Die Herrschaft der Fluraufseher

Die Redefreiheit im Internet weicht einem Sprach- und Meinungsdiktat, das durch Vertreter der Hauptmedien angeführt wird.

Es ist gut, auf herabwürdigende Bezeichnungen von Minderheiten zu verzichten. Der Correctness-Furor bestimmter Kreise geht aber mittlerweile so weit, dass man ein Wort wie „Nigger“ nicht einmal im historischen Kontext verwenden darf — oder indem man einen Rassisten, mit dem man nicht übereinstimmt, zitiert. Die Vermeidung von Klartext geht mittlerweile so weit, dass es manchmal schwer fällt, das Ursprungswort eindeutig zu erkennen. So benutzt selbst unser Autor, obwohl er in seinem Artikel explizit den Sprach-Rigorismus „liberaler“ Kreis kritisiert, den verschleiernden Begriff „N-Wort“. Würde er das gemeinte Wort ausbuchstabieren, könnte es passieren, dass seine Internetplattform Substack unter den Druck der Meinungsführer gerät. In Mark Twains erfolgreichstem Roman „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ kommt das N-Wort an 219 Stellen vor. Wenn Sie heute ein Exemplar des Buches erwerben, selbst in deutscher Sprache, finden Sie es an allen Stellen durch „Sklave“ ersetzt. So muss man heutzutage ein Werk der Weltliteratur im Namen der politischen Korrektheit umschreiben. Wo haben die Sprach- und Meinungszensoren des linksliberalen Spektrums ihr Hauptquartier? Glenn Greenwald verschafft uns Einblick in die Redaktion einer gewissen Tageszeitung namens The New York Times.

In den vergangenen Jahren greift ein neuartiger und schnell wachsender journalistischer „Beat“ (1) um sich, der sich am besten als eine unselige Mischung aus dem Tratsch der Fluraufsicht einer Mittelschule und der Bürgerüberwachung im Stasi-Stil beschreiben lässt. Der ist ein bisschen halbstark und etwas böswillig. Seine Hauptziele sind Kontrolle, Zensur und Zerstörung der Reputation anderer aus Spaß an der Macht. Zwar liegt das Epizentrum bei den großen Medienplattformen, doch handelt es sich um das genaue Gegenteil von Journalismus.

Über eine besonders toxische Spielart dieser „Berichterstattung“ habe ich bereits geschrieben. Journalistenteams der drei einflussreichsten Medienunternehmen — „Media Reporter” von CNN mit Brian Stelter und Oliver Darcy, „Disinformation Space Unit” der NBC mit Ben Collins und Brandy Zadrozny und die Tech-Reporter der New York Times (NYT) Mike Isaac, Kevin Roose und Sheera Frenkel — widmen den Großteil ihres „Journalismus“ der Suche nach Stellen im Internet, in denen ihrer Meinung nach Sprach- und Benimmregeln verletzt werden, markieren diese und plädieren dann für Strafmaßnahmen wie Banning, Zensur, Inhaltsregulierung oder „Nachsitzen“. Diese „Fluraufsicht“-Reporter sind einer der Hauptgründe dafür, dass Tech-Giganten, die eigentlich nie Zensur — im eigenen oder ideologisch motivierten Interesse — ausüben wollten, dies nun mit Hingabe und unverblümt launenhafter Willkür praktizieren: Denn wenn sie es nicht tun, würden sie von den reichweitenstärksten Medien der Welt an den Pranger gestellt.

