Die grauen Herren
Die bedrohlichen Gestalten aus Michael Endes Roman sind mittlerweile in unserer Welt angekommen — physisch wie leider auch geistig.
„Die grauen Herren“ — diese Schöpfungen des deutschen Fantasy-Autors Michael Ende sind mittlerweile zu bekannten Figuren der Kulturgeschichte avanciert. Nicht selten werden sie auch mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen in Verbindung gebracht. Allerdings werden sie oft auch zu oberflächlich interpretiert. Die grauen Herren sind mehr als nur eindrucksvolle Horrorfiguren, und es geht in „Momo“ nicht nur um das Einsparen von Zeit in einer viel zu schnelllebigen Epoche. Die Autorin versucht in ihrem Essay tiefer zu graben und spricht von einem fortschreitenden Seelenverlust, von emotionaler Kälte und Leere, von einem Grauwerden der uns umgebenden Welt. Sie spricht vom Angriff auf unseren Hippocampus und vom Schleier des Vergessens — von Michael Ende bis Dr. Michael Nehls.
Momo
Als kleine Erinnerung: Die grauen Herren, die eines Tages in der Welt von Momo, dem Geschichtenerzähler Gigi und dem Straßenkehrer Beppo auftauchen, sind von Kopf bis Fuß aschgrau angezogen und rauchen aschgraue Zigarren. Als glatzköpfige Agenten der „Zeitsparkasse“, deren Auftreten nicht in Erinnerung bleibt, wollen sie die Menschen dazu verleiten, immer mehr Zeit zu sparen, um diese angeblich für später sicher und verzinst aufzubewahren. In Wahrheit jedoch betrügen die grauen Herren die Menschen um ihre Zeit, die sie in ihren Zigarren „verrauchen“. Nur so können sie am Leben bleiben. Ihre eigene Lebensqualität jedoch verlieren die Menschen zeitgleich in dem Maße, wie sie versuchen, ihre Zeit zu sparen. Sie vergessen, was es bedeutet, im Hier und Jetzt zu leben, und können das Schöne im Leben nicht mehr genießen.
Die Kälte, die durch das Zeitsparen aufkommt, spürt Momo. Sie beginnt, den Menschen durch ihre besondere Gabe des Zuhörens die Augen zu öffnen und ihnen zu zeigen, wohin das Zeitsparen führt. Es dauert nicht lange, bis die grauen Herren von Momo erfahren und erkennen, welch Bedrohung sie für ihre eigene Existenz bedeutet. Es beginnt ein Wettlauf um die Zeit, das Leben und die Liebe.
Die grauen Herren heute
Seit der Veröffentlichung von Momo vor mehr als 50 Jahren hat sich viel geändert — und doch wieder nicht: Die Welt dreht sich immer schneller und der Mensch sich um sich selbst. Von Zeit, einem Verweilen im Moment oder Lebendigkeit keine Spur — oder zumindest eine immer leiser werdende Ahnung.
War diese Abkehr des Menschen von seiner eigenen Sinneshaftigkeit zwar schon lange sicht- und allem voran spürbar, werde zumindest ich das Gefühl nicht los, dass die vergangenen vier Jahre eine Art Brandbeschleuniger für die Ergrauung dieser Welt waren.
War es der „von oben“ hallende Gleichklang der immerwährenden Gehorsamkeit, die daraus folgende physische wie emotionale Trennung der Menschen untereinander und ihr Rückzug ins Metaverse? Oder doch die fundamentale Entscheidung, aus Gründen der „Solidarität“ die Kriterien dafür, was Gesundheit — und damit auch Freiheit — für einen selbst bedeutet, in die Hände vermeintlicher Experten zu legen, und damit außerhalb der eigenen Entscheidungsgewalt? Zeit und Raum, Innen und Außen, Ursache und Wirkung sowie Gefühl und Verstand wirken endgültig entkoppelt. Wo früher noch Leben stattfand, sehe ich von Tag zu Tag weniger Mensch und dafür mehr System.
