Die geröntgte Menschheit
Das Geheimnis als Kulturgut und Menschenrecht wird durch die Ideologie der totalen Transparenz vernichtet. Ob es uns gelingt, das Geheimnisvolle zu rekultivieren, wird über den Fortbestand des freien Menschen entscheiden.
„Top transparent“ statt „top secret“ lautet die Devise der heutigen Transparenz-Ideologie. Geheimnisse darf es nicht mehr geben. In so ziemlich allen Bereichen unseres alltäglichen Lebens wird ein Vernichtungsfeldzug gegen das Geheimnis geführt. Das, was wir verbergen möchten, steht unter Generalverdacht. Ganz gleich ob es um die Bekämpfung von Terrorismus oder Fake-Pandemien geht: Wer etwas verbirgt, macht sich verdächtig. Ein Geheimnis zu haben, wird „einfachen“ Menschen nicht mehr zugebilligt und das ausgerechnet von jenen elitären Weltendenkern und -lenkern, die sich selbst liebend gerne in das Gewand des Geheimnisvollen hüllen. Dabei wird die Offenlegung unserer Geheimnisse nur zu einem kleinen Bruchteil über mittelbaren oder unmittelbaren Zwang bewirkt. Zum größten Teil erfolgt die Preisgabe unseres Innersten scheinbar freiwillig. Vom Westen bis in den globalen Süden ist die gesamte — digitale — Infrastruktur mit Anreizen versehen, die uns dazu ermuntern, unsere persönlichsten Daten preiszugeben, wenn sie uns nicht sowieso schon durch die mannigfaltigen Erfassungsmethoden des Überwachungskapitalismus unbemerkt abgerungen wurden. Der Schutz vor Überwachung — mit den damit verknüpften Nachteilen für uns — ist jedoch nicht die einzige Notwendigkeit, die Wahrung unserer Geheimnisse, das Geheimnisvolle generell wieder zu kultivieren. Nicht allein werden wir zur Preisgabe unserer Geheimnisse gezwungen, wir selbst beteiligen uns in vielfacher Hinsicht daran, das Geheimnisvolle und den damit verbundenen Reiz aus unserem Leben zu tilgen. Zunehmend unfähig, das Ungewisse zu ertragen, wollen wir dies durch die Illusion der Gewissheit ersetzen und berauben uns damit selbst des potenziell prickelnden Erlebnisses des Überraschtwerdens. Sowohl das Behüten unserer Geheimnisse als auch das Wiedererlernen der Gabe, sich auf Geheimnisvolles einzulassen, bewahren eine wesentliche Eigenschaft, die für einen freien und in Würde lebenden Menschen unabdingbar ist. Das Re-Kultivieren des Geheimnisvollen eilt, denn es werden auf allen Ebenen der wirtschaftlichen, psychologischen und kognitiven Kriegsführung schwerste Geschütze aufgefahren, um die letzten Bastionen des Geheimen aufzubrechen.
„Alles über den anderen wissen zu wollen, ist eine Krankheit, die zum langsamen Tod dessen führt, was man (am) meisten schützen will“ (1).
Wie viele geheimnisvolle Menschen kennen Sie? Gibt es in Ihrem Umfeld noch Menschen, die von einer Aura des Unnahbaren umgeben sind? Menschen, die Rätsel aufgeben? Wenn Sie tatsächlich noch solche Menschen kennen sollten, dann kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit über diese gesagt werden, dass sie auf den einschlägigen Plattformen wie Instagram, Meta, TikTok und LinkedIn nicht zu finden sind. Das stimmt doch oder?
Wahrliche Geheimnisvernichter sind diese Platt-formen, wo wir uns über Menschen in-form-ieren können, sofern sie sich dort registriert und zur konsumierbaren In-form-mation durch in-Form-bringen haben degradieren lassen. Diese vorgefertigte, konstante und von den Nutzern nicht veränderbare Formgebung der Plattformen lässt eine große Variabilität innerhalb der Kachelgrenzen zu, das darin Gezeigte bleibt jedoch immer diesseits der Ränder gefangen. Ein X / twitter-Tweet kann noch so kreativ sein — am Ende bleibt er nur ein Tweet. Der Inhalt einer Instagram-Story kann noch so beeindruckend sein, die Form gewährt dem darin gezeigten nur eine Lebenszeit von 24 Stunden. Das in den Instagram-Kacheln „dokumentierte“ „Leben“, beziehungsweise dessen — inszenierte — Höhepunkte, kann noch so schillernd sein, am Ende sehen wir in den Kacheln nur in normierte Form gepresste, festgehaltene Sekundenbruchteile eines — inszenierten — Augenblicks.
