Die Harmonie-Falle

Sich der Tyrannei zu unterwerfen, sollte nicht mit „Güte“ verwechselt werden — schon gar nicht in der Weltpolitik.

André Vltchek, als Kind ein Opfer von Mobbing, vergleicht seine damaligen Peiniger mit den heutigen „Herrschern“ der Welt — und sieht durchaus Parallelen: Jenseits aller Rechtmäßigkeit, jenseits jedes Mitgefühls verstehen sie nur das Gesetz der Stärke und Gewalt. Kann man in einem solchen Fall durch „Gutsein“ gewinnen? Die Antwort liefert vielleicht ein deutsches Sprichwort: „Sei immer gut, doch nie zu gütig — die Wölfe werden sonst leicht übermütig.“

Lohnt es sich, „lieb zu sein“? Ist es noch möglich, sich in dieser verrückten, von Banditen regierten Welt an die Regeln zu halten?

Was, wenn die Regeln von allen Ländern der Welt definiert und ratifiziert werden, aber eine kleine Gruppe der (militärisch) stärksten Staaten sie einfach vollkommen ignoriert und ihre Propaganda-Experten dafür einsetzt, diese Regeln auf die bizarrste Weise neu zu interpretieren?

Wenn ich die Welt beschreibe, fühle ich mich manchmal in meine Grundschulzeit zurückversetzt.

Kindheit unter Rassisten

Ich hatte das Pech, in der rassistischen Tschechoslowakei aufzuwachsen. Da ich in der Sowjetunion geboren und meine Mutter zu gleichen Teilen russischer und asiatischer Abstammung war, wurde ich bereits im Alter von sieben Jahren in den Pausen brutal zusammengeschlagen. Ich wurde systematisch von einer Jungenbande attackiert und wegen meiner „asiatischen Ohren“, meiner „asiatischen Mutter“ und meiner russischen Herkunft gedemütigt und geschlagen. Im Winter haben sie meine Schuhe in die eisige Kälte gestellt und hineingepinkelt. Der Urin wurde zu Eis. Der einzige Trost war, dass ich „wenigstens“ russisch und chinesisch war. Wäre ich ein Zigeuner- beziehungsweise Roma-Junge gewesen, hätte ich wahrscheinlich nicht überlebt — oder ich hätte zumindest ein Auge verloren oder man hätte meine Hände gebrochen.

Ich versuchte es mit Höflichkeit. Ich gab alles, um „den Regeln zu folgen“. Ich wehrte mich, anfangs nur halbherzig.

Bis zu dem Tag, an dem ein Nachbarskind sein Luftgewehr abfeuerte und nur knapp mein Auge verfehlte. Einfach so, weil ich ein Russe war … und Asiate, und weil er gerade einfach nichts Besseres zu tun hatte. Und weil er so stolz darauf war, Tscheche und Europäer zu sein. Auch weil ich mich weigerte, mir alles gefallen zu lassen, ihre „Überlegenheit“ zu akzeptieren und mich vor ihnen demütigen zu lassen.

Sowohl meiner Mutter als auch mir ging es in der Tschechoslowakei miserabel, wir träumten beide von unserem Leningrad. Aber sie hatte eine persönliche Fehlentscheidung getroffen, und nun saßen wir in einer feindseligen, provinziellen und aufgeblasenen Gesellschaft fest, die „zurück nach Europa“ und wieder Teil des Länderblocks sein wollte, der die Welt bis dahin jahrhundertelang beherrscht und unterdrückt hatte.

„Es reicht!“

Das Luftgewehr und das beinahe verlorene Auge wurden zum Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ich tat mich mit meinem Freund Karel zusammen, dessen einziges „Vergehen“ es war, mit zehn Jahren fast 100 Kilo zu wiegen. Er konnte nichts dafür — es war genetisch bedingt —, aber die Kinder verspotteten auch ihn und machten ihn zu ihrem Boxsack.

Er war ein sanftes, gutmütiges Kind, liebte Musik und Science-Fiction-Romane. Wir waren Freunde. Wir planten unsere gemeinsamen Reisen ins Weltall zu den fernen Galaxien. Nun aber sagten wir „Es reicht!“ Wir schlugen brutal zurück. Nach zwei bis drei Jahren des Leidens begannen wir, die Bande zu bekämpfen — mit derselben Stärke und Brutalität, die wir und alle um uns herum, die „anders“ oder zumindest schwach und hilflos waren, zu spüren bekommen hatten.

Und wir siegten. Nicht durch Vernunft, sondern durch Mut und Stärke. Ich wünschte, wir hätten nicht kämpfen müssen, aber wir hatten keine Wahl.