Dieser Begriff „System“ mag für viele mit äußeren, übergeordneten Strukturen in Verbindung stehen. Bisher auch für mich. Mittlerweile jedoch assoziiere ich mit ihm mehr eine innere Zugehörigkeit. Eine Form von Durchdringung, eine Anhaftung von Morbidem. Die Frage lautet nicht mehr: Inwieweit ist dieser Mensch Teil des Systems? Sondern: Inwieweit ist dieses System Teil des Menschen?
Anders als beispielsweise zu Zeiten des Nationalsozialismus oder der DDR habe ich nicht den Eindruck, die Menschen unterlägen einem Regime, das sie zwar dulden, nicht aber selbst delegieren; das sie zwar unterdrückt, was sie aber mittragen, um selbst zu überleben. Nein. Der Eindruck, den ich habe, ist ein anderer.
Für mich fühlt es sich mittlerweile mehr so an, als wären die Menschen selbst das System. All das Zeitsparen, die Vermüllung, der Stress, die Unfreundlichkeit, die Entfremdung und Naturvergessenheit: Das ist nicht mehr Kapitalismus, das ist auch nicht mehr Neoliberalismus. Das ist Mensch.
War es im Dritten Reich noch der Faschismus, der die Menschen an die Grenzen ihrer Menschlichkeit trieb, sind es mittlerweile die Menschen selbst, die sich zur Unmenschlichkeit erziehen. Dabei wirkt nicht nur die Antwort auf die Frage ungreifbar, inwieweit sich der Mensch dieser wieder ent-ziehen könnte — die Frage selbst scheint für ihn nicht einmal mehr von Relevanz zu sein. Eine Frage des Willens, der Sensibilität, des Bewusstseins? Inwieweit ist es überhaupt noch möglich, herauszufinden, wem, was oder ob sich der Mensch zu entziehen habe, wenn mittlerweile nicht mehr der Mensch Teil des Systems, sondern das System Teil des Menschen ist? Wovor soll er fliehen? Vor sich selbst? Und wenn ja, wohin? Noch tiefer ins Unbewusste? In die Abspaltung und die Verdrängung durch noch mehr Konsumismus? Wie hört ein Mensch, der nichts anderes kennt als Abspaltung, damit auf, sich selbst abzuspalten?
Das ist die nächste Frage. Herauszufinden, inwieweit wir uns darüber bewusst sind, wo äußere Emigration aufhört und innere Emigration beginnt, und dass sich äußere und innere Freiheit nicht immer zwangsläufig bedingen. Denn zweifelsfrei ist: Obgleich wir uns physisch bereits außerhalb des Systems befinden können — die Entscheidung, seine Strukturen auch innerlich nicht mehr weitertragen zu wollen, ist davon weitestgehend losgelöst. Der Zugang nämlich liegt in unserem eigenen Unbewussten: in dem, worauf unser Bewusstsein noch keinen Zugriff hat und was wir aus dem Grund auch nicht als Unfreiheit wahrnehmen können, eben weil wir uns dieser Barrieren und toten Flecken in unserem eigenen Inneren noch nicht bewusst geworden sind. Um sie jedoch zu überwinden und ins „rechte Licht“ zu rücken, müssten wir erst lernen, unseren Verstand einmal beiseite zu lassen. Er hat uns schließlich erst dazu veranlasst, große Teile unserer eigenen Innerlichkeit mit neuen Bildern und Filmen zu überspielen.
Das einzige Problem? Unser Verstand ist mächtig, und wir verfügen über kein anderes Instrument. Denn selbst unser Gefühl ist mittlerweile Verstand. Dabei bräuchte es gerade unser Gefühl, um verstehen zu können, dass die Beweggründe hin zu einer inneren Emigration rational nicht zu verstehen sind. Kein Buch, keine Studie, kein Interview kann diese innere Emigration begründen, zumindest nicht im Alleingang. Sie unterliegt einer inneren Suchbewegung. Der tiefsten und innerlichsten Suchbewegung, die der Mensch vollziehen kann: der Suche nach sich selbst.