Diese digitalen Plattformen sind die Vollendung eines Gleichschaltungsprozesses des Menschen, den wir schon im analogen Leben in Gestalt von Mode- und Techniktrends beobachten können. Kritische Beobachter des Zeitgeschehens können sich häufig nicht des Eindrucks verwehren, ein Großteil der Menschen wäre programmierbar, insofern, als dass diese nach und nach ein Update erhalten: AirPods in den Ohren, seltsame Frisuren, weite Hosen, hässliche Adiletten mit weißen Socken, Gen-Spritzen, Meinungen, Arten von Humor, Sprechweisen wie das Gendern oder die „Vong-Sprache“. Nur ein überschaubarer, widerspenstiger Teil der Menschen scheint eine mentale Firewall gegen die Gleichschaltung zu besitzen.
Es wurde bereits viel geschrieben und gesagt über Konditionierung des Menschen im 21. Jahrhundert hin zur immer weiter ausufernden Preisgabe aller Lebenseinzelheiten, der Aufgabe der intimsten Privatsphäre sowie über das Abtrainieren jeder Scham beim immer durchsichtiger werden.
Der Philosoph Byung-Chul Han arbeitete den Unterschied zwischen der Machtausübung der Jetztzeit und der früheren heraus und kam zu folgender Gegenüberstellung: Hielten die totalitären Systeme der letzten Jahrhunderte die Menschen dazu an, sich bedeckt zu halten, zu schweigen, keine Widerlaute zu geben, so haben wir es nach Han im 21. Jahrhundert mit einem stets freundlich lächelnden Totalitarismus zu tun, der uns geradezu dazu einlädt, uns vollumfänglich zu öffnen, alles zu verbalisieren, zu verschriftlichen, mit Likes zu bewerten, zu fotografieren und zu filmen, kurzum unsere geistigen Schleusen zu öffnen und den Schwall unserer Gedanken- und Gefühlswelt in den digitalen Äther zu sprühen (2). So werden wir durchsichtig und berechenbar.
Dave Eggers schrieb mit „The Circle“ eine später verfilmte Dystopie über eine Privatsphäre tilgende Gesellschaft, die die Transparenz als höchsten Wert über alles stellt. Einer der wenigen Menschen, der sich dieser Entwicklung entgegenstellte, gilt in der Handlung als ewiggestriger Hinterwäldler, der von den omnipräsent gaffenden Kameras schlussendlich in den Tod getrieben wird.
Nicht unerwähnt bleiben sollte Shoshana Zuboffs Pflichtlektüre-Werk „Zeitalter des Überwachungskapitalimus“, in dem sie bis in das kleinste Detail die lückenlose Durchleuchtung des menschlichen Wesens und seiner Seele durch die nach Verhaltensüberschuss gierende Datenkrake skizziert.
2021 verfasste die französische Psychoanalytikerin und Philosophin Anne Dufourmantelle eine Verteidigungsschrift für das Geheimnis, auf welches ich mich im nachfolgenden Beitrag immer wieder beziehen werde. Den Begriff „Geheimnis“ leitet sie etymologisch von dem lateinischen secretus ab, was so viel bedeutet wie „ein Fernhalten, auf Abstand halten, etwas ‚zur Seite Gelegtes‘, ‚Reserviertes‘“ (3).
Nach Dufourmantelle befinden wir uns in einem regelrechten Krieg gegen ebendieses Geheimnis:
„In gewissem Sinne ist man bei einem Geheimnis immer zu dritt: der Hüter, der Zeuge, das Ausgeschlossene. Diese wesensmäßige Dreiheit kann sich jederzeit entzünden, in Eifersucht, in Machtkämpfen“ (4).
Diese Dreiheit befindet sich in vielfacher Hinsicht in Auflösung. Dufourmantelle weiter:
„Als zeitgemäß erscheint, sich von Momenten des intimen Selbstverhältnisses abzuwenden. Die Stille weicht dem Lärm, dem unablässigen Geschwätz und der Omnipräsenz der Bildschirme, die alle Aufmerksamkeit in Beschlag nehmen“ (5).
Ideologisch ist derzeit nahezu die gesamte Gesellschaft am Stoßlüften aller Räume, die ein Geheimnis bergen. Unabhängig davon, ob das nun Räume sind, die digitale, finanzielle, geografische oder gar biologische Geheimnisse bergen.
