Die Gift-Lügen

Der Fall Skripal vom März 2018 ist ein Paradebeispiel perfider Medien-Manipulation.

Der Fall Skripal ist eigentlich schon fast vergessen, obwohl die USA gerade erst vor wenigen Tagen den Fall erneut genutzt haben, um damit neue Russland-Sanktionen zu begründen. Aber gerade weil der Fall schon ein wenig in den Hintergrund gerückt ist, ist es interessant, sich die Dinge anzuschauen, die sich 2019 ereignet haben und über die in Deutschland nicht oder nur am Rande berichtet wurde.

Um den Fall zu verstehen, werde ich zunächst die Chronologie des Falles noch einmal aufrollen, und dann kommen wir auf die Neuigkeiten aus 2019.

Die Tat

Am 4. März 2018 gegen 13.40 Uhr erreichte Sergej Skripal zusammen mit seiner Tochter Julia das Einkaufszentrum Maltings, sie gingen kurz in den Pub The Mill, um danach von 14.20 Uhr bis 15.35 Uhr im italienischen Restaurant zu essen. Danach fühlten sie sich plötzlich schlecht und gingen an die Luft. Der Notarzt wurde um 16.15 Uhr gerufen und um 17.10 Uhr wurden die beiden bewusstlos ins Krankenhaus eingeliefert. Auch ein Polizist wurde stationär behandelt, aber noch im März wieder entlassen, während die Skripals noch im Koma lagen.

In den folgenden Tagen gab es wilde Spekulationen, was passiert sein könnte, und am 7. März gab die britische Seite bekannt, es handele sich um ein seltenes Nervengift, nannte jedoch zunächst keine Details. Am 12. März gab die britische Premierministerin Theresa May dann bekannt, es handele sich um das in der Sowjetunion entwickelte Nervengift Nowitschok.

Es gab in dieser Zeit verschiedene Spekulationen darüber, wo und wann die Skripals mit dem Gift in Kontakt gekommen sein sollten, und es wurden hunderte Menschen aufgefordert, die sich am 4. März in der Nähe aufgehalten hatten, ihre Kleidung gründlich zu waschen.

Erst am 28. März wurde bekannt gegeben, dass die höchste Konzentration des Giftes auf der Türklinke des Hauses von Skripal gefunden wurde. Demnach müssen beide Skripals beim Verlassen des Hauses die Türklinke berührt haben, sind dann aber noch über zwei Stunden nach dem Kontakt mit dem Nervengift völlig symptomfrei in einem Pub und einem Restaurant gewesen, bevor sie begannen, sich schlecht zu fühlen. Das ist seltsam, weil Nowitschok ein Gift ist, dass sofort wirkt, aber dazu kommen wir noch im Detail.

Britische Vorwürfe gegen Russland

Nachdem Premierministerin May am 12. März mitgeteilt hatte, dass es sich um das Nervengift Nowitschok handelte, beschuldigte sie auch sofort Russland der Tat und stellte Russland ein Ultimatum, sich bis Mitternacht „zu erklären“. Russland wies das Ultimatum zurück und erklärte, nichts mit dem Fall zu tun zu haben, und forderte Proben des Giftes an, um es untersuchen zu können. Russland hat die Briten in der Folge immer wieder aufgefordert, Proben zur Verfügung zu stellen und auch den Mitarbeitern der Botschaft Zugang zu den russischen Staatsbürgern Skripal zu geben, was diplomatischer Usus und in Abkommen geregelt ist.

Man stelle sich einmal vor, die Türkei würde beispielsweise deutschen Behörden den Zugang zu deutschen Staatsbürgern in einem türkischen Krankenhaus verwehren, so etwas ist unvorstellbar. Die Briten jedoch verweigerten den Zugang und verweigern ihn bis heute.

Für die westlichen Medien war sofort klar, dass die britische Position, das Mittel wäre aus sowjetischer Produktion, wahr ist.

Allerdings wissen wir heute, dass die Formel für Nowitschok seit 1992 bekannt ist, als ein russischer Überläufer sie an westliche Geheimdienste weitergab, und dass in der Folge viele Länder damit experimentiert haben, unter anderem auch Deutschland, England oder die Tschechei. Es kann also aus den Beständen sehr vieler Länder kommen. Trotzdem schlossen sich als erstes die USA dem Urteil der Briten an, und ihnen folgten die NATO und die EU mit ihren Mitgliedern.