Wir fanden schnell heraus, wie stark wir waren. Und als wir erst einmal begonnen hatten, konnten wir nur noch durch einen Sieg überleben. Und wir siegten tatsächlich. Die Kinder, die uns gequält hatten, waren in Wirklichkeit Feiglinge. Sobald wir gewonnen und uns ein gewisses Maß an Respekt verschafft hatten, begannen wir damit, die „Anderen“ zu beschützen.

Hauptsächlich schwache Jungen und Mädchen aus unserer Schule, die auch unter den Angriffen dieser Bande „normaler“, weißer Mainstream-Tschechen gelitten hatten.

Herrscher und Beherrschte

Es gibt selbsternannte Weltherrscher— Europa, Nordamerika, Australien, Neuseeland und Israel —, und dann gibt es noch zwei andere Gruppen: jene Nationen, die vollkommen mit dem Westen kooperieren, wie Indonesien, Thailand, Japan, Saudi-Arabien, Jordanien, Südkorea, Kolumbien und Uganda, und dann jene, die sich entschieden weigern, westliche Diktate anzuerkennen — hierzu gehören Russland, China, Nordkorea, Syrien, Eritrea, Iran, Südafrika, Venezuela, Kuba und Bolivien.

Die erste Gruppe unternimmt fast nichts, um die Welt zu verändern — sie lässt sich von der Strömung treiben, sie akzeptiert die Herrschaft der Tyrannen. Sie kollaboriert und versucht dabei, wenigstens ein paar Privilegien zu ergattern — meist jedoch erfolglos.

Die zweite Gruppe ist sich des düsteren Zustands der Welt sehr wohl bewusst. Sie taktiert, widersetzt sich, kämpft manchmal auch für das eigene und das Überleben anderer. Sie versucht, ihren Prinzipien — oder dem, was man früher „universale Werte“ nannte — treu zu bleiben.

Wird sie jedoch ohne Konfrontation überleben können?

Der Westen — erbarmungslos

Der Westen toleriert keinen Dissens. Seine Kultur war über Jahrhunderte äußerst aggressiv, kriegslüstern und extremistisch: „Ihr seid mit uns, also 'unter unserer Knute', oder Ihr seid gegen uns. Wenn Ihr gegen uns seid, werden wir Euch zerschmettern, fesseln, ausrauben, vergewaltigen, schlagen und am Ende sowieso dazu zwingen, das zu tun, was wir befehlen.“

Russland ist vielleicht das einzige Land, das unbesiegt und über Jahrhunderte hinweg überlebt hat — aber zum unvorstellbaren Preis des Lebens von -zig Millionen seiner Einwohner. Wieder und wieder sind Skandinavier, Franzosen, Briten, Deutsche und sogar Tschechen in Russland eingefallen. Die Angriffe erfolgten regelmäßig, gerechtfertigt durch eine bizarre Rhetorik: „Russland war stark“ oder „es war schwach“.

Es wurde „wegen seiner Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ attackiert oder einfach wegen seines Kommunismus. Welch groteske „Rechtfertigung“ auch immer — sie wurde vom Westen akzeptiert. In Russland musste eingefallen werden, man musste es plündern und furchtbar versehren — weil es Widerstand leistete, weil es auf eigenen Füßen stand und frei war.

Selbst das große China konnte den westlichen Angriffen nicht standhalten. Es wurde gebrochen, aufgeteilt, gedemütigt, seine Hauptstadt von Franzosen und Briten geplündert.

Nichts und niemand konnte den westlichen Ansturm überleben — selbst das stolze und entschlossene Afghanistan vermochte es schließlich nicht.

Harmonie als Lebensphilosophie

Der chinesische Gelehrte Li Gang schrieb in seinem Werk „Wie wir denken: Eine chinesische Sicht der Lebensphilosophie“:

„‚Harmonie‘ ist eine wichtige Gedankenkategorie in der traditionellen chinesischen Kultur. Obwohl das Konzept ursprünglich der Philosophie entstammt, steht es für ein stabiles und integriertes gesellschaftliches Leben. Es beeinflusst direkt die Art und Weise, wie die Menschen über die Welt denken und mit ihr umgehen … In den antiken klassischen Werken Chinas kann ‚Harmonie‘ im Wesentlichen als ‚harmonisch sein‘ verstanden werden.