All diese Räume mit ihren Geheimnissen sollen gelüftet werden, der Dunst des Nebulösen entweichen.
Persönliche Chronik einer Entzauberung
Wie die einschlägigen Plattformen wie eine Dunstabzugshaube den Schleier des Geheimnisvollen vernichten, möchte ich anhand folgenden anekdotischen Schwanks aus meinen persönlichen Erfahrungen skizzieren, um dem Gegenstand dieses Beitrages etwas Plastisches zu geben, auf dem aufbauend wir das Thema anschließend behandeln können.
Mit Anfang 20 lernte ich in einer der heruntergekommensten und dunkelsten Rockkneipe Münchens eine durch und durch geheimnisvolle Persönlichkeit kennen. Ein junger Mann, vielleicht wenige Jahre älter als ich, stets in ganz schwarze Anzüge gekleidet, das Haar ebenso pechrabenschwarz, während die Haut von der fahlen Blässe eines Vampirs war. Wir Menschen „schubladisieren“ augenblicklich, das liegt wohl in unserem Naturell. So hätte man diesen Mann — wenn man ihn direkt kategorisieren wollte — wohl der Gothik-Szene zugerechnet.
Er stellte sich mir unter einem Namen vor, der zwar seinem geheimnisvollen Erscheinungsbild entsprach, sich allerdings später als Kunstname entpuppen sollte. Damals, als ich mit Anfang 20 mangels Erfahrung und Wissen noch leichter zu beeindrucken war als heute, übte diese mysteriöse Gestalt eine große Faszination auf mich aus. Er verfügte über einen unglaublichen Wissensschatz, bezüglich angelsächsischer und europäischer Geschichte, in Ökonomie sowie Literatur.
Für mich waren das zu diesem Zeitpunkt noch taufrischneue Themenfelder und so lauschte ich in den geselligen Runden teilweise bis in die Morgenstunden seinen lebhaft referierten Ausführungen über die Medicis, über den Geist der amerikanischen Gründerväter oder über unterschiedlichste Wirtschaftstheorien, die ich damals nur schwer nachvollziehen konnte. Ab dem weiß Gott wie vielten Whisky-Glas trug er theatralisch und im besten Englisch düstere Gedichte von Edgar Allan Poe vor.
Abgestoßen von der Ödnis, Oberflächlichkeit und kafkaesken Bürokratie meiner damaligen kaufmännischen Berufsausbildung in einem mittelständischen Unternehmen, waren die Begegnungen mit dieser geheimnisvollen Gestalt für mich ein überaus dankenswertes Kontrastprogramm, ein nächtliches Abtauchen in eine vollkommen andere Welt.
Für mich schien es so, als wären diese finsteren, abgerockten Kneipen das natürliche Habitat dieses Mannes. In „profanen“ Alltagssituationen konnte ich ihn mir gar nicht vorstellen — etwa beim Discounter in der Schlange oder beim Müll-Runterbringen. Natürlich wusste ich, dass auch dieser Mann ein Alltagsleben zu bestreiten hatte, mit all den weniger geheimnisvollen, eher banalen Tätigkeiten, die dabei anfielen. Doch war ich irgendwie froh, ihn ausschließlich in dem zu ihm passenden Setting und in einem Ambiente anzutreffen, in dem nur Dämmerlicht herrschte.
Doch mit der Zeit legte sich der Schleier des Geheimnisvollen. Denn irgendwann wollte ich dann doch hinter ebendiesen Schleier blicken.
Warum wollte ich dahinterblicken? Dufourmantelle schreibt:
„(Es) ist eben genau das an einem Menschen, dessen man sich bemächtigen will, sein Geheimnis. Man würde gerne zu fassen bekommen, was sich stets entzieht. Und dies aus zwei Gründen: Zum einen, gerade weil es seinem Wesen nach nicht fassbar ist, zum anderen, weil es der von der Entwicklung eines Menschen untrennbare Kern ist, sein innerer Antrieb. Alles Geheime ist Werden. Geheim ist, was sich selbst verheimlicht“ (6).
So suchte und fand ich ihn bei...Facebook. Damals war das Buch der Gesichter noch die zentrale Social-Media-Plattform, auf der die Menschen damit begannen, ihr Leben — teils minutiös dokumentiert — auf die News-Feed-Seite zu ergießen. Als ich besagten Mann dort fand, hatte das etwas Desillusionierendes. Die ihn umgebende Aura des Geheimnisvollen und Unnahbaren wich auf Facebook einer mir bekannten Formgebung.
