Die gespielte Naivität
Eine großflächige Infantilisierung hält in der Gesellschaft Einzug und verdrängt die Fähigkeit zum kritischen Denken — die daraus entstehenden Folgen sind dramatisch.
„Kindermund tut Wahrheit kund“, sagt der Volksmund, und schon in der Bibel riet Jesus den Gläubigen, „wie die Kinder“ zu werden. Die Eigenschaften von Kindern ― Ehrlichkeit, Unbedarftheit und andere ― sind oft idealisiert und Erwachsenen als Kontrastprogramm vorgehalten worden. Die Wesensart von Kindern erweckt in Älteren wohl eine Art Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies. Dieser Effekt wird in jüngster Zeit von den Medien eifrig genutzt, indem etablierte Politiker etwa auf sorgfältig dressierte Kinder-Interviewer mit hohem Niedlichkeitsfaktor reagieren müssen. Bedienen sich Regierungsmitglieder eines Tonfalls der Art „Wie erklär ich‘s meinem Kind?“, so werden auch die großenteils erwachsenen Zuschauer dabei mitgenommen. Schwierig wird es, wenn sich diese Erwachsenen in einer infantilen Scheinwelt aus Smileys, Tierpüppchen, Piepstönen und Stammelsprache verlieren und dabei ihren in höheren Altersstufen erlernten kritischen Verstand aufgeben. Politiker nutzen die Sehnsucht ihrer Wähler, sich „wie die Kinder“ zu fühlen, nur allzu gern aus, um sie paternalistisch zu belehren und zu gängeln. Dass machthungrige Potentaten das gern tun, ist menschlich verständlich; schwerer zu verstehen ist jedoch, dass sehr viele Bürger auf dieses falsche Spiel eingehen und in ihre Regression zu unmündigen Befehlsempfängern einwilligen.
„Was sind eigentlich diese Tierpanzer, die vorher niemand kannte?“
― Annalena Baerbock, in ihrer Antwort auf Anfrage des Parlaments am 27. April 2022
In einer aktuellen Unterhaltungs-Fernsehshow sind Kinder als Lehrer aufgestellt, um die dazu eingeladenen Promi-Gäste als Schüler zu belehren. Es werden die typischen Muster des Schulbetriebes abgebildet, nämlich die Vorführung der Unwissenden, die mit subtiler Demütigung einhergeht. In der Show wird viel mit dem Nichtwissen der Teilnehmer kokettiert, und dabei erscheinen diese immer besonders sympathisch, weil sie ja so bescheiden sind. Alle können offen über ihre Unvollkommenheiten oder ihre Irrtümer lachen, während sie gleichzeitig sichtlich bemüht sind, ihre Show-Rolle zu bewahren ― so menschlich, so lieb und so uneitel. Das geheime Motto der Show ist wahrscheinlich: „Wir wissen, das wir nichts wissen, das hat doch der berühmte Philosoph gesagt.“ Tja, aber hat der Philosoph damit auch gemeint, man solle dabei bleiben? Egal, mit der Aussage liegt man heute immer richtig: „Wir wissen es nicht!“
„Gebt den Kindern das Kommando
Sie berechnen nicht, was sie tun
Die Welt gehört in Kinderhände
Dem Trübsinn ein Ende
Wir werden in Grund und Boden gelacht
Kinder an die Macht.“
― Herbert Grönemeyer, Kinder an die Macht, 1986
Die Zurschaustellung von kindlicher Naivität scheint in der Unterhaltungsbranche das höchste Ideal zu sein. In TV-Programmen und in Filmen sind Kinder und kindlich naive Figuren immer besonders beliebte Protagonisten, denn das suggeriert unterschwellig, dass die Gesellschaft kinderfreundlich wäre. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus.
Man gibt sich gerne den Anschein, um vom vorhandenen Defizit abzulenken. Manchmal demaskiert sich dieses sogar selbst; etwa bei Szenen, in denen Kinder-Reporter Erwachsene befragen, jedoch über einen Knopf im Ohr die Fragen von einem anderen Erwachsenen erhalten.
Die Kinder sind, genauso wie die erwachsenen Protagonisten in den Unterhaltungsprogrammen, nur dressierte Äffchen, die zur Belustigung vorgeführt werden.