Genauso wie die NSA davon besessen ist, sicherzustellen, dass nirgendwo auf der Welt Menschen frei von ihren spionierenden Augen und Ohren kommunizieren können, ertragen diese journalistischen Flurwächter die Vorstellung nicht, dass es irgendwo im Internet einen Ort gibt, an dem sich Menschen auf eine Art und Weise frei äußern, die sie nicht gutheißen. Wie zwielichtige Informanten eines staatlichen Geheimdienstes verbringen sie ihre Tage mit dem Trollen in den Tiefen von Chatrooms und 4Chan-Bulletin-Boards und Subreddit-Threads und privaten KommunikationsApps, um jeden aufzuspüren — einflussreich oder obskur — der etwas sagt, das ihrer Meinung nach verboten werden sollte, um dann ihre Konzernmegafone — die sie nicht selbst hergestellt haben und auch nicht herstellen könnten — dazu einzusetzen, jeden zum Schweigen zu bringen oder zu vernichten, der den Orthodoxien ihrer Konzernmanager widerspricht oder ihre Informationshegemonie infrage stellt.

Oliver Darcy hat seine Karriere bei CNN gemacht, indem er mit Brian Stelter zusammensaß und verbissen jeden verpfiff, der in den Sozialen Medien irgendwelche Regeln brach, und von den Plattformadministratoren verlangte, diese Regelbrecher zu löschen. Die kleine Crew petzender Millennials (2), die NBC zusammengestellt hat — und die ihre schwachsinnige Tätigkeit selbstverherrlichend als „Arbeit im Desinformationsraum“ bezeichnen, so unerschrocken und gefährlich wie der Kampf gegen Korruption repressiver Regime oder die Kriegsberichterstattung aus Kriegsgebieten —, verbringt ihre trostlosen Tage damit, durch 4Chan-Boards zu scrollen, um anstößige Memes oder ungebührlichen Sprachgebrauch pubertärer Jugendlicher zu markieren. Dann klopfen sie sich auf die Schulter, weil sie gefährliche Mächte bekämpft haben, selbst wenn es nichts Trivaleres und Schikanöseres ist als das Entlarven der persönlichen Daten machtloser, unbedeutender Bürger.

Aber die Schlimmsten in diesem Triumvirat sind die NYT-Tech-Reporter, allein wegen ihres Einflusses und und ihrer Reichweite. Als sich die Silicon-Valley-Giganten auf öffentlichen Druck von Alexandra Ocasio-Cortez (AOC) und anderen Kongressabgeordneten zusammentaten, um Parler (3) aus dem Internet zu löschen, zog das Tech-Team der NYT schnell Überwachungsbrillen und Stasi-Notizblöcke hervor, um zu warnen, dass die Bösewichte nun zu Signal und Telegram abgewandert seien. Diese Woche fragten sie: „Werden die privaten Messengerdienste zu den nächsten Zentren der Desinformation?“ Einer der Reporter „gestand“: „dass ich mir Sorgen über Telegram mache. Abgesehen vom privaten Kurznachrichtendienst nutzen die Leute Telegram gerne für Gruppenchats — bis zu 200.000 Leute finden in einem Chatraum Platz. Das erscheint mir problematisch.“

Diese Beispiele, wie Journalismus missbraucht wird, um Zensur von Räumen zu fordern, über die sie noch keine Kontrolle haben, sind zu zahlreich, um sie umfassend aufzuzählen. Und sie beschränken sich nicht auf die drei genannten Medien. Die Meinung, dass eine viel konsequentere Zensur notwendig sei, ist inzwischen praktisch Konsens in den Mainstreammedien: Das ist eine ihrer Triebfedern. Diejenigen von uns, die im Journalismus tätig sind, müssen sich damit abfinden, dass das geheiligte Prinzip der freien Meinungsäußerung als Waffe gegen die Prinzipien des Journalismus missbraucht wird“, beschwerte sich der Experte des „Ultimate Establishment Journalism“ Steve Coll, Dekan der journalistischen Fakultät an der New Yorker Columbia Universität und freier Mitarbeiter des New Yorker.

