Die Herzebene

Argumentieren und Rechthaberei in der Corona-Frage vertiefen nur die Gräben in der Gesellschaft — versuchen wir es mit Empathie!

Ein tiefer Graben durchzieht die Gesellschaft. Die letzten Brücken zwischen den unversöhnlichen Seiten fangen bereits Feuer. Wie lässt sich der Spaltung entgegentreten? Mit noch besseren Argumenten? Wohl kaum! Die auf intellektueller Ebene hitzig geführten Debatten führen noch tiefer in die Spaltung. Dort entlädt sich nämlich nur ein Wettkampf um die besseren Argumente und Quellen. Am Ende wird jeder stur auf seinem Standpunkt beharren. Wenn wir statt zu diskutieren auf der Herzebene miteinander reden, dann kann die Empathie entstehen, die derzeit vielerorts fehlt. Der ehrlich gemeinte Versuch, den jeweils anderen zu verstehen, kann die Brücken über die Gräben neu errichten. Das zu tun, ist das Gebot der Stunde. Andernfalls gehen wir an dem Stolz unserer Rechthaberei zugrunde.

Eine scheinbar funktionierende Ehe kann eine Krise erfahren, wenn ein Kind erkrankt, ein Partner den Arbeitsplatz verliert oder sich in einen anderen Menschen verliebt. Erst dann zeigt sich, wie krisenfest die Ehe wirklich ist und welche krisenfesten Fundamente bis dahin gelegt worden sind. Genauso zeigt sich in einer Gesellschaft die soziale Absicherung nicht, solange alle am wirtschaftlichen Wohl teilhaben, sondern dann, wenn viele Menschen mit dem Existenzminimum zu kämpfen beginnen und die Schere zwischen Arm und Reich sich immer weiter öffnet.

Ob unser Immunsystem nun wirklich mit einer neuen Krankheit konfrontiert ist oder nur alte Symptome neu interpretiert und therapiert werden, ob Grundrechte unveräußerlich sind oder in Wirklichkeit wieder einrufbare Privilegien, ist zweitrangig.

Die eigentliche Frage lautet: Wie gehen wir in der Gesellschaft mit Andersartigkeit um, der anderen Meinung, der anderen Neigung? Streben wir eine Uniformierung an, oder ist die Gesellschaft tatsächlich bereit, Minderheiten jeglicher Art in einer lebenswerten Form zu schützen? Solange sich die Minderheit der Mehrheit unterordnen muss, ist sich die Mehrheit ihrer Schutzfunktion gegenüber der Minderheit nicht mehr bewusst oder hat sich sogar langfristig auf ihre Eliminierung eingestellt.

Hinsichtlich Coronavirus, Impfung, Grundrechten hin und her, Sinn und Unsinn der verschiedenen Lockdowns et cetera haben sich alle eine Meinung gebildet. Und wer es bis dato nicht getan hat, hat darauf verzichtet, eine eigene Meinung zu haben.

Orientiert sich überhaupt noch jemand an einer fremden Meinung? Liest noch jemand Artikel in Medien, die er für propagandistisch hält — auf der einen Seite oder der anderen?

Ganz platt gesagt, findet sich die eine Meinung im Mainstream, die andere auf telegram. Insofern ist die staatlich finanzierte Mainstream-Propaganda gegenüber der Propaganda der „Oppositionellen“ klar im Vorteil. Und die Opposition wünscht sich entweder einen ebenbürtigen Platz im Mainstream oder den Untergang desselben.

Natürlich fühlen sich beide im Recht. Das muss ja auch so sein: jeder sollte von der eigenen Meinung überzeugt sein, auch wenn es noch so schwer fällt, die Meinung des anderen manchmal auch nur ernst zu nehmen.

Nicht nur meinen Geimpfte ebenso wie Ungeimpfte, über die richtigen Argumente zu verfügen, sondern auch moralisch auf der richtigen Seite zu stehen.

Nehmen wir an, die Stimmung kippt in Kürze, die Mainstream-Journalisten kleben an ihrem Arbeitsplatz und lassen der jetzigen Opposition freie Hand, ihre Sicht auf die Dinge zu verbreiten.

Sind wir uns sicher, dass die ehemalige Mainstream-Propaganda, die dann vielleicht in der Opposition steht, ebenbürtig behandelt und nicht verleumdet werden wird?

Der Anspruch auf Wahrheit

Die Spaltung durchzieht Ehepaare, Familien, Freundschaften — überall zeigt sich die gesellschaftliche Krise. Hat sich irgendjemand mit Argumenten von der Meinung des anderen überzeugen lassen? Beide Seiten beanspruchen für sich stichfeste Argumente, wie Parallelwelten. Ein Dialog ist nicht vorgesehen.