Die Eigen-art dieses Menschen wurde auf dieser Platt-form zu einem gleich-artigen Bündel an In-form-mationen in Form gebracht. Das schwer Greifbare, wenn ich dieser Gestalt im analogen Leben begegnete, war hier in eine mir vertraute Formatierung gequetscht worden, nämlich der bekannten Benutzeroberfläche von Facebook, die Benutzeroberfläche, die den Ausdruck und die Variabilität auf die Bilderkacheln und die Posting-Textfelder reduziert, während die Formgebung für die Facebook-Nutzer und -Benutzten unantastbar ist.
Eine weitere Nacht, in der sich der Mann zu meinen Freunden und mir gesellte, brachte die endgültige Entzauberung mit sich. Wieder einmal gingen an diesem Abend seine Ausführungen zu einem der vielen spannenden Themen tief. Zugleich ging sein Blick ins Whisky-Glas noch tiefer. Zu tief. Zu fortgeschrittener Stunde war er nicht mehr Herr seiner Sinne und wir mussten ihn nach Hause bugsieren. Freilich war mir sein Wohnort nicht bekannt. Ihn mir mitzuteilen, dazu war er nicht mehr imstande. So fischte ich in der Not sein Portemonnaie aus der Jackettinnentasche, um seinem Ausweis die Adresse zu entnehmen.
Durch meinen Blick auf seinen Personalausweis verflog der letzte Schleier des Geheimnisvollen. Auf dem Foto blickte er — wie wir alle auf unseren Pässen — biometrisch-korrekt, apathisch und dezent wie ein Verbrecher aussehend in die Kamera. Sein bürgerlicher Name strafte den Kunstnamen Lügen. Auf der Rückseite folgten biologische Erfassungsdaten wie Körpergröße und Augenfarbe. Mit diesen In-form-mationen war jedes Geheimnis vernichtet, was sich zuvor im formlosen Unbekannten verborgen hatte. Wenn das Enthüllte im Moment seiner Enthüllung nicht gerade einen traumatisierenden Charakter auf den Betrachter hat und entsprechend nicht durch eine Abspaltung dem Bewusstsein entzogen wird, so ist die Vernichtung eines Geheimnisses irreversibel.
Wir brachten den Mann zu seinem Wohnort, ehe auch noch die Sonne aufging.
Der passgenaue Mensch im technokratischen Stripclub
Im vorangegangenen Beispiel habe ich zwei Faktoren genannt, die dem Geheimnisvollen des Menschen abträglich waren: das Registriert-Sein auf einer Social-Media-Plattform sowie der Besitz eines Ausweises. Auf beiden wird der Mensch in eine vorgefertigte Form hineinpresst und dabei die Individualität auf vorgegebene Parameter reduziert. Unser Pass enthält zwar Informationen über unsere Körpergröße und Augenfarbe, doch beispielsweise das unbeschreibliche Funkeln, das wir in den Augen unserer Mitmenschen sehen können — das wird auf dem Pass auf eine farbliche Kennzeichnung heruntergebrochen.
Es hat durchaus etwas Grausames, dass wir alle, fast alle Menschen in diese Form gestanzt werden. Wir alle haben einen Pass oder einen Personalausweis, den wir stets mitzuführen staatlicherseits angewiesen sind. Ohne Pass sind wir irgendwie nackt, ganz so, als existierten wir nicht.
Immanuel Kant hätte sich mit Gewissheit nicht zufriedengegeben mit der Inschrift einer Plastikkarte als Antwort auf seine Frage, was der Mensch sei. Und doch bewegen wir uns als Menschen genau dort hin. In Richtung des Mensch-Seins als Nummer, als digitale Identität, der Mensch wird zum „passgenauen Menschen“.
Sowohl Social-Media als auch der Pass sind Plattformen. Erstere sehen wir allein auf flachen Scheiben, digitalen Screens. Selbst das Konzept von Meta, das eine vermeintliche Tiefe durch Virtual-Reality-Brillen herstellen soll, bleibt am Ende platt, weil es letztlich doch nur die Illusion von Tiefe erzeugt. Und der Pass ist im Grunde genommen auch nur eine kleine Plattform.