Was aber passiert, wenn sich der Mensch nicht nur in einem Kontext wiederfindet, in dem nichts Menschliches ihn mehr an seine Menschlichkeit erinnert, sondern obendrein ihn auch nichts mehr an sich selbst erinnert? Er vergisst dieses Selbst. Er vergisst sein Anrecht auf ein eigenes Innenleben. Und macht sein Außenleben stattdessen zu seinem Ich, zu seiner Persönlichkeit, zu seiner Maske.
Diese Maske ist dann innere wie äußere Struktur zugleich: Indem sie den Menschen vergessen lässt, wer er in Wirklichkeit ist, zieht sie einen Graben zwischen ihn und seiner zur Umwelt verkommenen Mitwelt. Dieser Graben besteht aus Verhaltensweisen, Glaubenssätzen, Indoktrination. Allem voran jedoch aus Angst. Angst davor, wie andere Menschen darauf reagieren könnten, wäre man auch nur ein bisschen mehr man selbst. Dabei ist die Angst davor, man selbst zu sein, nichts weiter als die Angst vor dem eigenen Selbst. Unserem Unbewussten, dem, was wir noch nicht integriert haben, das anzuschauen wir uns weigern. Wir ängstigen uns vor uns selbst, ohne zu wissen, was dieses Selbst überhaupt ist. Oder um an dieser Stelle nach Langem mal wieder Heidegger zu zitieren: *„Wovor die Angst sich ängstigt, ist das In-der-Welt-sein selbst.“
Fehlbesetzt
Für mich ist das Wesentliche der Maske: Ein Schleier umgibt sie. Ein Schleier des Vergessens. Nicht nur trennt sie uns von dem, was uns in unserem Innersten ausmacht, was uns zu Orientierung, Halt und Sicherheit — aus uns selbst heraus! — verhelfen könnte; sie lässt uns vielmehr vergessen, dass die Antwort auf all unser Suchen im Außen schlussendlich nirgendwo anders zu finden ist als in uns selbst. Je mehr die Maske unsere Persönlichkeit erstrahlen lässt, desto weiter verdunkelt sie unser Selbst. Und je größer die Schatten, die sich über unser Innerstes legen, desto mehr Morbidität erlauben wir, von uns Besitz zu ergreifen. Wir sind wie ein unbewohntes Haus, in das jeder eintreten kann, ohne dass wir auch nur den leisesten Versuch unternehmen, ihn daran zu hindern.
Es ist dieses Bild von Unbewohntsein, das ich mit dem der grauen Herren in Verbindung bringe. Wobei ich damit nicht dasselbe meine wie Sigmund Freud, der sagte, der Mensch sei vieles, aber nicht Herr in seinem eigenen Haus.
Was ich meine, ist die generelle Zunahme innerer Abwesenheit. Eine Abwesenheit, die über das Unbewusste ins Bewusste hinausreicht. Im Grunde eine andere Form der Selbst-losigkeit.
Eine Selbst-losigkeit, die die grundsätzliche Entscheidungsgewalt von Menschen infrage stellt. Hier ist es nicht mehr die Frage danach, wer oder was ihre Entscheidungen trifft, sondern ob sie überhaupt noch Entscheidungen treffen? Oder ob sie ihnen — oder den Kräften, die ihre Bahnen bereits im Vorwege geebnet haben — nicht vielmehr unterliegen? Inwieweit sind die Menschen bereits so sehr im Außen, dass sie gar nicht mehr anders können, als ihr Leben übergeordneten Bahnen und grundlegenden Dynamiken unterzuordnen?
Inwieweit hat jene Anhaftung von Morbidem ihr Sein bereits so stark eingefärbt, dass sich ihre gesamte Wahrnehmung und Entscheidungsgrundlage ausschließlich im Rahmen und auf Basis dieser Morbidität als Entscheidungskriterium bewegt? Und dass solche Menschen selbst dann keine Lebendigkeit mehr in diese Welt tragen könnten, wenn sie es wollten — eben weil ihr Verschriebensein diese bereits im Vorwege ausklammert, da sich das, was diese Menschen für sich und die Welt als „gut“ erachten, schon längst nicht mehr im Rahmen des eigentlich „Guten“ bewegt.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „Die Grauen Herren“ bei Treffpunkt im Unendlichen, dem Substack von Lilly Gebert.