Am 14. März wies Großbritannien dann als Reaktion 23 russische Diplomaten aus, worauf Russland drei Tage später ebenfalls mit der Ausweisung von 23 britischen Diplomaten reagierte.

Alleine am 14. März veröffentlichte der Spiegel zehn Artikel, die den Fall Skripal zum Thema hatten und die alle Russland mehr oder weniger offen als Schuldigen benannten. Aber gleichzeitig sprachen die westlichen Medien von einer „Kampagne“ in russischen Medien. Dabei erschienen im Westen um Längen mehr Berichte über den Fall als in Russland, wie das Beispiel von Spiegel-Online zeigt.

Wie gesagt, gab es zu diesem Zeitpunkt nur die Behauptungen der britischen Regierung, der sich andere westliche Regierungen anschlossen. Aber zu diesem Zeitpunkt hatten die Experten der UNO von OPWC noch gar keinen Zugang zu den Skripals oder zu Proben des Giftes. Es gab also keinerlei neutrale Bestätigung. Trotzdem war für die westliche Presse und Politik der Fall bereits klar.

Britische „Beweise“

Das nächste Ziel der Briten war es nun, auch andere Länder zur Ausweisung von russischen Diplomaten zu bewegen. Zu diesem Zweck wurden Pressebriefings abgehalten. In Moskau lud die britische Botschaft Journalisten ein und präsentierte die britische Sicht der Dinge in einer Präsentation, bestehend aus sechs Seiten inklusive Coverseite. Diese Präsentation würde in keiner zehnten Schulklasse zu einer genügenden Schulnote ausreichen, war aber für die Briten und ihre westlichen Kollegen anscheinend sehr überzeugend.

Diese Präsentation schauen wir uns nun komplett an, denn was da gezeigt wurde — und damit gingen die Briten in allen Ländern auf Tournee — ist so absurd, dass einem die Haare zu Berge stehen, wenn man versteht, dass westliche Politiker und Parlamentarier auf so einer Basis weitreichende Entscheidungen treffen.

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Auf der ersten Seite war also nichts weiter als eine sehr grobe Chronologie, wobei nur der erste Eintrag mit der Vergiftung zusammenhängt. Danach geht es um die britischen Reaktionen, das Ultimatum und Ähnliches. Bemerkenswert sind die letzten beiden Punkte, denn es stellt sich die Frage, warum das Team von OPWC erst zwei Wochen nach dem Vorfall anreiste, und im letzten Punkt werden die 23 ausgewiesenen russischen Diplomaten kurzerhand als „Geheimdienst-Offiziere“ bezeichnet, was natürlich negativer klingt als „Diplomaten“.

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Auf der zweiten Seite ging es unter der Überschrift „Eine neue Phase der russischen Aggression“ um Nowitschok selbst. Zunächst heißt es, dass Nowitschok vom britischen Labor identifiziert wurde, was sich als Lüge herausstellen wird, wie wir noch im Zusammenhang mit dem Tweet von Außenminister Boris Johnson sehen werden.

Im zweiten Punkt lernen wir, dass Nowitschok „nur“ von Russland entwickelt worden ist, was suggeriert, dass kein anderes Land dieses Gift besitzen kann. Dass es von Russland entwickelt wurde, stimmt auch nicht ganz, denn es war die Sowjetunion, aber den Briten ging es ja darum, ein negatives Russland-Bild zu zeichnen, da stören solche Details nur. Aber hier wird die wichtige Information weggelassen, dass dieses Gift nach 1992 auch von vielen westlichen Geheimdiensten — inklusive dem britischen — hergestellt worden ist, was der Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht bekannt war.

Dann wurde darauf hingewiesen, dass der Einsatz gegen das Verbot des Einsatzes von Chemiewaffen verstoße und dass es der erste Giftgaseinsatz seit dem Krieg in Europa war. Anschließend heißt es: „Wir haben keinen Zweifel, dass Russland verantwortlich ist. Kein Land außer Russland hat die Kombination von Fähigkeit, Absicht und Motiv. Es gibt keine andere plausible Erklärung.“ Und am Ende kommt noch ein Zitat von Premierministerin May, in dem sie es als „höchstwahrscheinlich“ bezeichnet, dass Russland verantwortlich ist.