Der Schlüssel liegt nicht im Dialog, im Austausch von Argumenten, sondern in der Fähigkeit, sich auf den anderen einzulassen und ihm in seiner Menschlichkeit zu begegnen.

Eine Öffnung des Herzens, die den anderen in seiner Andersartigkeit annimmt, seiner anderen körperlichen Verfassung oder seiner anderen Mentalität. Sind wir in der Lage, eine Herzensebene mit andersdenkenden Mitmenschen zu erreichen, ihre Ängste und Freuden, ihre Werte anzuhören und innerlich nachzuvollziehen?

Die Grenzen werden nicht überwunden, solange die Herzöffnung nur unter Gleichen geschieht, sondern insbesondere auch zwischen Andersdenkenden.

Den Weg dahin kann jeder nur für sich herausfinden. Und nicht immer geht es auf Anhieb. Ich kann mich auf den anderen einstellen, ihm zuhören. Jeder Mensch ist anders. Zugleich geht es um einen Balanceakt: Authentizität zu bewahren und zugleich den Anspruch auf Wahrheit aufzugeben. Wie wäre es mit einem sanften: „Kann sein, vielleicht, ist möglich ...“?

Ein einfaches, doch wirklich authentisches Zugeständnis über die Möglichkeit des Standpunktes des anderen kann vielleicht Tore öffnen. Es geht nicht einmal darum, explizit oder implizit den Standpunkt zu teilen, sondern aufrichtig nachzuvollziehen, wo der andere steht, und ihn ein Stück auf diesem, seinem Weg zu begleiten. Und es damit auch zu belassen, seine eigene Meinung einfach mal zurückhalten und bei dem anderen bleiben.

Nur bei eventueller Anfrage, bei ausdrücklicher Nachfrage fange ich vorsichtig an, meinen eventuell entgegengesetzten Standpunkt zu zeigen:

„Ja, ich habe da meine Zweifel — ich frage mich, ob man es auch nicht anders sehen kann. — Man hört ja soviel verschiedene Dinge. — Schade, dass es keinen Dialog gibt. — Für mich ist es eine gesellschaftliche Toleranzfrage. — Beispielsweise ...“

Und dann vielleicht ein Argument einwerfen, das dem Gegenüber zu denken gibt, dass in ihm Zweifel aufkommen lässt. Und wieder auf den anderen eingehen, zuhören, wie schaut er/sie dich an, nachdem du das gesagt hast? Die Kunst besteht darin, nicht die Herzensebene zu verlassen, wenn der Austausch auf die intellektuelle Ebene wechselt.

Die Herzensebene, das gegenseitige Einfühlen, bringt Intuition und Kreativität mit sich, steigert die Lebendigkeit, fördert Oxcytocyn und somit das Gefühl der Verbundenheit. Die rein intellektuelle Ebene fördert das Konkurrenzdenken, das Gefühl der Überlegenheit und heizt den Adrenalinspiegel an, den Stress, die Trennung vom anderen.

Wenn das von Dir gewählte Argument zu harter Tobak für den anderen war, kannst du wieder einlenken: „Ja, das hört sich jetzt hart an, ist es auch für mich, aber irgendwie kann ich mich dem nicht entziehen.“

Wenn Nähe ein menschliches Grundbedürfnis ist — unabhängig von den Meinungen, die die verschiedenen Menschen vertreten —, und diese Nähe derzeit durch politische Anweisungen verhindert wird, besteht die Kunst darin, bei all dieser Schwierigkeit diese Nähe trotzdem herzustellen und die Mitmenschen hier abzuholen.

Die ausschließliche Wahrheit

Die menschliche Nähe aufbauen und in diesem Raum bleiben. Das ist die größte Herausforderung überhaupt, in der wir uns befinden. Die Epoche aussterben lassen, wo im „Namen der Wahrheit“ die Minderheit diskriminiert oder ihre Angleichung angeordnet wird. Dabei kann der „Name der Wahrheit“ ganz unterschiedliche Formen annehmen: Christentum als „einzig wahre Religion“, „Demokratie“ als einzig „wahre Staatsform“ oder „Arbeitsplätze“ als einzig „wahre Sozialform“ oder „Impfung“ als einzig „wahrer Weg zu Gesundheit“.

Eine Gesellschaft, die nicht nur am Überleben, sondern an der fruchtbaren Entwicklung auch der Minderheit interessiert ist, welche Werte werden dort gelebt? Welche Erziehung gibt man den Kindern weiter? Welche Wirtschaftsform stellt sich dort ein? Wie schützt man die Gesundheit, ohne Gewalt anzuwenden?

Gesundheit, Wissenschaft und Rechtsfragen spiegeln nur die Form wider, die sich die Gesellschaft selber gibt.


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