Die Gespensterdebatte

Gedanken zum 200. Geburtstag von Karl Marx.

Am 5. Mai jährt sich der Geburtstag von Karl Marx zum 200. Mal. In diesem Zusammenhang wird er immer wieder – vor allem aus antikommunistischer Ecke – als Gründer einer an sich ganz guten Idee der Gleichheit der Menschen missverstanden.

Ein deutliches Beispiel für die voreingenommene Rezeption der Arbeiten von Karl Marx durch die Meinungsmacher in unserer Gesellschaft ist ein Text der Bundeszentrale für politische Bildung, in dem es heißt (1):

„Für Marx und Engels war die Religion ‚das Opium des Volks‘. Und doch scheuten sie sich nicht, ihre Anhänger durch große wohlklingende Worte zu berauschen. Auch dadurch, dass sie dem Menschen unterschwellig den Rang eines Gottes zuerkannten. Eines Gottes, der in aller Freiheit eine neue Welt schaffen kann – und zwar eine gute, sittliche. Marx und Engels waren Propheten. Sie versprachen Erlösung – in einer neuen, besseren Welt mit wahren Menschen.“

Die Mär vom Kapitalismus als die Gesellschaftsordnung, die zum Menschen passt

Um den 5. Mai herum wird man vermutlich wieder vermehrt hören, dass Paradies-Vorstellungen jeder Ideologie zum Totalitarismus und zur Gewalt entarten, die beste Idee sei also Realpolitik ohne solche Visionen.

Leider, hört man in diesem Zusammenhang dann oft, seien Marx‘ Vorstellungen zwar an sich gute Ideen; der Mensch sei aber für deren Umsetzung deshalb ungeeignet, weil er ein Egoist, ein Wolf sei, dem das eigene Hemd immer näher ist als die Nächstenliebe. Also sei der Kapitalismus die realpolitisch dem menschlichen Wesen am ehesten entsprechende Gesellschaftsordnung.

Die FAZ fasst diese immer wieder zu vernehmende Position beispielsweise in die Worte (2):

„Laut Philosoph Hobbes ist der Mensch dem Menschen ein Wolf (...), Auswüchse des Gewinnstrebens, wie sie sich in der Siemens-Korruptionsaffäre gerade wieder andeuten, wird es immer geben. Sie sind der Preis für eine freie Gesellschaft, die den Menschen nimmt, wie er ist.“

Das typische Propaganda-Bild von Marx und Engels, für die von ihnen angestrebte gerechtere Welt sei der Mensch nicht geschaffen, beinhaltet die These, die beiden seien realitätsferne Träumer gewesen, und die Verwirklichung ihrer ethisch klingenden Vision sei entsprechend zum Scheitern verurteilt.

Jedoch ist es mitnichten so, dass Karl Marx und Friedrich Engels sich alleine deshalb für den Kommunismus einsetzten, weil sie ihn als gerechter und insofern menschlicher ansahen.

Marxistische Aussagen zur Entwicklungslogik von Gesellschaft

Wir haben von Marx das Grundgesetz der Geschichte lernen dürfen:

„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, (...) von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktionsverhältnisse entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen.
Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb derer sie sich bisher bewegt hatten. (...) Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um“
(3).

„Alle bisherige Gesellschaft beruhte, wie wir gesehen haben, auf dem Gegensatz unterdrückender und unterdrückter Klassen. Um aber eine Klasse unterdrücken zu können, müssen ihre Bedingungen gesichert sein, innerhalb derer sie wenigstens ihre knechtische Existenz fristen kann. (...) Der moderne Arbeiter dagegen, statt sich mit dem Fortschritt der Industrie zu heben, sinkt immer tiefer (...) herab. (...) Es tritt hiermit offen hervor, dass die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben und die Lebensbedingungen ihrer Klasse der Gesellschaft als regelndes Gesetz aufzuzwingen. Sie ist unfähig zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernähren muss, statt von ihm ernährt zu werden. Die Gesellschaft kann nicht mehr unter ihr leben, d.h., ihr Leben ist nicht mehr verträglich mit der Gesellschaft“ (4).