Das Wort „höchstwahrscheinlich“, auf Englisch „highly likely“, wurde danach in Russland zu einem geflügelten Begriff, der sehr ironisch und sarkastisch in die Umgangssprache eingegangen ist. Der Grund ist, dass danach alle Vorwürfe gegen Russland „highly likely“ waren, egal ob angebliche Einmischungen in Wahlen, die angebliche Verschwörung mit Trump, Hackerattacken und so weiter. Alles, was Russland in der Folgezeit vorgeworfen wurde, wurde nie bewiesen, und so tauchte in allen westlichen Vorwürfen der Begriff „highly likely“ auf.

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Auf Seite drei gibt es ein paar Informationen über die Wirkungsweise von Nowitschok sowie Informationen über die Betroffenen und die Anzahl der in den Fall involvierten Personen. Jedoch findet sich keinerlei Erklärung, warum es vom Kontakt mit einem hochwirksamen militärischen Nervengift bis zu den ersten Symptomen über zwei Stunden gedauert hat.

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Auf Seite vier geht es schon nicht mehr um den Vorfall selbst, sondern um „die lange Spur der bösartigen russischen Aktivitäten“. Interessant wird es, wenn man sich diese „lange Spur“ einmal Punkt für Punkt ansieht.

Als erstes die Vergiftung von Alexander Litvinenko in England, wobei verschwiegen wird, dass es hier bis heute keine endgültige Aufklärung gibt. Vielmehr haben wir — genau wie beim Fall Skripal — nichts außer den Beschuldigungen der Briten.

Dann geht es um einen Hackerangriff aus dem Jahr 2007 auf das Internet im Baltikum, wo ebenfalls nicht klar ist, wer dahintersteckt.

Für August 2008 wird Russland die „Invasion Georgiens“ vorgeworfen. Dies wird Russland auch von den westlichen Medien bis heute immer wieder vorgehalten. Völlig ignoriert wird von den westlichen Medien der Untersuchungsbericht des Europarates. Dort wurde festgestellt, dass der Angriff von Georgien ausging, Georgien eine Nacht lang Wohngebiete mit Artillerie beschossen hat und erst am nächsten Tag russische Truppen auftauchten, die die Georgier zurückwarfen.

Um eine Wiederholung eines solchen Vorfalls zu vermeiden, haben russische Truppen danach für kurze Zeit Teile Georgiens besetzt, sich jedoch bald wieder komplett zurückgezogen. Diese vorübergehende Besetzung wurde als „unverhältnismäßig“ bezeichnet, Georgiens vorheriger Angriff jedoch als klarer Bruch des Völkerrechts. All dies waren, wie gesagt, Erkenntnisse des Europarates und keine russische Propaganda.

Trotzdem wird sowohl in den Medien als auch von der Politik bis heute behauptet, Russland wäre der Aggressor gewesen, und auch die Briten waren sich nicht zu schade, diese Lüge zu wiederholen, um eine Liste mit Russlands „bösartigen Aktivitäten“ zu fabrizieren.

Unter „Februar 2014“ wurde die Annexion der Krim und die Destabilisierung der Ukraine angeführt. Dass die Destabilisierung der Ukraine durch den vom Westen unterstützten Maidan stattfand und Russland damit nichts zu tun hatte, wird nicht erwähnt. Und dass es sich bei der Krim per Definition nicht um eine Annexion, sondern um eine Sezession handelt, wird genauso verschwiegen wie die Tatsache, dass es völkerrechtlich keineswegs eindeutig ist, ob hier eine Verletzung des Völkerrechts vorliegt. Mit all diesen Dingen habe ich mich sehr intensiv beschäftigt und ein Buch über die Ukraine-Krise 2014 geschrieben, das Kapitel über die Ereignisse auf der Krim habe ich hier als Leseprobe veröffentlicht.

Für den 17. Juli 2014 wird Russland beschuldigt, den Flug MH17 abgeschossen und 283 Menschen getötet zu haben. Auch hier wird verschwiegen, dass trotz anders lautender Medienberichte bis heute unklar ist, wer dafür verantwortlich ist.

Für 2015 bis 2016 wird Russland die berühmte Einmischung in die US-Wahlen vorgeworfen, auch hierzu sind nie Belege vorgelegt worden, es gab nur Anschuldigungen. Inzwischen wissen wir aus den Ergebnissen des Mueller-Reports, dass an der ganzen Geschichte nichts dran war. Auch für die anderen erwähnten angeblichen Hackerangriffe auf Dänemark und den Bundestag, wo beispielsweise der BND ganz klar sagte, dass es keine Hinweise in Richtung Russland gibt, gilt das Gleiche: Es sind unbewiesene Beschuldigungen in der britischen Präsentation.

