Die heiligste Pflicht
Eine freundschaftliche Lehrer-Schüler-Beziehung kann zum friedlichen Miteinander der Menschen führen.
„Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.“ Die Schulzeit — das sind prägende Jahre für alle Menschen. Dabei ist es weniger der Lernstoff, der auch im Erwachsenenleben „hängenbleibt“, denn Zahlen und Fakten, die man in der Schule pauken musste, sind schnell wieder vergessen. Viel entscheidender ist die Erprobung des menschlichen Miteinanders, wofür die Schule nach dem Elternhaus das erste wichtige Übungsfeld ist. Speziell gilt das für den Umgang mit Autoritäten, die in diesem Fall durch den Lehrer repräsentiert werden. Können Konflikte friedlich gelöst werden? Kann Streit fair ausgetragen werden und versöhnlich enden? Kann der bei jungen Menschen häufige Impuls des Aufbegehrens vom Lehrer in konstruktive Bahnen gelenkt werden, ohne dass der „Vorgesetzte“ den „Untergebenen“ tyrannisiert — oder gelegentlich auch umgekehrt? Die Pflicht eines guten Lehrers ist, dass der Schüler Vertrauen in sich selbst gewinnt, indem er erfährt, dass er trotz vorübergehender Autoritätskonflikte von einem fördernden Wohlwollen getragen wird. Lehrer, die in diesem Sinne fähig sind, sind nicht nur wichtig für das „Klima“ an Schulen — sie erfüllen für die ganze Gesellschaft eine wichtige Funktion, da sich Muster aus dem Schulalltag später oft auf einer größeren Bühne wiederholen.
Journalisten, Politiker sowie deren Berater und Auftraggeber spekulieren nur noch über die Wahrscheinlichkeit eines Dritten Weltkrieges. Dabei ist es der sehnlichste Wunsch der Bürger, in Frieden und Freiheit zu leben, den Acker zu bestellen, ein Dach über dem Kopf zu haben und die Zukunft der Kinder zu sichern.
Um dieses friedliche Miteinander zu realisieren, müssen bereits die Kinder in Familie und Schule seelische Eigenschaften beziehungsweise einen Charakter entwickeln, der dieses friedliche Miteinander als höchstes Gut empfindet.
Das ist möglich, wenn die Erziehung in Elternhaus und Schule die Förderung und Entfaltung des Gemeinschaftsgefühls in den Mittelpunkt stellt. Auf eine verwöhnende und verzärtelnde sowie zu strenge, harte und autoritäre Erziehung sollte dabei nach Möglichkeit verzichtet werden.
Hat man sich in der Vergangenheit die erzieherische Aufgabe als sehr leicht vorgestellt, weil man glaubte, dass der Charakter des Kindes bereits von Geburt an festgelegt sei und man deshalb keiner besonderen Kenntnisse bedürfe, sondern lediglich eines gesunden Menschenverstands, so wissen wir heute, dass der Charakter des Menschen mitsamt seinen Eigenschaften nicht angeboren ist.
Alle seelischen Eigenschaften entwickeln sich im Erlebnis der Umwelt, in der sich das Kind befindet, in der Beziehung zu Vater, Mutter, Geschwistern und Lehrern. In diesen Beziehungen nimmt das Kind jene Wesenszüge an, die sich im Laufe seiner Entwicklung als soziale oder asoziale Eigenschaften erweisen.
Es sind vor allem die Entdeckungen von Sigmund Freund und Alfred Adler, das heißt, der Einfluss der Tiefenpsychologie, der das Fundament zum neuen Verständnis des menschlichen Seelenlebens gelegt hat. Dies veranlasst uns, manche überlieferte Auffassung über das Wesen der kindlichen Seele aufzugeben, um sie durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu ersetzen.
Eine unsachgemäße Erziehung prägt charakterliche Fehlhaltungen, welche die Einfügung des Kindes und späteren Erwachsenen in die mitmenschliche Gemeinschaft erschweren oder gar verunmöglichen. Erzieherische Unwissenheit können bei Buben wie bei Mädchen Trotz, Angst oder Aggressivität hervorrufen.
Wenn sich zum Beispiel ein Schüler vom Lehrer nicht verstanden fühlt und deshalb Widerstand leistet, sollte sich der Lehrer nicht beleidigt fühlen und ihm mit Groll und Unwillen entgegentreten; der Schüler reagiert auf dieses Verhalten. Es ist sinnvoller, den irritierten Schüler als krankes Kind zu sehen, das Fieber hat oder durch eine falsche Erziehung in die Enge getrieben worden ist. Indem wir das Kind verstehen lernen, geht das sehr gut.