Die Notwendigkeit der Überwindung des Kapitalismus

Die beiden zitierten Marx-Texte zeigen einen Zusammenhang auf, der der antikommunistischen Arroganz gegen den Marxismus bereits im Ansatz jegliche Validität nimmt. Denn hier wird eine Überwindung des Kapitalismus nicht ideologisch begründet im Versuch, eine Vision mit Leben zu füllen, sondern als Erfordernis der Geschichte auf einem bestimmten Stand der Produktivkraftentwicklung. Hintergrund ist die Geschichte selbst.

Von der Zeit der Jäger und Sammler zur Epoche der Digitalisierung

Die Menschen waren die längste Zeit – mindestens Jahrhunderttausende – Jäger und Sammler. Sie hatten in dieser Phase verschiedene Sprünge in der Werkzeugentwicklung vollbracht, dazu zählen zunächst rein mündliche Kommunikations-Systeme der Sprachentwicklung, die immer differenzierter wurde, dazu zählt die Kontrolle über das Feuer, Pfeil und Bogen, der Faustkeil, die Lanze...

Ein qualitativer Sprung war der Pflug: Er zog eine Vervielfachung der Produktivität des Einzelnen nach sich. Er bedeutete, die ehemaligen Sammler mussten nun als Land bewirtende frühe Bauern in der Nähe der Felder bleiben, die sie mit dem Pflug bestellt hatten. Die Sesshaftwerdung kam. Mit ihr kamen Mauern und Gehege, innerhalb derer man Besiegte für sich arbeiten lassen konnte. Bei Revierkämpfen wurden Besiegte nicht mehr nur als Gefahr und Hindernis betrachtet, sie durften weiterleben, aber eben als Sklaven.

Nach dem Pflug war die Dampfmaschine der nächste vergleichbare Einschnitt: War im Mittelalter des Feudaladels das agrarisch bewirtschaftete Dorf Herz und Basis der Gesellschaft, so wurde nun die Massenproduktion in der Industrie dadurch möglich, dass nun systematisch und weltweit Maschinen die Muskelkraft übernahmen. Der Maschinensturm etwa während der Weberaufstände reagierte darauf, denn die unterdrückten Klassen sahen ihre Existenzgrundlage dahinschmelzen.

Das Ende der Leibeigenschaft, das zweieinhalb Jahrhunderte davor schon die revolutionären Bauern in den Bauernkriegen forderten, wurde nun zum Erfordernis. Die französische Revolution in der Vereinigung des dritten Standes mit dem aufkommenden Bürgertum musste siegen. Danach kamen die Elektrifizierung, die Atomkraft, der globalisierte Markt, die Industrialisierung der Kriege ... Heute haben wir mit der Digitalisierung die Stelle erreicht, an der geistige Fähigkeiten an Maschinen übergehen. Dazu Marx:

„In unsern Tagen scheint jedes Ding mit seinem Gegenteil schwanger zu gehen. Wir sehen, dass die Maschinerie, die mit der wundervollen Kraft begabt ist, die menschliche Arbeit zu verringern und fruchtbarer zu machen, sie verkümmern lässt und bis zu Erschöpfung auszehrt. Die neuen Quellen des Reichtums verwandeln sich durch einen seltsamen Zauberbann zu Quellen der Not. Die Siege der Wissenschaft scheinen erkauft durch Verlust an Charakter.
In dem Maße, wie die Menschheit die Natur bezwingt, scheint der Mensch durch andre Menschen oder durch seine eigene Niedertracht unterjocht zu werden. (...) All unser Erfinden und unser ganzer Fortschritt scheinen darauf hinauszulaufen, dass sie materielle Kräfte mit geistigem Leben ausstatten und das menschliche Leben zu einer materiellen Kraft verdummen. Dieser Antagonismus zwischen moderner Industrie und Wissenschaft auf der einen Seite und modernem Elend und Verfall auf der andern Seite, dieser Antagonismus zwischen den Produktivkräften und den gesellschaftlichen Beziehungen unserer Epoche ist eine ... unbestreitbare Tatsache. Einige Parteien mögen darüber wehklagen. (...) Oder sie mögen sich einbilden, dass ein so bemerkenswerter Fortschritt in der Industrie eines ebenso bemerkenswerten Rückschrittes in der Politik zu seiner Vervollständigung bedarf. Wir für unsern Teil verkennen nicht die Gestalt des arglistigen Geistes, der sich fortwährend in all diesen Widersprüchen offenbart“
(5).