Für 2016 werden noch die „Lisa Kampagne“ und ein Putschversuch in Montenegro angeführt, ebenfalls sehr zweifelhafte Anschuldigungen gegen Russland.

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Im letzten Slide geht es nur noch um die Maßnahmen, die Großbritannien nun treffen möchte.

In dieser Präsentation gab es also keine objektiven Fakten, die auf Russland zeigen. Stattdessen Aussagen der Premierministerin und eine Menge Lügen zu den „bösartigen Aktivitäten“ Russlands, von denen nichts übrigbleibt, wenn man sie analysiert.

Außerdem veröffentlichte das britische Außenministerium am 22. März einen Tweet, der behauptete, dass das britische Chemiewaffenlabor nun eindeutig nachgewiesen hätte, dass das verwendete Nervengift aus russischer Produktion stammte. Dieser Tweet wurde am 4. April wieder gelöscht, weil eben dieses Chemiewaffenlabor dem widersprochen und mitgeteilt hatte, dass die Herkunft des Giftes nicht geklärt werden konnte.

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Diese Blamage wurde im Spiegel mit folgender Überschrift heruntergespielt:

„Britisches Außenministerium soll Tweet über angeblichen Gift-Beweis gelöscht haben.“

Im Artikel konnte man lesen:

„Die russische Botschaft in London berichtete zudem, dass das britische Außenministerium einen Tweet vom 22. März inzwischen gelöscht habe. Darin hatte es geheißen, dass Analysen ergeben hätten, das tödliche Gift Nowitschok sei in Russland hergestellt worden. ‚Warum könnte das Außenministerium den Tweet vom 22. März gelöscht haben?‘, fragte die Botschaft auf Twitter.“

Die klar nachweisbare Tatsache, dass dieser Tweet gelöscht wurde, stellte der Spiegel so dar, als wäre dies lediglich eine Behauptung der russischen Botschaft in London.

Die weiteren Entwicklungen

Julia Skripal konnte das Krankenhaus am 10. April verlassen, ihr Vater am 18. Mai. Seitdem sind beide verschwunden. Sie werden laut den Briten „an einem sicheren Ort“ versteckt. Von Julia Skripal gab es lediglich eine Erklärung, die im Mai von der Nachrichtenagentur Reuters veröffentlicht wurde, in der sie mitteilte, es gehe ihr gut und sie wolle keinen Kontakt zu den russischen Behörden haben. Die russische Botschaft fordert aber ein Gespräch mit den Skripals, um sicherzugehen, dass sie nicht gegen ihren Willen festgehalten werden.

Am 12. April veröffentlichte die OPWC eine gekürzte Version ihres Berichts, der nicht viel Verwertbares enthielt. Die entscheidenden Details wurden als geheim eingestuft und sind nur den Mitgliedsländern der OPWC zugänglich. Grundsätzlich bestätigte die OPWC, dass es sich bei dem Gift um Nowitschok gehandelt habe. Zwei Tage später meldete das russische Außenministerium jedoch Zweifel an und berief sich auf die Details im geheimen Teil des Berichtes. Dort war demnach zu lesen, dass das untersuchende Labor in der Schweiz Spuren des Kampfstoffes BZ gefunden haben. Dieser Wirkstoff passe auch besser zu den bei den Skripals beschriebenen Symptomen und dem Verlauf der gesundheitlichen Folgen.

BZ wirkt mit Verzögerung nach mindestens einer Stunde, was zu dem Verlauf im Falle der Skripals passt. Die bisher zwei beschriebenen Vorfälle mit Nowitschok zeigen einen anderen Verlauf. 1987 war bei einem Unfall ein Chemiker in einem sowjetischen Labor mit Nowitschok in Kontakt gekommen und die Symptome setzten sofort ein, gleiches galt für einen russischen Banker, auf den 1995 ein Mordanschlag mit Nowitschok verübt wurde.

Die OPWC erklärte am 18. April, dass BZ als Kontrollprobe verwendet worden sei, um die Qualität der Arbeit des Labors zu prüfen, und dass BZ nichts mit den Skripals zu tun habe. Die Russen gaben sich damit nicht zufrieden und forderten erneut, selbst Proben von dem bei den Skripals verwendeten Stoff für eigene Untersuchungen zu bekommen, was Großbritannien ablehnte.