Kyle Chayka, ein Mitarbeiter von The New Yorker und Vox, der einen großen journalistischen Listenserver mit dem passenden Namen „Study Hall“ betreibt, hat schon damit begonnen, Substack dafür an den Pranger zu stellen, dass es Autoren eine Plattform gibt, die er für nicht akzeptabel hält, wie Jesse Singal, Andrew Sullivan, Bari Weiss. Ein kürzlich im Guardian erschienener Artikel warnte davor, dass Podcasts einer der verbliebenen Bereiche seien, die noch nicht ausreichend kontrolliert wird.

ProPublica äußerte sich vorigen Sonntag in gleicher Weise über Apple, und eine ihrer Reporterinnen forderte vergangenen Monat auf MSNBC, dass Apple seine Podcast-Inhalte genauso aggressiv zensiert wie Google bereits bei YouTube die Video-Inhalte.

So haben wir eine unvorstellbar verzerrte Dynamik, in der die US-Journalisten nicht Verteidiger der freien Meinungsäußerungen sind, sondern die führenden Kreuzritter, die sie zerstören.

Ihnen geht es dabei einerseits um Macht: sicherzustellen, dass niemand außer ihnen den Informationsfluss kontrolliert. Andererseits tun sie es aus Idealismus und Selbstüberschätzung: dem Glauben, ihre Weltanschauung sei so unbestreitbar richtig, dass jede abweichende Meinung von Natur aus gefährliche „Desinformation“ ist. Und sie tun es auch aus kleinlicher Rachsucht: Sie werden erst richtig wach und finden eine sonst nicht vorhandene Sinnerfüllung, indem sie den Ruf und das Leben eines Menschen zerstören, auch von denjenigen, die gar keine Macht haben. Was immer das Motiv sein mag: Medienmitarbeiter, deren Berufsbezeichnungs „Journalist“ ist, sind die vordersten Aktivisten gegen ein freies offenes Internet, und gegen die Gedanken- und Meinungsfreiheit.

Taylor Lorenz im Clubhouse

Die pathologischen Triebkräfte hinter all dem wurden am vorigen Samstagabend infolge einer rücksichtslosen und selbsterniedrigenden Lügenkampagne seitens einer der Star-Tech-Reporterinnen der NYT, Taylor Lorenz, deutlich sichtbar. Sie bezichtigte fälschlicherweise und sehr öffentlich den Silicon-Valley-Unternehmer und Investor Marc Andreessen, während einer Diskussion über den Reddit-GameStop-Aufstand (4) den verächtlichen Ausdruck „retarded“ (zurückgeblieben) verwendet zu haben.

Lorenz hat gelogen. Andreessen hat dieses Wort nie benutzt. Anstatt sich zu entschuldigen und die Behauptung zurückzunehmen, rechtfertigte sie ihren Fehler, indem sie behauptete, es sei eine Männerstimme gewesen, die wie seine geklungen habe. Danach sperrte sie ihren Twitter-Account, als ob sie selbst das Opfer war und nicht die fälschlich verleumdete Person.

Aber die Details des Geschehens sind aufschlussreich. Die Debatte, über die Lorenz falsch berichtet hatte, fand auf einer relativ neuen Audio-App namens Clubhouse statt — einer Plattform, die nur auf Einladung zugänglich ist und die für private, offene Gruppengespräche gedacht ist. Unter Führungskräften aus dem Silicon Valley und Vertretern der Medienwelt ist sie populär geworden. Auch ich wurde vor ein paar Monaten zur App eingeladen, habe aber nicht teilgenommen oder mitdiskutiert.

Aber wie CNBC diese Woche berichtete: „Die App ist schnell gewachsen, Menschen mit sehr unterschiedlichem Hintergrund sind Mitglieder geworden“ und sie „hat eine eigene Nische unter schwarzen Anwendern geschaffen, die neue Wege für die Nutzung gefunden haben“. Ihr Ethos als Bastion der freien Meinungsäußerung hat sie auch in China immer populärer gemacht, als Mittel zur Umgehung repressiver Online-Restriktionen.