Der Individualpsychologe Professor Rudolf Dreikurs schätzte die Situation an Schulen realistisch ein, als er 1975 schrieb:
„Ob der Lehrer es möchte oder nicht, ob er sich dessen bewusst wird oder nicht, gewöhnlich wird er in einen Machtkampf hineingezogen, aus dem er sich nicht befreien kann.“ (1)
Gleichzeitig merkte er aber an:
„Jedes Kind wird gelegentlich aus Gründen, die ihm selbst verborgen bleiben, Widerstand leisten. Zu wiederholen, was es tun sollte, verbessert nicht die Situation, ruft im Gegenteil einen Konflikt im Kind hervor und verstärkt seinen offenen Widerstand gegenüber dem Lehrer. Nur jemand, der die psychologischen Mechanismen, die das richtige Funktionieren des Kindes blockieren, versteht, kann ihm helfen, sich einzufügen und Fortschritte zu machen.“ (2)
Es ist von großer Bedeutung, dass sich der Lehrer dieses Machtkampfs bewusst wird und Frieden schließt mit dem störenden Schüler, sich mit ihm versöhnt. Es geht darum, den Kriegszustand zu beenden, der die ganze Schar Kinder einer Klasse beeinflusst. Das Kind ist zur Mitarbeit zu haben, wenn es Freundschaft erlebt: da ist jemand, „der geht mit mir durch dick und dünn, der wird mich nicht verraten“.
Diese Versöhnung kann auch den Weg zu einem friedlichen Miteinander von Erwachsenen ebnen. Beide, Lehrer wie Schüler, erfahren, dass man sich mit dem anderen Menschen versöhnen und mit ihm in Frieden zusammenleben kann. Sobald der Schüler erlebt, dass der Lehrer ihn anerkennt, hat er keinen Grund mehr, Unruhe zu stiften.
Selbstverständlich darf der störende Schüler, der sich im Grunde nur das Lernen nicht zutraut, nicht die Oberhand gewinnen, dadurch Mitschüler anstecken oder ablenken und damit die ganze Stimmung in der Klasse verderben. Der Lehrer muss die Oberhand behalten und Rudelführer der ganzen „Bande“ bleiben. An ihm können sich die Schüler reiben und ihr „Mütchen“ kühlen. Dies ist ein gemeinsames Wachsen aneinander. Es entsteht durch die tägliche Beziehung, eine intensive Auseinandersetzung, die den ganzen Menschen fordert — mit all seinen Schwächen und Stärken und durch das tägliche Gespräch sowie das Ringen um die Lufthoheit im Klassenzimmer.
Am Lehrer als Vorbild können die Schüler aber auch wachsen. Deshalb halte ich den Beruf des Lehrers für den schönsten Beruf, den der Mensch haben kann. Das sage ich sowohl als ehemaliger Lehrer verschiedenster Schularten als auch als langjähriger staatlicher Schulberater und Erziehungswissenschaftler.
Ich verstehe nicht, dass der Lehrberuf bei jungen Menschen an Attraktivität verloren hat; keiner will mehr Lehrer werden. Wegen dieses Notstands soll zukünftig auf das Referendarjahr, in dem man von einem erfahrenen Kollegen viel Nützliches erfahren kann, weitgehend abgeschafft werden. Darüber hinaus lädt man junge Studenten jeder Fachrichtung dazu ein, kurzfristig auszuhelfen und die ihnen anvertrauten Schüler zu unterrichten. Für eine qualitativ hochwertige Bildung, wie ich sie verstehe, ist das nicht zuträglich — weder für die Schüler noch für die gesamte Gesellschaft.
Liegt es an der mangelnden gesellschaftlichen Anerkennung des Lehrer-Berufs, oder kommen Lehrkräfte mit den verwöhnten und störrischen, die Autorität des Lehrers missachtenden und schlechtes Deutsch sprechenden Schülern nicht mehr zurecht? Dabei haben die Lehrer das weitere Schicksal des jungen Menschen sowie der ganzen Gesellschaft „in der Hand“.
So schrieb der in Algerien aufgewachsene französische Literatur-Nobelpreisträger Albert Camus kurz nach der Preisverleihung an seinen ehemaligen Lehrer Monsieur German folgende bewegende Zeilen:
„Ohne Sie, ohne Ihre liebevolle Hand, die Sie dem armen kleinen Kind, das ich war, gereicht haben, ohne Ihre Unterweisung und Ihr Beispiel, wäre nichts von alldem geschehen.“ (3)
Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts, schrieb Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, jedem Lehrer und Erzieher „ins Stammbuch“:
„Die wichtigste Aufgabe eines Erziehers — man kann fast sagen, seine heiligste Pflicht — besteht darin, Sorge zu tragen, dass kein Kind in der Schule entmutigt wird und dass ein Kind, das bereits entmutigt in die Schule eintritt, durch seine Schule und durch seinen Lehrer Vertrauen in sich selbst gewinnt.“ (4)