Das künstliche Umfeld, die Bühne, die Kamera und das Publikum stellen bei den Teilnehmern natürlich viele Irritationen her. Die Verlegenheiten der Beteiligten sowie die ständig gepushte Aufregung erzeugen die Spannung. Das ganze Spektakel wirkt heiter und amüsant. Aber die vorgebliche Spontanität ist zumeist Inszenierung und Scripted Reality.
„Das Ganze ist das Unwahre.“
― Theodor W. Adorno
Auch Komödianten verwenden gerne das Stilmittel der offensiven Naivität: „Wat is‘n Dampfmaschin‘? Da stellen wir uns mal janz dumm.“ (aus dem Film „Die Feuerzangenbowle“, 1944). Mit dem „Dummstellen“, kann eine zuvor angenommene Realität hinterfragt werden, und bestenfalls entsteht dabei kurzfristig die Bereitschaft, eine andere Perspektive anzunehmen. Ein solches Vorgehen kann also manchmal neue Erkenntnisse ermöglichen, doch darum geht es selten. Die vorgestellten fiktiven Welten sind meist dazu gedacht, Vorurteile, Klischees oder standardisierte Denkmodelle weiter zu perpetuieren und so zu festigen. Und wenn es in der Sendung um einen weit verbreiteten Irrtum geht, kommt an Ende des Kapitels ein „Experte“, der uns erklärt, wie es eigentlich wirklich ist. Dann haben wir wieder was gelernt.
Der Appell der Programmgestalter an die Zuschauer ist ziemlich simpel; Nimm die naive und kindliche Perspektive ein, um Spaß zu haben! Fiebere mit den Kandidaten in den Spielsituationen mit, und fühle die überzogen dargestellten Emotionen der Protagonisten.
Es ist ein Wettbewerb im Grimassenschneiden. Auf der Bühne der Show sieht man übergroße und prächtige Puppenkostüme, in denen Prominente stecken, und die Teilnehmer des Spektakels teleportieren sich geistig zurück in ihre Kindheitstage. Die Augsburger Puppenkiste lässt grüßen. Die Gäste in der Show erleben dabei scheinbar wundervolle Vergnügungen — für die Betrachter am Schirm reicht es, wenn sie es zuschauend miterleben. In den Schlüsselszenen der Show müssen Überraschung, Freude, Spannung et cetera möglichst aufregend und plakativ zum Ausdruck kommen. Das Publikum im Studio rastet auf unsichtbare Anweisung völlig aus. Es ist schon erstaunlich, wie die Werbe-Trailer dieser Sendungen das zugrundeliegende Konzept mit wenigen kurzen Ausschnitten vollkommen offenbaren.
In der Bibel steht: „Werdet wie die Kinder“ ― da steht nicht: „Verhaltet euch kindisch!“
Welche Eigenschaften von Kindern in welchem Zusammenhang zum Vorbild genommen werden sollten, ist sicher ein paar weitere Überlegungen und Betrachtungen wert. Doch das ist im Moment nicht unser Thema.
Das Bekenntnis zum Unwissen
Ähnliche Muster finden sich auch bei den sogenannten Talkshows, in denen häufig komplexe Zusammenhänge auf stark vereinfachte Fragen reduziert werden. Daraus ergibt sich dann eine ebenso platte wie falsche Kontroverse. Die geladenen Gäste sind meist die Vertreter der einfachen und parolenartigen Antworten. Kurze Einspieler-Beiträge sollen den Kontext des Themas auf die Schnelle umreißen, und dabei werden schon die vorgeblich wichtigen und zentralen Fakten festgelegt. Die Meinung, die dem allgemeinen Narrativ entspricht, ist in diesen Gesprächsrunden immer in der Mehrheit, und die abweichende Meinung ist stets in der Einzahl oder Minderheit. Die Aufstellung entspricht in etwa dem Konformitätsexperiment von Asch, und die Bevormundung nimmt ihren Lauf.