Die OPWC konnte jedoch keinerlei Hinweise auf die Herkunft des Giftes finden. Vor dem Hintergrund, dass sowohl der BND zugeben musste, schon in den 1990er Jahren Nowitschok besessen zu haben, als auch die Tschechei zugab, Nowitschok 2017 selbst hergestellt zu haben, kann man davon ausgehen, dass auch andere Dienste und Länder über das Gift verfügten. Daher ist die Tatsache, dass die Sowjetunion den Stoff seinerzeit entwickelt hat, zu wenig für eine Anschuldigung gegen Russland. Es wäre wichtig gewesen, wenn die OPWC hätte feststellen können, aus welchem Labor der verwendete Stoff stammt. So aber ist völlig unklar, wer hinter dem Anschlag steckt.

Russland stand zum Zeitpunkt des Anschlages in den letzten Wochen des Präsidentschaftswahlkampfes und Putin führte klar. Negative Nachrichten konnte er nicht brauchen, denn sein Sieg war sicher und er hatte mehr zu verlieren als zu gewinnen. Außerdem bereitete sich Russland auf die Fußball-WM vor, die Russland als wichtige Möglichkeit ansah, sein Image, das in den westlichen Medien regelmäßig schlecht gemacht wird, aufzupolieren und den Fußballfans und Fernsehzuschauern zu zeigen, dass Russland anders ist, als es die westlichen Medien darstellen. Auch in diesem Zusammenhang kam der Fall Skripal aus Russlands Sicht zur Unzeit. Hätte Russland ihn tatsächlich töten wollen, hätte es dafür wahrscheinlich einen anderen Zeitpunkt gewählt.

Anfang September 2018 präsentierte die britische Premierministerin im Parlament zwei Verdächtige, die nun mit internationalem Haftbefehl gesucht werden. Jedoch gab es auch diesmal keine Beweise, die man tatsächlich vor Gericht verwenden könnte. Es wurden lediglich Fotos von Überwachungskameras präsentiert, die belegen sollen, dass diese beiden Russen zum Tatzeitpunkt in Salisbury waren. Jedoch werfen auch die Fotos Fragen auf.

Die Beschuldigten sollen am helllichten Tag gegen 11 Uhr morgens, ganz ohne Schutzanzüge, das Gift, welches schon in kleinsten Mengen tödlich ist, aus einer Parfumflasche auf den Türgriff der Skripals gesprüht haben, an der frischen Luft, möglicherweise bei Wind. Auch in ihrem angeblichen Hotelzimmer wurden angeblich Spuren von Nowitschok gefunden. Trotzdem ist offensichtlich keiner der Männer erkrankt, denn sie flogen anschließend seelenruhig zurück nach Moskau und gaben später, als die britischen Vorwürfe bekannt wurden, quicklebendig Interviews, in denen sie die Vorwürfe abstritten.

Soweit die Chronologie der damaligen Ereignisse, nun zu den Entwicklungen des Jahres 2019.

Im Januar wurde bekannt, dass entgegen der offiziellen Version nicht ein Polizist die Skripals gefunden hat, sondern Abigail McCourt. Sie ist die Tochter von Colonel McCourt, die Krankenschwester der britischen Armee ist und sich ebenfalls am Tatort befand. Dabei sind weder die ältere noch die jüngere McCourt durch die auf die Skripals angewandte Substanz krank geworden. Bemerkenswert dabei: Colonel McCourt ist eine speziell für Giftgaseinsätze ausgebildete Krankenschwester der britischen Armee, die demnach zufällig mit ihrer Tochter vor Ort war, was die Briten aber vorher verschwiegen hatten.

Wie immer bei solchen Fällen spielt die „Enthüllungsplattform“ Bellingcat eine Schlüsselrolle. Sie ist es, die viele angebliche Erkenntnisse veröffentlicht hat. Im März gab es dazu einen Artikel im Spiegel, der mit den nötigen Vorkenntnissen viel Erhellendes beitrug. Der Spiegel berichtete nämlich über den Schlüsselpartner von Bellingcat im Fall Skripal, die russische Plattform „The Insider“. Und dabei verriet der Spiegel — wahrscheinlich ungewollt —, dass nicht nur Bellingcat von NATO-nahen Organisationen finanziert wird, sondern auch „The Insider“ monatlich 10.000 Dollar aus dem Westen erhält. So viel zu den „unabhängigen“ Plattformen.

