Die harten Neunziger

Der Zusammenbruch des Ostblocks brachte für die russische Bevölkerung viele Verwerfungen mit sich.

Wenn wir die Zeit unmittelbar nach der Wiedervereinigung betrachten, dann geschieht dies in der Regel aus deutscher Perspektive. Schließlich fiel damals die Mauer, die Deutsche von Deutschen trennte. Doch was folgte, bedeutete für die meisten anderen Länder des sowjetischen Einflussgebietes — wie auch für das neu entstandene Russland — Chaos und Anarchie. Diese Länder hatten keine Bundesrepublik, an die sie angegliedert wurden und an deren ökonomischen und politischen Strukturen sie sich orientieren konnten. Sie mussten ihren Weg selbst finden, mehr oder weniger verloren im Machtvakuum nach dem kalten Krieg, den Kapitaleignern des Westens zum Fraß vorgeworfen, die nur darauf gewartet hatten, aufzukaufen, was ihnen so lange vorenthalten worden war. Die wilden Neunziger waren in Russland vor allem hart. Das ging auch an den Menschen nicht spurlos vorbei. Der Autor empfiehlt zwei Filme aus dieser Zeit, die zum besseren Verständnis der harten Lebensrealität beitragen können. Ein Text zur Reihe Russlands Schätze, deren Ziel es ist, die liebenswerten Seiten und kulturellen Perlen des Landes — einmal abseits der tagespolitischen Debatten —, um den Russland-Ukraine-Konflikt zu porträtieren.

Mein Name ist Owe Schattauer und ich bereiste in den Jahren 2015 bis 2022 Russland und Weißrussland circa fünfzehn Mal, besuchte dabei 40 große Städte von Wladiwostok über Nowosibirsk, Tscheljabinsk, bis Grosny, Wolgograd und Elista, Kazan, Moskau und St. Petersburg sowie unzählige Dörfer und Regionen des größten Landes der Erde. In Kazan lernte ich meine jetzige Frau, eine Tatarin, kennen. Dank ihr tauchte ich in die sowjetische und russische Filmkunst tiefer ein.

Bis dato kannte ich, wie jeder gelernte DDR-Bürger (Jahrgang 1969), Filme wie „Panzerkreutzer Potemkin“ (1925), „Der Mann mit der Kamera (1929), „Die Kraniche ziehen“ (1957), „Weiße Sonne in der Wüste“ (1970), „Der Spiegel“ (1975) „Geh & Sieh“ (1985) et cetera.

Ich denke dabei auch an die wunderbaren sowjetischen Märchenfilme, die wir als Kinder, meistens Sonntagvormittags, in den Kinos sahen: „Die Schneekönigin“, „Abenteuer im Zauberwald“, „Der Hirsch mit dem goldenen Geweih“, „Die schöne Warwara“, „Die Abenteuer des Buratino“, „Das Märchen von der verlorenen Zeit“ et cetera et cetera und nicht zu vergessen die legendäre Zeichentrickserie "Wolf und Hase — Nu Pogadji".

Diese Filme prägten ganze Generationen in 40 Jahren Ostdeutschland und sie verfestigten auch die darin verkörperten Werte und Verhaltensnormen unter den Menschen.

Ab 1989 ging mit dem Mauerfall in Deutschland das Interesse an allem Russischen rapide zurück.

Die alte Zeit — verkörpert durch die Besatzungsmacht Sowjetunion im Osten — war plötzlich out und der „Wilde-Werte-Westen“, wie ich ihn heute nenne, mit Hollywood und CocaCola + Burger im Gepäck, war total in. Ähnlich, aber noch viel chaotischer, ging — es in den neunziger Jahren und Anfang des neuen Jahrtausends im gesamten postsowjetischen Raum zu.

Die Menschen wurden durch die plötzlichen geopolitischen Ereignisse um sie herum komplett überrannt, alte Strukturen zerbrachen schneller, als neue entstanden. Man überlebte von einem Tag zum anderen in einer völlig außer Kontrolle geratenen Welt.

Im Gegensatz zu den finanziellen Aufbauhilfen der deutschen Wiedervereinigung überließ man die sich im freien Fall befindende, auseinanderbrechende Sowjetunion einfach sich selbst.

Um einen kleinen Einblick in den gnadenlosen Überlebenskampf dieser Zeitepoche zu bekommen, empfehle ich heute zwei Filme, die das ganze Drama in seiner schonungslosen Ehrlichkeit aufzeigen.

Zum einen ist es der Film „Bruder- Брат“ (Teil 1, 1997 und Teil 2, 2000) und zum anderen der Film „Punkt —Точка“ aus dem Jahr 2006.


Quelle: Booqua.de

„Bruder“ (1997) und der Nachfolger „Bruder 2“ (2000) vom Regisseur Aleksei Balabanow wurden in Russland zum Kult. Beide Filme dienen als Brücke zum Verständnis der russischen Kultur und der postsowjetischen Generation der neunziger Jahre. Mit der Besetzung des Haupthelden landete der Regisseur einen absoluten Volltreffer: Der junge, charismatische Sergej Bodrow Jr. erobert die Herzen des Publikums aller Altersklassen im Sturm. „Stärke liegt in der Wahrheit“, sagt er.

„Du hast jemanden betrogen, dabei etwas Geld verdient und glaubst, Du seist nun stärker? Nein, bist Du nicht, weil dabei keine Wahrheit war.“

Aussagen wie diese brennen sich ins kollektive Gedächtnis mehrerer Generationen von Zuschauern.