Menschen der Antike betonten die Harmonie des Universums und der natürlichen Umgebung, die Harmonie zwischen Mensch und Natur und vor allem unter den Menschen … Für traditionelle Chinesen ist das Prinzip eine Lebensweise und sie versuchen ihr Möglichstes, um freundliche und harmonische Beziehungen zu unterhalten. Um Harmonie zu erreichen, behandeln sie einander mit Ehrlichkeit, Toleranz und Liebe und mischen sich nicht in anderer Leute Angelegenheiten ein. Es gibt dort ein Sprichwort: ‚Brunnenwasser vermischt sich nicht mit Flusswasser‘.“

Was könnte weiter hiervon entfernt sein als die Philosophie der westlichen Kultur, die auf der stetigen Notwendigkeit beruht, sich einzumischen, zu erobern, zu kontrollieren?

Friedlicher Widerstand gegen brutale Übergriffe?

Können Länder wie China, Iran oder Russland wirklich in einer Welt überleben, die von aggressiven europäischen und nordamerikanischen Dogmen beherrscht wird?

Oder, genauer: Können sie friedlich überleben, ohne in blutige Auseinandersetzungen hineingezogen zu werden?

Der Beginn des 21. Jahrhunderts zeigt sehr deutlich, dass „friedlicher Widerstand“ gegen brutale Angriffe aus dem Westen kontraproduktiv ist. Um Frieden zu betteln — in Foren wie den Vereinten Nationen —, hat absolut nichts gebracht.

Ein Land nach dem anderen — Jugoslawien, Irak, Libyen — ist zusammengebrochen und hatte keine Chance darauf, gerecht behandelt oder vom Völkerrecht geschützt zu werden.

Der wilde — barbarische — Westen

Der Westen und seine Verbündeten wie Saudi-Arabien und Israel stehen immer über dem Gesetz — oder, genauer gesagt: Sie sind das Gesetz. Sie verdrehen und verändern das Gesetz nach Gutdünken, immer zu Gunsten ihrer politischen oder ihrer Geschäftsinteressen.

Harmonie? Nein, an so etwas wie Harmonie sind sie absolut nicht interessiert. Und selbst wenn ein großes Land wie China dies sein sollte, wird es als schwach angesehen und sofort übervorteilt.

Kann die Welt überleben, wenn eine Gruppe von Ländern sich absolut nicht an die Regeln hält, während die meisten Länder der Welt versuchen, sich genau entsprechend des Völkerrechts und internationaler Regeln zu verhalten?

Sie kann es, aber dies würde zu einer völlig verdrehten, völlig perversen Welt führen — was unsere bereits ist. Es wäre eine Welt der Straffreiheit auf der einen und Angst, Sklaverei und Unterwürfigkeit auf der anderen Seite.

Und es wäre sowieso keine „friedliche Welt“, weil der Unterdrücker immer mehr und mehr möchte — er wird erst dann zufrieden sein, wenn er im Besitz der totalen, absoluten Herrschaft über den Planeten ist.

Das Akzeptieren der Tyrannei ist keine Option.

Was bleibt uns also? Haben wir zu viel Angst, es auszusprechen?

Wenn ein Land angegriffen wird, sollte es sich selbst verteidigen und kämpfen.

Wie Russland es schon so oft getan hat. Wie es Syrien gerade tut — unter großen Opfern, aber erhobenen Hauptes. Wie es Venezuela tun sollte und auch tun wird, sollte es angegriffen werden.

China, Russland und die westliche Zerstörungswut

China und Russland sind zwei großartige Kulturen, die zu einem gewissen Grade vom Westen beeinflusst wurden. Wenn ich „beeinflusst“ sage, meine ich „gewaltsam durchdrungen“, überfallen, brutal missbraucht. Während dieser gewaltsamen Auseinandersetzung haben sich einige positive Elemente westlicher Kultur in den Hirnen der Opfer festgesetzt: Musik, Essen, sogar Städteplanung. Im Großen und Ganzen waren die Auswirkungen aber extrem negativ — sowohl China als auch Russland haben gelitten und leiden noch immer sehr.

Jahrzehntelang hat der Westen seine Propaganda und seine zerstörerischen Kräfte entfesselt, um diese beiden Länder ‚einzudämmen‘ und in ihrem Kern zu zerstören. Die Sowjetunion wurde in die Afghanistan-Falle und in ein finanziell unhaltbares Wettrüsten gelockt und wurde buchstäblich gebrochen. Durch viele dunkle Jahre hindurch erlebte Russland einen Zustand der Verwirrung, des intellektuellen, moralischen und sozialen Chaos und der Demütigung. China wurde mit extremen ‚Marktkräften‘ durchdrungen und seine akademischen Institutionen wurden durch ganze Armeen antikommunistischer ‚intellektueller‘ Krieger aus Europa und Nordamerika infiltriert.