Revolution als Zukunftsgestaltung oder als Katastrophe

In der Tat sehen die vielen Besitzer der Ware Arbeitskraft, die ihre Existenz als von Lohn Abhängige zu sichern versuchen, um existieren zu können, ihre Existenzbedingungen hinwegschmelzen. Das ist die Stunde der Angst-Ausbeuter, die im Rahmen des Kapitalismus mit Sündenbock-Theorien Zulauf gewinnen und das gesellschaftliche Klima nach rechts drängen. Sie werden so lange Erfolg haben, wie die Menschheit sich nicht die Fragen nach den weltweit virulenten Ursachen für die Entwicklungen in der gegenwärtigen Epoche der Geschichte stellt, sondern stattdessen Sündenbock-Theorien verfällt.

Personalisierungen lenken ab von Strukturen und Zusammenhängen der Herausforderungen, die sich aus dem Aufstieg der mann-armen und vollautomatischen Produktion ergeben. Sie stellt das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital genauso konkret infrage, wie die Dampfmaschine einst das Verhältnis von Leibeigenen und Baronen/Vogten/Fürsten/Adeligen abreißen ließ.

„Der Einsatz von Robotern und anderen Technologien wird in den kommenden Jahren Millionen von Arbeitskräften hierzulande überflüssig machen. Das ist das Ergebnis einer Berechnung der Volkswirte der Bank ING-Diba. Demnach bedroht die sich zunehmend beschleunigende Technologisierung mittel- und langfristig mehr als die Hälfte aller Arbeitsplätze in Deutschland. Von den 30,9 Millionen sozialversicherungspflichtig und geringfügig Beschäftigten, die in der Untersuchung berücksichtigt werden, würden demnach 18 Millionen in den kommenden Jahren und Jahrzehnten durch Maschinen und Software ersetzt.“ (6).

Es ist völlig offensichtlich, dass die Einschnitt-Tiefe dieser Prozesse in die Alltagssituation der Menschen, in die Ökonomie und in die Mensch-Mensch-Beziehungen insgesamt, sowie das Tempo der Umwälzungen die Revolutionen im Übergang von der Agrargesellschaft des mittelalterlichen Feudaladels in die Industriegesellschaft des Kapitalismus bei weitem in den Schatten stellt. Diese Entwicklung droht so zu verlaufen, wie es Rosa Luxemburg unter Rückgriff auf eine Warnung von Karl Marx in diese Worte kleidete: „Sozialismus oder Barbarei.“

Genau an dieser Stelle steht die Menschheit – kurz nachdem der Imperialismus die Sowjetunion von der Bildfläche verschwinden ließ. Karl Marx‘ Resultate helfen, den Kopf klar zu halten.


Quellen und Anmerkungen:

(1) http://www.bpb.de/apuz/197977/zur-truegerischen-vision-menschlicher-vollkommenheit?p=all; siehe auch Kardinal Marx zum Thema: https://www.domradio.de/themen/bist%C3%BCmer/2018-03-22/kardinal-marx-globalen-kapitalismus-die-schranken-weisen
(2) „Warum ist Egoismus gut?“, FAZ, 30.12.2006
(3) Marx, Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13 S.7
(4) Marx/Engels, Manifest, Berlin/DDR 1969, S. 32
(5) Marx, People’s Paper, MEW 12, S.3f.)
(6) Die Welt, 02.05.2015