Drehen wir die Personalausweis-Chipkarte unter einem Licht auf der Y-Achse hin und her, sehen wir je nach Lichteinfallswinkel Reflexionsmuster, etwa den Bundesadler und andere geometrische Formen, die die Echtheit des Dokuments verifizieren sollen. Diese Reflexionsmuster sind gewisser Weise illuminierte Gitterstäbe, in deren Inneren unser ausdrucksloses Gesicht als Schatten unseres Selbst gefangen ist, da es unabhängig vom Betrachtungswinkel statisch verhaftet bleibt und damit „passgenau“. Das Wort „passgenau“ — in dem bereits der Begriff „Pass“ enthalten ist — wird definiert als „von der Form her exakt sitzend“. Und genauso exakt sitzen wir beim Schießen der Passfotos, biometrisch korrekt in die geradlinige Form des Kamerawinkels blickend.
Und die Bezeichnung „Plattform“ impliziert bereits, dass alles auf ihr Befindliche in eine „platte Form“ übertragen wird. In außerordentlicher Drastik sehen wir die normierende und formpressende Funktion dieser Plattformen bei dem Business-Netzwerk LinkedIn. Die Profile lesen sich im Grunde genommen wie immer ähnlich lautende Produktbeschreibungen:
„MaxMustermann1982, verfügt über die Fähigkeiten W, beherrscht die Sprachen X und hat auf Fortbildungen die Upgrades Y erhalten.“
Beide Arten der Plattformen haben darüber hinaus gemeinsam, dass sie in irgendeiner Form verpflichtend sind. Dem verpflichtenden Besitz eines Passes kann sich in den Industrienationen im Grunde genommen niemand entziehen, hingegen war die Nutzung der Social-Media-Plattformen immer freiwilliger Natur. Selbstredend machten die sich in dramatischer Geschwindigkeit verändernden Normen der digitalisierten Gesellschaft im Laufe der 2010er Jahre es nahezu erforderlich, auf den einschlägigen Plattformen registriert zu sein.
Wie umfassend diese schleichend gewachsene Abhängigkeit gediehen ist, merkt jener sehr schlagartig in dem Moment, da er oder sie den betreffenden Plattformen oder Chat-Messengern den Rücken kehrt. Eine Abmeldung von Facebook oder WhatsApp kann schnell den Eindruck erwecken, hernach gar nicht mehr zu existieren. Das Registriert-Sein auf amerikanischen Plattformen wie Facebook, Instagram oder WhatsApp war mit der Zeit notwendig geworden, um beispielsweise zu Geburtstagsfeiern eingeladen zu werden. Wer auf der amerikanischen Plattform nicht auftaucht, wird in weiten Teilen der Welt als potenzieller Gast möglicherweise vergessen. Dufourmantelle merkte hierzu passend an:
„Wer sich nicht mit dem erwarteten Eifer in das technobiologische Zeitalter stürzt, glücklich, entschlüsselt zu werden, beschützt und also überwacht, überwacht und also suspekt, wird links liegen gelassen. Unbemerkt vollzieht sich ein Prozess brutaler und stiller Segregation, die Behüteten auf der einen, die Abgehängten auf der anderen Seite. (…) Mit den massenhaft produzierten Kommunikationsmedien hat das Individuum ein Mittel zur Steigerung seiner Macht gefunden, ohne zu erkennen, dass sich gerade durch diese seine Abhängigkeit und Ohnmacht immer mehr vertieft“ (7).
Es besteht so gesehen ein regelrechter Zwang, dass wir das schwer benennbare Etwas, das uns geheimnisvoll und einzigartig macht, preisgeben. Für beide Faktoren der Geheimnisvernichtung besteht je ein unterschiedlich gearteter Zwang. Beim Pass ist es ein gesetzlicher Zwang, bei Social-Media ein normativer. Was durch den gesetzlich vorgeschriebenen Pass erfasst wird, ist in der genannten Dreiheit des Geheimnisses wiederum ausschließlich für jene ersichtlich, die den Ausweis kontrollieren — beispielsweise Polizisten, Türsteher oder Verkäufer an Schanktheken —, während die normativ verpflichtende Registrierung bei Social-Media-Plattformen eine Offenlegung der Persönlichkeit zu Tage fördert, die einer Vielzahl an Menschen zugänglich ist, inklusive Big Data.