2019 gab es auch Neuigkeiten von der Familie Skripal. Seine in Russland lebende Nichte hat berichtet, dass Julia Skripal über Mittelsleute ihre Moskauer Wohnung verkauft und dass die Skripals aus England einige Male angerufen hätten, es ginge ihnen recht gut und sie seien an einem geheimen Ort.

Ich finde die Nichte nicht sehr glaubwürdig, denn sie sucht die Öffentlichkeit und hat gerade auch ein Buch über die Geschichte veröffentlicht. Aber ein Anruf fand statt, als niemand zu Hause war, und er ist vom Anrufbeantworter aufgezeichnet und in den russischen Medien veröffentlicht worden. Die Stimme dort soll tatsächlich Sergej Skripal gehören, also ist es möglich, dass die Nichte die Wahrheit sagt.

Was ich nicht erwähnt habe, sind die Obdachlosen, die Monate nach der Vergiftung der Skripals angeblich eine Parfumflasche mit Nowitschok gefunden und sich damit eingesprüht haben sollen, wobei ein Mensch gestorben ist.

Die Geschichte ist zu abstrus, um sie ernst zu nehmen. Das hat einen einfachen Grund: Angeblich haben die russischen Verdächtigen, die London der Tat beschuldigt, die Flasche nach der Tat achtlos in einen Mülleimer geworfen, wo sie Monate später von Obdachlosen gefunden wurde. Sorry, aber selbst in England werden Mülleimer öfter als alle paar Monate geleert.

Selbst wenn Londons Anschuldigungen gegen die Männer wahr sein sollten, wäre die Flasche längst in einer Mülldeponie verschwunden.

Was es mit diesem Aspekt der Geschichte auf sich hat, erschließt sich mir nicht, aber die Geschichte kann so, wie London sie erzählt, nicht stimmen.

Cui bono?

Aber hatte Russland einen Grund, den ehemaligen Doppelagenten zu töten? 2004 wurde der damalige russische Geheimdienstoffizier Skripal wegen Spionage für den MI6 festgenommen und 2006 verurteilt. 2010 wurde er begnadigt und gegen andere Agenten ausgetauscht. Seitdem lebte er in England. Wenn er noch wichtige Staatsgeheimnisse der Russen gekannt hätte, die er noch nicht verraten hatte, hätte Russland ihn nicht ausgetauscht. Hätte Russland ihn bestrafen oder ein Exempel statuieren wollen, hätte man dies schon ab 2004 bis 2010 machen können. Aus russischer Sicht ist kein Motiv erkennbar, einen ehemaligen Doppelagenten 14 Jahre nach seiner Festnahme und acht Jahre nach seinem Austausch zu töten. Russland hatte nichts zu gewinnen.

Aber wer könnte ein Motiv gehabt haben? Wenn man das Ergebnis sieht, nämlich eine im Westen erfolgreiche anti-russische Medienkampagne, die weitere Vorwände für Sanktionen geliefert und Russland in ein schlechtes Licht gerückt hat, dann war Skripal vielleicht nur ein „zufälliges“ Opfer. Es hätte auch jeden anderen treffen können, um eine solche Kampagne loszutreten.

Und wenn man sieht, dass die westlichen Politiker und Medien es mit der Wahrheit nicht allzu genau nehmen, wenn man Russland diskreditieren will, dann könnte dies ein Motiv sein. Ich erinnere nur an die Präsentation der Briten und an die auf Seite vier genannten „bösartigen russischen Aktivitäten“, die samt und sonders erlogen waren. Nun wurde eben eine weitere „bösartige russische Aktivität“ hinzugefügt.

Natürlich gibt es inzwischen auch andere Theorien über geheimes Wissen von Skripal oder über Absichten, nach Russland zurückzukehren und noch viele mehr. Das sind nette Theorien und es ist spannend, sie zu lesen. Aber belastbare Belege gibt es für keine dieser Versionen, auch wenn es teilweise interessante Indizienketten gibt.

Aber unabhängig von diesen Theorien und möglichen Versionen bleibt die einfache Frage: Wer hatte ein Interesse daran und wer hat davon profitiert?

Ein Interesse Russlands ist aus den genannten Gründen nicht zu erkennen. Wenn Skripal wichtiges Wissen gehabt hätte, hätte Russland ihn nicht ausgetauscht. Und einen Vorteil hatte Russland von dem Fall Skripal, der nur neue Sanktionen und eine weltweite anti-russische Medienkampagne gebracht hat, erst recht nicht.