die gesellschaftliche Akzeptanz für eine Struktur vorhanden ist, die Personen an drei Kriterien bemisst, dann besteht auch durchaus die Sorge, dass diese Regel beständig erweitert werden kann.

Mit der 2G- beziehungsweise 3G-Regel werden all die Personen aussortiert, die nicht mitmachen. Als „unsolidarisch“ diffamiert, müssen sie quasi draußen bleiben. Tobias Hans, der abgewählte Ministerpräsident des Saarlandes, sendete am 9. Dezember 2021 in der Talkshow Maybritt Illner „eine klare Botschaft“ an die nicht Geimpften:

„Ihr seid jetzt raus aus dem gesellschaftlichen Leben. Deswegen machen wir konsequent 2G“ (10).

Die G-Regel kann quasi affektiv erweitert werden. Sie wurde wegen Corona eingeführt, doch im Grunde handelt es sich dabei um ein Kontaktverbot. Dieses könnten bald auch auf coronafremde Bereiche ausgeweitet werden. Das Ergebnis bleibt gleich: Es ist der Ausschluss bestimmter Personengruppen.

Der italienische Schriftsteller und renommierte Slawist Paolo Nori berichtete, „dass die Universität Mailand-Bicocca eines seiner Seminare ‚verschieben‘ werde. Der Grund: Der Kurs sollte sich mit dem russischen Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewski befassen.“ Weiter heißt es:

„Mit der vorläufigen Absage solle ‚jede Kontroverse, insbesondere interne, in Zeiten starker Spannungen‘ vermieden werden“ (11).

Die Direktorin des Instituts für Humangenetik — Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München schrieb in einer Mail, dass sie „ab sofort (…) die Behandlung russischer Patienten“ ablehnt (12).

Die 2G- und auch 3G-Regel müssen letztendlich in allen Bereichen fallen. Sie bilden die mögliche Grundlage für weitere Ausgrenzungen — durch Affekte beliebig erweiterbar. Es muss nur eine neue Gruppe Schuldiger gefunden werden. Da spielt es offenbar auch keine Rolle, dass die ausgegrenzten Personen rein gar nichts mit der Situation zu tun haben, die zu dieser Ausgrenzung führte.

Je „kontroverser“ die neuen Schuldigen sind, umso leichter fällt der Ausschluss.

Neben dem Wegfall der Regeln muss das, was in den vergangenen zwei Jahren an den Hochschulen passiert ist, auch aufgearbeitet werden. Der Rechtshistoriker Prof. Dr. Peter Oestmann hob im Gespräch mit dem Rechtsanwalt Niko Härting die Bedeutung der Präsenzlehre hervor (13).

„Eine Lehre, die nicht nur Wissen vermittelt, sondern auch Persönlichkeit entwickelt, ist nach Oestmanns Überzeugung ohne Präsenz undenkbar“ (14).

Zudem gehört er zu den wenigen Professoren, die sich offen für die Rolle der Hochschulen während der Pandemie interessieren:

„Für das Wintersemester 2022/23 bereitet Peter Oestmann gemeinsam mit dem Bildungshistoriker Jürgen Overhoff eine Ringvorlesung zum Thema ‚Bildung zur Freiheit — Corona und die Hochschullehre‘ vor“ (15).

Bleibt zu hoffen, dass diese Vorlesung an anderen Hochschulen viele Nachahmer findet und die Bildungsinstitutionen endlich ihre eigenen Werte ernstnehmen.