Diese privaten Chats werden oft von Journalisten infiltriert, manchmal auf Einladung und manchmal durch Täuschung. Diese versuchen, die Diskussionen mitzuschneiden und dann Zusammenfassungen zu veröffentlichen. Oft besteht diese „Berichterstattung“ aus dem Kontext gerissenen Sätzen, die die Teilnehmer als engstirnig, gefühllos oder anderweitig ungebührlich erscheinen lassen sollen. Mit anderen Worten: Diese Journalisten, die verzweifelt nach Inhalten suchen, haben Clubhouse zum neuen Spielfeld für ihre schleimige Tätigkeit als freiwillige Fluraufseher und Sprachpolizei erkoren.

Im Zuge dieser unwürdigen Tätigkeit verkündete Lorenz also auf Twitter, Andreessen habe ein schlimmes Wort benutzt. Während der Diskussion um die „Reddit-Revolution“ soll er „retarded“ gesagt haben. Sie erweiterte dieses Denunziationsspiel, indem sie außerdem die Namen und Fotos aller Teilnehmer postete, die damals im Raum waren— und so diejenigen bloßstellte, die sich des Verbrechens schuldig gemacht hatten, Andreessen nicht widersprochen zu haben:

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Viele der Clubhouse-Teilnehmer, darunter Kmele Foster, dokumentierten auf der Stelle, dass Taylor Lorenz gelogen hatte. Der Moderator des Gesprächs Nait Jones bestätigte „Marc hat das Wort nie benutzt.“ In Wirklichkeit war Folgendes passiert: Eine andere Teilnehmerin, Felicia Horowitz, hatte erklärt, dass die Redditoren (5) sich selbst als „Retard Revolution“ bezeichnen — und nur in diesem Zusammenhang fiel das Wort.

Anstatt sich nun zu entschuldigen und den Tweet zu widerrufen, dankte Lorenz Jones für die „Klarstellung“ und betonte noch einmal, wie diskriminierend das Wort sei. Dann löschte sie kommentarlos ihren Tweet und schloss — in vollem Bewusstsein ihrer Verleumdung — ihr Twitterkonto.

Abgesehen davon, dass hier eine NYT-Reporterin rücksichtslos versuchte, den Ruf eines Menschen zu zerstören: Was ist an dieser Episode falsch? Alles.

Die Clubhouse-Teilnehmer hatten versucht, ihre privaten Gespräche genau vor dieser Art petzender Reportern zu schützen, weil jene sich als Agenten verstehen, die selbst in Privatgesprächen verbotene Inhalte suchen und melden. Wie Jones treffend bemerkte, ist genau das der Grund, weshalb viele Leute die Reporter blocken: „wegen dieser widerlichen Unehrlichkeit“.

Eine Reporterin, Jessica Lessin, beklagte sich kürzlich, dass sie von Andreessen für seinen Clubhouse-Gespräche gesperrt war — als ob sie das gottgegebene Recht hätte, die Gespräche mitzuhören. Und Lorenz selbst war seit Monaten besessen davon, die Gespräche allgemein und Andreessen im Besonderen zu verfolgen. Erst vorige Woche verspottete sie ihn, nachdem sie eine gefälschte Zugangsberechtigung ergattert hatte:

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Nehmen Sie sich eine Sekunde lang Zeit, darüber nachzudenken, wie gleichermaßen infantil und despotisch das alles ist. Eine NYT-Reporterin nutzt ihren Einfluss, um praktisch von der Schulbank aufzuspringen, zum Lehrer zu rennen und zu schreien: „Er hat das R-Wort benutzt!“

Genau das hatte sie monatelang versucht: Leute in ihren Privatgesprächen beim Austausch verbotener Worte oder Ideen zu erwischen und sie dann öffentlich bloßzustellen.

Dass sie es diesmal vermasselt hat, ist wohl der am wenigsten demütigende oder erbärmliche Aspekt an dieser Sache.