Der Hauptheld hat weder Ziele noch Ehrgeiz und kennt keine Ängste. Sein sozialer Status ist ihm egal. Er strahlt ein Gefühl absoluter Freiheit, innerer Ruhe und ein beinahe unwirkliches Selbstvertrauen aus. Dieser actiongeladene Thriller zog die Menschen vor allem deshalb in den Bann, weil er, wie so viele russische Filme, aus einer tiefen Seele und direkt von Herzen kam. Das Publikum identifizierte sich auf Anhieb mit der vielschichtigen Hauptfigur.

Sergej Bodrow wurde mit diesen beiden Filmen zum russischen Jugendidol und galt auf Anhieb als vielversprechendes Talent des russischen Kinos. Er kam auf tragische Weise, mit nur 31 Jahren, bei Dreharbeiten in der Karmadon-Schlucht, Nordossetien, ums Leben. Balabanows Film-Epos verkörpert einen Ausschnitt aus einer Zeit nach dem Niedergang der Weltmacht Sowjetunion, die viele wahrscheinlich lieber vergessen würden.

Der Film „Punkt —Точка“ (2006) von Yuri Moroz ist meine zweite Filmempfehlung und ich erinnere mich daran, dass ich nach dem Film nur sehr schwer einschlafen konnte, weil mich die gnadenlos brutale und realitätsnahe Geschichte von drei Prostituierten schwerlichst zur Ruhe kommen ließ. Nicht nur der extrem grausame Werdegang der drei Hauptheldinnen des Films, gespielt von den genialen und mehrfach ausgezeichneten Schauspielerinnen Victoria Isakowa, Anna Ukolova und Daria Moroz, sondern die Vorstellung, dass die dort gezeigten Erniedrigungen, Gewalttätigkeiten und Brutalitäten gegenüber Frauen in der weltweiten Prostitution zum sogenannten „täglichen Geschäft“ dazugehören, schockierten mich und machten mich gleichzeitig sehr traurig. Warum? Weil man diese kriminellen Machenschaften offensichtlich nirgends auf der Welt in den Griff bekommt. Dieser Film ist nichts für schwache Nerven und geht verdammt unter die Haut, solange man empathiefähig ist.


Quelle: IMDB

Das waren nur zwei Filmtipps und ich könnte noch sehr viele weitere Werke aufzählen, die leider ungesehen an unserer, von Hollywoods & Co. dominierten Gesellschaft, vorbei gehen.

Ich persönlich kenne Russen und Russlanddeutsche, die mir von ihrem Überlebenskampf im Chaos der neunziger Jahre berichteten. Sie erzählten auf der einen Seite von dieser spannenden Aufbruchsstimmung in eine unbekannte Freiheit, auf der anderen Seite aber auch von den allgegenwärtigen Risiken und Abgründen dieser Freiheit, von Hunger, Kriminalität und Armut in Zeiten, als der Osten Deutschlands mit Krediten und Treuhandausverkäufen in „blühende Landschaften“ verwandelt wurde.

Ich glaube, dass niemand, der nicht persönlich vor Ort war, diese Zeitepoche aus der Ferne richtig einschätzen kann. Um die russische Seele 2023 zu verstehen, sollte man sich mit ihrer Geschichte, und dazu zählen auch die Jahre des Umbruchs nach 1990, beschäftigen.

Auch darum heißt mein Song als C-Rebell-um aus dem Jahr 2022: „Wir müssen miteinander reden“. Punkt!


Der voraussichtliche Ablauf der Reihe (weitere können folgen):
(23. Juni 2023) Lilly Gebert: Jenseits von Schuld und Sühne (über Nikolai Gogols „Tote Seelen“ und die Eigenheiten der russischen Literatur
(30. Juni 2023) Michael Meyen: Mit dem Wolf nach Russland (über die sowjetische Kinderserie „Hase und Wolf“)
(7. Juli 2023) Nicolas Riedl: Russischer Tiefgang (über die apokalyptische Science-Fiction-Trilogie „Metro 2033-35“ von Dimitry Glukhovsky)
(14. Juli 2023) Bilbo Calvez: Eine Gemeinschaft in Sibirien (über ihre Zeit in einem sibirischen Dorf, in dem sie Ende vorigen Jahres mit gebrochenem Arm gestrandet ist)
(21. Juli 2023) Kenneth Anders: Die Russen und wir (über seine persönlichen Erfahrungen vom Kontakt mit der russischen Besatzungsmacht in einer Garnisonsstadt der DDR)
(28. Juli 2023) Felix Feistel: Antiautoritäres Russland (über die anarchistische Mentalität der Russen und seine Eindrücke während einer Reise in der Coronazeit)
(11. August 2023) Aaron Richter: Ein Monument der Freundschaft über Modest Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“)
(18. August 2023) Renate Schoof: Weltliteratur und Birkenwälder (über die Gedichte von Jewgeni Jewtuschenko, „Die Brüder Karamasow“ von Fjodor Dostojewski und „Der Weg des Schnitters“ von Tschingis Aitmatow)
(25. August 2023) Hakon von Holst: Versöhnung im Land der Verbannung (über den Baikalsee und die ZDF-Dokuserie „Sternflüstern“)
(8. September 2023) Owe Schattauer: Die harten Neunziger (über die beiden russischen Filme: „Bruder“ von Alexei Balabanow und „Toschka ― Der Punkt“ von Yuri Moroz)
(15. September 2023) Roland Rottenfußer: Der Himmel auf Erden (über russische Spiritualität und Orthodoxie)
(22. September 2023) Wolfgang Bittner: Hinter dem neuen eisernen Vorhang (über seine Vortragsreise durch Russland und die damit verbundenen Erlebnisse)
(29. September 2023) Lea Söhner: Der Feindkomponist (über die Musik und das Leben von Pjotr Iljitsch Tschaikowski)
(6. Oktober 2023) Laurent Stein: Ein unbekanntes Viertel (über das Viertel Sokolniki in Moskau und die Erinnerungen an seine russische Großmutter)