Der Gast mit der Ketzermeinung wird meist einem unfairen Kreuzverhör unterzogen, dabei wird er oder sie häufig unterbrochen und kommt so kaum dazu, einen Punkt auszuführen. Und „Ja, aber das ist ein anderes Thema, dafür haben wir jetzt nicht die Zeit!“ ist vermutlich das häufigste Totschlagargument, um unliebsamen Kontext auszublenden. Im Notfall werden alle Widersprüche und die aufgeplatzten kognitiven Dissonanzen mit allgemeinen Relativierungen besänftigt. Im Konsens der Moderatoren heißt es dann am Ende wieder einmal: „Wir wissen es nicht.“
Die Welt wird vermeintlich komplexer, und deshalb scheint auch die Kluft zwischen dem Expertenwissen und dem Allgemeinwissen zu wachsen. Die Lücke zwischen den Kundigen und den Unkundigen wird teilweise von Buchautoren und engagierten Journalisten überbrückt, die sich auf das Herunterbrechen von Fachwissen sowie auf das Aufarbeiten von Hintergründen und Zusammenhängen spezialisiert haben.
Doch es gibt noch echte Journalisten und Aufklärer. Allerdings kann die populärwissenschaftliche Aufbereitung von neuen Erkenntnissen aus Forschung und Technik auch eine Akzeptanz für fragwürdige Entwicklungen herstellen. Kritische Auseinandersetzungen zu möglichen Gefahren von neuen Anwendungen, etwa im Bereich der Informationstechnologie, gelten schnell als fortschrittsfeindlich. Im Mainstream wird seit Jahren ein sehr niedriges geistiges Niveau der Zuschauer angenommen. Daraus resultiert eine starke Vereinfachung der vorgestellten Inhalte. Die Absender betreiben eine zielgruppengerechte Ansprache ― so weit die Theorie, und die hat sich in der Anwendung wie eine selbsterfüllende Prophezeiung bewährt. Und, wegen „der Quote“ hat niemand im Mainstream die Absicht, das Niveau anzuheben.
„Liebes Publikum, bist du wirklich so dumm? (...)“ weiterlesen
― Kurt Tucholsky, als Theobald Tiger in Die Weltbühne, 07. Juli 1931
Deshalb sprechen die Repräsentanten des Staates sowie einige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, wenn sie denn mal Bürger direkt adressieren, mit diesen so, als wenn sie mit kleinen Kindern sprechen. Sie verwenden dabei markige Sprüche à la „Wir müssen uns jetzt alle unterhaken“, sie bemühen naive Gleichnisse und verschrobene Bilder, oder sie führen auch gerne mal ganz persönliche Befindlichkeiten als Ersatzargumente an. Das Phänomen wird neuerdings Postpolitik genannt. In den Medien werden die Unbeholfenheiten der Politdarsteller liebevoll als Menschlichkeit gedeutet. Scheinbar emotionale Momente der Darsteller werden zu Ereignissen hochstilisiert.
Wird die Hilflosigkeit der Akteure von allzu vielen Stimmen in der Öffentlichkeit kritisch gesehen, steht die Journaille auf und appelliert an das Mitgefühl der Zuschauer, diese kindlichen Antihelden zu adoptieren. Und wie beim Stockholm-Syndrom entwickeln die Entführten eine Hörigkeit gegenüber ihren Peinigern, die einer unreifen Liebesbeziehung gleicht. Die verunsicherten Bürger fügen sich brav in die Situation, geben sich dabei kindlich und naiv ― sie flüchten sich in die vermeintliche Unschuld ihrer heiligen Unwissenheit.
„Siehe da! Die Menschen sind die Werkzeuge ihrer Werkzeuge geworden.“
― Henry David Thoreau
Irgendwann färbt die häufig gespielte Rolle auf den Schauspieler ab. Genauso mündet das gewohnheitsmäßige „Dummstellen“ sowie die offensive Naivität darin, dass die Rolle am Ende zur Identität wird: Funfact Das ist in etwa so wie die Witze, die deshalb so lustig sind, weil sie auch wahr sind! Und wenn ein dummer Mensch sich „dumm stellt“, weil er meint, er könne damit als gewitzt gelten, dann ist das ein Irrtum. In Wahrheit ist es nämlich keine Verstellung, der Dumme ist in diesem Fall authentisch.
Wenn die „Experten“ im Fernsehen in ihren weißen Kitteln die unumstößlichen Weisheiten der angeblichen „Mehrheit aus Wissenschaft und Forschung“ mitteilen, dann sind wir für einen kurzen Moment geläutert, belehrt und vielleicht auch bekehrt. Schön, dass die Wissenschaft demokratisch geworden ist, denn die Mehrheit hat ja meistens recht.
„Zutrauen veredelt den Menschen, ewige Vormundschaft hemmt sein Reifen.“
― Johann Gottfried Frey