Abgesehen davon, was wäre, wenn Andreessen das Wort „retarded“ benutzt hätte? Was würde das schon heißen? Wenn jemand das Wort boshaft als Schimpfwort gegen andere nebst Verhöhnung ihres Intellekts benutzt, ist es sicherlich vernünftig, das zu verurteilen. Mit dieser Absicht und in diesem Kontext verwendet, ist es unnötig verletzend für Menschen, die an Krankheiten mit kognitiven Defiziten leiden.

Aber das ist nicht im Entferntesten das, was hier passiert ist. Jeder, der nur ein bisschen Zeit im Subreddit-Thread r/WallStreetBets kennt, weiß dass „Retards“ das häufigste Wort im Sprachgebrauch derer war, die den Short-Squeeze-Angriff (6) auf den Hedgefonds orchestrierten, der auf den Zusammenbruch der Firma GameStop spekuliert hatte. Es ist praktisch unmöglich, das Ethos dieser Subkultur zu diskutieren, ohne das Wort zu verwenden. Einer ihrer populärsten Schlachtrufe war:

„We can stay retarded longer than you can stay solvent“ — Wir können länger retardiert bleiben, als ihr zahlungsfähig bleiben könnt.

Und der Gebrauch des Wortes im Subreddit war nicht nur allgegenwärtig, sondern auch faszinierend: überlagert von Ironie und Selbstironie auf mehreren Ebenen. Soziologen könnten und sollten untersuchen, wie dieses Wort von den Redditoren verwendet wurde und welche Rolle es bei der Bildung jener Gemeinschaft spielte, die es ihnen ermöglichte, den Hedgefonds diesen Schlag zu versetzen. Sie drückten damit ihren selbst wahrgenommenen Platz am unteren Ende der sozialen Hierarchie und die Ironie aus, dass sie als Unbedarfte Investoren diejenigen besiegten, die sich für besonders schlaue Finanzprofis hielten, und markierten deren Kultur und Gemeinschaft als transgressiv. Haben einige das Wort in böser Absicht benutzt? Schon möglich. Aber es steckt eine enorme Vielschichtigkeit darin.

Jegliche Diskussion über das Wort für tabu zu erklären — wie Lorenz es versuchte — ist zutiefst anti-intellektuell. So zu tun, als gäbe es keinen Unterschied zwischen der Verwendung des Wortes durch die Redditoren und das Clubhouse-Gespräch einerseits und seiner böswilligen Verwendung als Beleidigung für kognitiv Behinderte andererseits, ist extrem unehrlich. Erwachsene öffentlich für die Verwendung eines Wortes zu verpetzen, ohne auch nur ansatzweise zu versuchen, den Kontext und die Absicht verstehen oder vermitteln zu wollen, ist bösartig, widerlich und soziopathisch.

Aber dies ist heute das vorherrschende Ethos im Konzernjournalismus. Ihnen fehlt es am Talent oder am Know-how und erst recht an dem Willen, wirkliche Machtzentren aufs Korn zu nehmen: den militärisch-industriellen Komplex, die CIA oder das FBI, den geheimen Sicherheitsstaat, die Wall Street, die Monopole des Silicon Valley oder die korrumpierten und verlogenen Konzernmedien, denen sie dienen. Sich stattdessen mit diesem läppischen, trivialen Unsinn abzugeben — Petzen, Flurüberwachung, Sprachpolizei — und dies auf die dümmste, unreifste und primitivste Weise, ist alles, was sie aufzubieten haben. Das ist alles, woraus sie bestehen. Deshalb haben sie die Verachtung und das Misstrauen völlig verdient, die die Öffentlichkeit ihnen entgegenbringt.