Quellen und Anmerkungen:

(1) „Ausblick auf das Sommersemester 2022 News vom 28.02.2022“
https://www.fu-berlin.de/sites/coronavirus/news-start/news/2022-02-28.html
https://www.fu-berlin.de/sites/coronavirus/_medien/222028-rahmenbedingungen-studium-und-lehre-sose2022-de.pdf
(2) FAQ Studierende unter Lehrveranstaltungen:
https://www.uni-halle.de/coronavirus/faqstudierende/
(3) FAQ Studierende unter Lehrveranstaltungen:
https://www.uni-halle.de/coronavirus/faqstudierende/
(4) Der damalige Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) sagte am 24. Juni 2021 im MOMA: „Weil die Impfstoffe ja auch eine sterile Immunität vermitteln, wie wir inzwischen wissen, schütze ich auch sozusagen andere vor der Ansteckung“ (01:38-01:46 min.). Video: Braun, Sorgenkind Schulen besonders schützen, 24. Juni 21:
https://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/morgenmagazin/videos/Helge-Braun-114.html
(5) Der Beitrag, also das Interview mit Prof. Hofsäss, wurde bereits von der Website der Uni Leipzig entfernt. Hier ein Link zum archivierten Beitrag: https://archive.ph/qKEyi
(6) „Es wäre auch illusorisch zu glauben, sie (die Hochschule, Anmerkung des Autors) könne völlig unabhängig von staatlichen Richtlinien agieren — schließlich ist sie organisatorisch und finanziell vom Staat abhängig.“
https://www.cicero.de/innenpolitik/studium-unter-corona-bedingungen-universitat-prasenzlehre-lockdown
(7) https://www.sueddeutsche.de/karriere/tarife-berlin-streik-verlaengert-studenten-wollen-mehr-geld-fuer-jobs-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-180613-99-707665
Weitere Infos zum Streik hier: https://tvstud.berlin/ https://tvstud.berlin/forderungen/
(8) Einige Studenten sind im Nebenjob an der Uni als Tutoranten tätig, d.h., sie leiten eigene kleine Seminare und unterstützen somit die Professoren.
(9) Das Studierendenwerk postete am 11. Januar 2022 auf Twitter: „Jetzt noch schnell boostern lassen und dann wie gewohnt in der Mensa schlemmen. (...) Ab kommender Woche gilt 2Gplus auch in den Berliner Mensen. Wer ab Montag bei uns essen will, muss geimpft oder genesen und zusätzlich getestet oder geboostert sein.“
https://twitter.com/StuWeBerlin/status/1480910822851452932
Am 4. März ersetzte das Studierendenwerk die 2GPlus-Regel durch die 3G-Regel: https://www.stw.berlin/mensen/themen/corona-regeln.html
(10) Omikron und Impfpflicht — neuer Minister, neue Sorgen?", *„maybrit illner" — Der Polit-Talk im ZDF vom 9. Dezember 2021 (36:00-36:09 min.):
https://www.zdf.de/politik/maybrit-illner/omikron-und-impfpflicht-neuer-minister-neue-sorgen-maybrit-illner-zu-gast-u-a-karl-lauterbach-am-9-dezember-2021-100.html
(11) Wut auf Putin löst absurde Aktionen gegen Russen aus:
https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/innenpolitik/id_91762564/universitaet-mailand-bicocca-cancelt-seminar-ueber-russischen-schriftsteller.html
Übersetzte Ergänzung: „Update: Der Professor, der gebeten wurde, seinen Dostojewski-Kurs auszusetzen, trat zurück. Die Universität sagte ihm, er könne den Studiengang wieder aufnehmen, wenn er ukrainische Autoren einbeziehe. Er sagte, er sei kein Experte für ukrainische Literatur, also beschloss er, Dostojewski anderswo zu unterrichten.“
https://twitter.com/alessabocchi/status/1500807598056120321
(12) Mail von Ärztin Münchner Klinikdirektorin wollte Russen ablehnen, https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/id_91757944/ukraine-krieg-muenchner-klinikdirektorin-wollte-russen-ablehnen.html
(13) Corona im Rechtsstaat Folge 92 11. März 2022 https://ping.podigee.io/
(14) https://twitter.com/nhaerting/status/1502222874937298945
(15) https://twitter.com/nhaerting/status/1502222989953486852