Die Folgen waren verheerend. Beide Länder — China und Russland — waren praktisch unter Beschuss und mussten um ihr Überleben kämpfen.

Standhaft und stark

Beiden Ländern gelang es, die Gefahr zu identifizieren. Sie schlugen zurück, formierten sich neu, hielten durch. Ihre Kulturen und Identitäten überlebten.

China ist heute, unter der Führung von Präsident Xi Jinping, eine selbstbewusste und mächtige Nation. Das heutige Russland, von Präsident Wladimir Putin angeführt, ist eine der mächtigsten Nationen der Welt — nicht nur militärisch, sondern auch moralisch, intellektuell und wissenschaftlich.

Und genau das kann der Westen nicht ‚verzeihen‘. Mit jedem neuen, genialen Elektro-Fahrzeug, das China produziert, mit jeder Kleinstadt, die sich der so genannten „Ökologischen Zivilisation“ anschließt, gerät der Westen mehr in Panik, verleumdet China, stellt es als bösen Staat dar. Je internationalistischer Russland wird, je mehr es sich vor Länder stellt, die der Westen ruiniert hat — sei es Syrien oder Venezuela —, desto unerbittlicher werden die Angriffe des Westens gegen den jeweiligen Präsident und sein Volk.

Sowohl China als auch Russland bedienen sich der Diplomatie, solange sie sinnvoll und konstruktiv ist. Aber nun, da sie mit Gewalt konfrontiert werden, machen sie deutlich, dass sie bereit sind, sich auch mit Gewalt zu verteidigen.

Sie wissen genau, dass dies die einzige Möglichkeit ist zu überleben.

Harmonie und Internationalismus

Für China ist Harmonie wesentlich. Auch Russland hat sein eigenes Konzept globaler Harmonie entwickelt, basierend auf internationalistischen Prinzipien. Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass unsere Erde unter der Führung von China und Russland in der Lage wäre, die schwierigsten Probleme zu lösen, denen sie sich gegenübersieht.

Harmonie kann aber nur umgesetzt werden, wenn es ein globales Konzept des guten Willens gibt, oder zumindest ein entschlossenes Engagement für die Rettung der Erde.

Wenn eine Gruppe mächtiger Länder nur von Profiten, Kontrolle und Beutezügen besessen ist und sich über lange Jahrhunderte hinweg wie Banditen geriert, muss man handeln und die Welt verteidigen — und wenn es nicht anders geht, mit Gewalt!

Erst nach einem Sieg kann wahre Harmonie angestrebt werden.

Zu Beginn dieses Essays erzählte ich von meiner Kindheit, die ich symbolisch finde.

Würde und Freiheit als höchstes Gut

Man kann Kompromisse schließen, man kann sich diplomatisch verhalten — aber nicht, wenn die eigene Würde und die eigene Freiheit auf dem Spiel stehen. Man kann nicht endlos mit denen verhandeln, die weltweit Milliarden von Menschen verhungern lassen und versklaven.

Venezuela, Syrien, Afghanistan und so viele Länder bluten gerade. Auch der Iran könnte bald an der Reihe sein. Und Nicaragua. Und Nordkorea. Und vielleicht werden auch China und Russland wieder mit einer westlichen Invasion konfrontiert.

Eine „harmonische Welt“ kann später gebaut werden — ganz sicher eines Tages, aber ein bisschen später. Zuerst müssen wir sicherstellen, dass die Menschheit überlebt und dass der westliche Faschismus nicht weitere Millionen von unschuldigen menschlichen Leben verschlingt.

Wie ich und Karel, mein guter Freund aus der Kindheit, in der Grundschule in der ehemaligen Tschechoslowakei müssen vielleicht auch Russland und China sich wehren und „unharmonischer Barbarei“ gegenübertreten — sie werden vielleicht kämpfen müssen, um eine noch größere Katastrophe abzuwenden.

Nicht, dass sie das wollten; sie werden alles tun, um einen Krieg zu vermeiden.

Der Krieg tobt jedoch bereits. Der westliche Kolonialismus ist zurück. Die brutale Gang nordamerikanischer und europäischer Länder hat sich auf der Straße aufgebaut, mit geballten Fäusten, und schießt auf jeden, der es wagt, die Augen zu erheben und sie anzusehen. Ihre Augen sagen: „Traut Ihr Euch?“

Die einzig richtige Antwort darauf ist „Ja, wir trauen uns!“


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „[Can China And Russia Survive In This Unharmonious World?]https://www.globalresearch.ca/can-china-russia-survive-unharmonious-world/5671653)“. Er wurde von Gabriele Herb aus dem ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.