Das N-Wort kostet den Job

Die gleiche beschränkte Mentalität führte erst kürzlich zur Zerstörung der Karriere und des Rufs eines weitaus verdienstvolleren Kollegen von Lorenz, dem Wissenschaftsreporter Donald McNeil. Auf einer Exkursion mit reichen High-School-Kindern im Jahr 2019 nach Peru benutzte er das „N-Wort“ (7), nachdem ein Schüler ihn gefragt hatte, ob er es für fair halte, dass einer seiner Mitschüler für die Verwendung dieses Wortes in einem Video bestraft worden war. McNeil benutzte es weder aus Bosheit noch als rassistische Beleidigung, sondern um sich nach den Einzelheiten dieses Videos zu erkundigen, damit er die Frage des Schülers beantworten konnte.

Aber nachdem die leitenden Redakteure der NYT, darunter der afroamerikanische Chefredakteur Dean Baquet, die Angelegenheit untersucht hatten und zu dem Schluss kamen, dass „nur“ ein Verweis angemessen sei — „ich hatte nicht den Eindruck, dass seine Absichten hasserfüllt oder boshaft waren“, so Banquet —, schrieben Dutzende von McNeils Kollegen einen wütenden Brief, in dem sie eine weitaus höhere Bestrafung forderten. „Unsere Gemeinschaft ist empört und leidet“, schrieben die 150 unterzeichnenden Times-Mitarbeiter und fügten hinzu: „Absicht ist irrelevant.“ Die Absicht ist irrelevant, wenn es darum geht zu beurteilen, wie hart der Gebrauch des Wortes durch diesen gestandenen Journalisten zu ahnden sei.

Sie bekamen, was sie wollten. McNeil schrieb eine kriecherisch unterwürfige Entschuldigung und dann gab die Times bekannt, dass er nach 45 Jahren bei der Zeitung entlassen sei, nach seiner Covid-Berichterstattung vom Vorjahr, die die Zeitung für einen Pulitzerpreis für öffentlichen Dienst eingereicht hatte.

Stellen Sie sich das einmal vor: Die gewerkschaftlich organisierten Mitarbeiter der NYT verlangten, einen Gewerkschaftskollegen härter zu bestrafen, als das Management es vorhatte.

Im Jahre 2002 gewann McNeil den ersten Preis der „National Association of Black Journalists“ für seine exzellente Berichterstattung über die Auswirkungen der AIDS-Krise in Afrika. Jetzt sind seine 45-jährige Karriere und sein Ruf zerstört — durch die eigenen Kollegen —, weil bei der Verwendung verbotener Worte die „Absicht irrelevant“ ist.

Eine Kultur des Anschwärzens

Die übergreifende Regel liberaler Medienkreise und liberaler Politik ist, dass sie frei sind, jeden, der von der liberalen Orthodoxie abweicht, jede Art von Bigotterie zu beschuldigen, die ihnen einfällt — nenn ihn ohne die Spur eines Beweises einfach Rassist, Frauenfeind, homophob, transphob — und dies wird als völlig akzeptabel angesehen werden.

Ganz in diesem Sinne beschloss am Samstag der bekannteste Anwalt der American Civil Liberties Union (ACLU), einer Organisation, die sich einst den strengen Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit verschrieben hatte, zwei seiner ideologischen Gegner als „eng assoziiert mit weißen Suprematisten“ zu denunzieren.

Kurz nach seiner Aufnahme in die vom Time Magazine geführte Liste der hundert einflussreichsten Menschen der Welt — also jemand mit einer Menge Macht und Einfluss — beschloss der Transsexuellen-Aktivist und ACLU-Anwalt Chase Strangio, diese extrem schwerwiegende Anschuldigung gegen J. K. Rowling und Abigail Shrier loszulassen, die sich beide gegen die Aufnahme von Trans-Frauen im weiblichen Leistungssport aussprachen:

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Wie ich schon früher geschrieben habe, gehöre ich nicht zu denjenigen, die einen solchen absoluten Ausschluss befürworten. Ich bin offen für einen wissenschaftlichen Konsens, der hormonelle oder sonstige medizinische Richtlinien festlegt, wie Trans-Frauen und -Mädchen mit anderen CIS-Frauen in fairen sportlichen Wettkämpfen konkurrieren können. Aber das gibt ihnen noch nicht das Recht — speziell nicht als Anwalt der ACLU — einfach herumzulaufen und Leute beiläufig als weiße Suprematisten zu brandmarken, die nie im Entferntesten eine solche Affinität gezeigt haben, nur weil ihnen gerade danach ist, oder weil sie sich nach der Macht sehen, ihre Gegner zu vernichten, oder weil sie zu faul sind, sich mit ihren wirklichen Ansichten auseinanderzusetzen.

Greenwald, der Frauenhasser

Aber das gilt in Mainstream- und in liberalen Kreisen als absolut akzeptables Verhalten. Ich habe gerade eine Woche damit verbracht, mich von dieser Art Leute als „Frauenhasser“ denunzieren lassen, weil ich die Kongressabgeordnete Alexandra Octavio Cortez (AOC), für ihre höhnische Ablehnung des Angebotes von Senator Ted Cruz, mit ihr zusammen das Verhalten von „Robinhood“ in der GameStop-Affäre zu untersuchen, kritisiert und verspottet hatte. Vor allem kritisierte ich ihren lächerlichen Vorwurf an Cruz: „Sie haben es fast geschafft, mich zu ermorden“ — eine Behauptung, die sogar der CNN-Faktenchecker Daniel Dale, der sich eher die Augen ausstechen lassen als einen populären Demokraten der Lüge bezichtigen würde, als haltlos zurückwies: „Cruz hat niemals Gewalt gegen AOC befürwortet oder gar zu ihrer Ermordung aufgerufen.“

AOC ist eine populäre und mächtige Politikerin, und Journalisten dürfen solche Leute weder kritisieren noch verspotten. Doch das ist unser Job. Aber ich musste mich deshalb von vielen Leuten als sexistischer Frauenfeind porträtieren lassen — ironischerweise ist das ein altes homophobes Klischee, das lange auf schwule Männer angewandt wurde —, von Leuten wie Ashley Reese als „einfach schlichtfrauenfeindlich“, Jezebel, die sich problemlos umbenennen könnte in „Du Frauenfeind“, weil sie kein anderes Thema kennt, und der langjährige MediaMatters-Künstler Eric Boellert mit „Greenwalds Frauenhass ist grenzenlos“.

Dass ich im Jahr 2018 einer der ersten und aktivsten Unterstützer von AOC war, als sie gegen den Amtsinhaber Joe Crowley kandidierte — als Leute wie Reese und Boelhert noch nicht einmal von ihr gehört hatten — und dass ich sie unzählige Male verteidigt und nur gelegentlich kritisiert habe, bleibt unerwähnt und spielt keine Rolle. Für diejenigen, die sich fragen, warum ich sie unterstützt habe: Ich interviewte sie während ihres Vorwahlkampfs, und sie gab beeindruckende Antworten, die sich in ihrer jetzigen Politik aber nicht wiederfinden.

Meine Unterstützung für AOC im Jahr 2018 erfolgte zeitgleich mit meiner frauenfeindlichen Unterstützung für Cynthia Nixon bei ihrer Kandidatur für den Gouverneursposten von New York und für Zephyr Teachout, die Generalstaatsanwältin werden wollte. Habe ich damals meine Frauenfeindlichkeit versteckt, oder ist sie erst später entstanden? Völlig unnötig, irgendetwas davon infrage zu stellen. Das hat es nicht verdient. Weder gibt es Anhaltspunkte noch Beweise für diese Taktik. Sie basiert ausschließlich auf Gehässigkeit, Dummheit und Rachsucht.

Diese Art von anklagender Verleumdung kann ich ignorieren oder sie und ihre Urheber verachten und lächerlich machen — und das tue ich ja auch. Denn sie haben keine Macht über mich. Aber bedenken Sie, wie viele Leute im Journalismus oder in anderen Berufen, deren Position weniger abgesichert ist, ganz real von diesen zwielichtigen Taktiken terrorisiert und eingeschüchtert werden, was zu Stillschweigen und konformem Verhalten führt. Sie wissen, dass ihr Ruf sofort zerstört werden kann, wenn sie Meinungen vertreten, die den Stasi-Agenten und ihren Chefs missfallen. Also bleiben sie aus Notwendigkeit still und gefügig.

Genau das ist ja auch der Zweck, die Funktion dieser niederträchtigen Beschuldigungstaktik: Kontrolle und Zwang auszuüben, zu dominieren und einzuschüchtern.

Die Leute, die sich auf diese charakterverachtenden, zensurfördernden Spielchen einlassen — vor allem diejenigen, die sich „Journalisten“ nennen, — verdienen nichts als tiefe Verachtung. Und diejenigen, die frei von ihrem Einfluss und ihrer Macht sind, haben eine besondere Verpflichtung, diese Verachtung zu artikulieren — sie ist wohlverdient und das einzige Mittel, diese Taktik zu neutralisieren.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst am 7. Februar 2021 auf Substack unter dem Titel „The Journalistic Tattletale and Censorship Industry Suffers Several Well-Deserved Blows“. Er wurde von Christoph Hohmann aus dem ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzerteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratteam lektoriert.


Quellen und Anmerkungen:

Anmerkungen des Übersetzers:

(1) Beat Reporting, auch als Specialized Reporting bekannt, ist ein Genre des Journalismus, das sich im Laufe der Zeit auf ein bestimmtes Thema, einen bestimmten Sektor, eine bestimmte Organisation oder eine bestimmte Institution konzentriert.
(2) Die Millennials, geboren zwischen 1980 und 1990, sind die Ersten, die mit dem Computer aufgewachsen und es gewohnt sind, in virtuellen Teams zu arbeiten.
(3) Eine Internetplattform vergleichbar mit Twitter, die Anfang 2021 durch einen konzertierten Angriff von Google, Apple und Amazon stillgelegt wurde. Näheres unter https://www.rubikon.news/artikel/die-digitalen-supermachte.
(4) Die Reddit-GameStop-Affäre war ein Börsenduell, das Anfang 2021 zwischen dem Hedgefonds Melville Capital und einer großen Schar von Kleinanlegern ausgetragen wurde, die sich über die Internet-Plattform Reddit organisiert hatten. Melville Capital tätigte umfangreiche Leerverkäufe von Aktien der Computerspielekette GameStop, die durch die Pandemie in Schwierigkeiten steckte. Die Reddit-Anleger kauften daraufhin ihrerseits diese Aktie in Massen, was deren Kurs so stark nach oben trieb, dass Melville Capital die Aktien nicht, wie erhofft, zu Schleuderpreisen, sondern stark überteuert zurückkaufen musste. Melville Capital geriet dadurch in Schieflage und war auf die Rettung durch andere Hedgefonds angewiesen, während die Reddit-Anleger satte Gewinne machten, denn Melvilles erzwungene Rückkäufe ließen die Aktie noch weiter steigen. Die Episode erinnert an die Geschichten von Robin Hood oder David gegen Goliath und schuf sich ihre eigene Fangemeinde. Quelle: https://www.stern.de/wirtschaft/news/gamestop-aktie--irrer-boersen-kampf-zwischen-hedgefonds-und-reddit-nutzern-30351962.html.
(5) So heißen die Teilnehmer der Online-Plattform Reddit
(6) „Short Squeeze“ ist Börsenjargon und bezeichnet das Manöver, eine Aktie just dann zu verknappen und hochzutreiben, wenn ein Leerverkäufer vertragsgemäß gezwungen ist, diese Aktie zurückzukaufen.
(7) Das Wort „Nigger“ ist im offiziellen englischen Sprachgebrauch derart verpönt, dass sich die Umschreibung „N-word“ eingebürgert hat.

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