Im Zuge der immer weiter voranschreitenden Zentralisierung in allen Bereichen, sollen nun auch diese beiden Faktoren — Pass und Social-Media — zusammengeführt werden. Elon Musk plant unlängst, sein in „X“ unbenanntes twitter zu einer Ein-Für-Alles-App umzubauen. Wohin das führt, sehen wir anhand des bereits bestehenden chinesischen Pendant WeChat, bei dem „für“ chinesische Bürger alle elementaren Informationen und Funktionen — Bezahlsysteme, Gesundheitsdaten, Steuerzahlung et cetera — zentralisiert auf einer einzigen Plattform zusammengeführt werden. Ohne diese App ist Mensch quasi ein Niemand.
Die negative Form von „Haben und Sein“ im 21. Jahrhundert ist im Begriff, sich dahin zu entwickeln: 2010 galt noch „Hast du kein iPhone, dann hast hast du kein iPhone!“ — nun könnte es bald heißen: „Hast du kein ‚X‘, dann bist du nix!“.
Wir sehen überall das scheinbar ungehinderte Voranschreiten der Um-form-matierung des Menschen hin zu einem Bündel aus Daten: Passdaten, elektronisch abgespeicherte Fingerabdrücke, biometrische Gesichtserfassung, Verhaltensdaten über unsere Aktivitäten — Zubhoff spricht vom sogenannten „Schwarztext“ (8), der es den lesenden Algorithmen ermöglicht, uns besser zu kennen, als wir uns selbst (9). Dann wären da noch die unzähligen Bestrebungen zur Schaffung digitaler Identitätsausweise für alle Menschen weltweit — ID2020, Known Traveller Digital Identity, europäische digitale Identität, digitale Impfpässe, Common Pass, die von der Weltbankgruppe forcierte Identification for Development —, die Einführung programmierbarer und mit einem CO2-Budget koppelbare digitaler Zentralbankwährungen (CBDCs), elektronische Patientenakten, der je nach fake-pandemischer Lage zeitweise bestehende Zwang zum Hinterlassen digitaler Brotkrümel in Gestalt von Hinterlegung personenbezogener Daten oder dem Scanen von QR-Codes zwecks des Einlasses.
Dreisterweise wird eben dieser Zwang als Recht, als Menschenrecht verkauft, wonach jeder Mensch — gerade in der sogenannten „Dritten Welt“ — das Recht auf wirtschaftliche Inklusion hätte, die sich wiederum aus einer digitalen Identität ergeben würde.
Das globalistische Ausbeutersystem, welches diese Milliarden Menschen erst in die bitterste Armut trieb, präsentiert nun die umfassende Erfassung und Kontrolle der Menschen als ein Menschenrecht, damit diese Menschen vorgeblich als autarke Subjekte innerhalb eines Wirtschaftssystems agieren können.
Das Recht auf Geheimnislosigkeit wird in Orwell’scher Manier in ein Menschenrecht umgemünzt.
Es geht noch weiter. Unerwähnt blieben bisher die invasiven Formen der Datenerhebung — Transhumanismus ist hierbei Stichwort gebend. Denkbar aber bisher ungeklärt bleibt, was die als „Corona-Impfung“ umdeklarierten Gen-Spritzen vermögen, hinsichtlich der Schaffung einer digitalbiologischen Schnittstelle zwischen Big-Data und der Physis. Datensendende Pillen sind hingegen unlängst auf dem Markt. Analog dazu forschen Unternehmen wie Neuralink an Gehirn-Computer-Schnittstellen, um den „hackbaren Mensch“, so Yuval Noah Harari, wie eine Festplatte auslesen zu können. Dabei handelt es sich im Jahre 2023 keineswegs mehr um Zukunftsmusik, wie die „Ethikerin“ und Zukunftsforscherin Nita A. Farahany von der Duke University Anfang 2023 im Technokratie-Gespensterschloss von Davos frohlockte. „Sind Sie bereit für Gehirn-Transparenz?“, fragte sie die versammelte Audienz und präsentierte daraufhin einen verstörenden Animationsfilm, der die bereits bestehenden Möglichkeiten der detaillierten Live-Auslesung von Gehirnen veranschaulicht.
Diese Technologie kann mit Fug und Recht als die Atombombe für die Zerstörung der Geheimnisse betrachtet werden.
Dass wir vor dieser vollumfänglichen „Vergläserung“, dieser Entblößung unserer Selbst nicht aufbegehren, hängt damit zusammen, dass uns unsere Datenscham weitestgehend abhanden gekommen ist. Der naive Aphorismus „Ich hab ja nichts zu verbergen“ ist in letzter Konsequenz dann sogar richtig, denn irgendwann hat der Mensch dann tatsächlich nichts mehr zu verbergen, denn all das, was vormals noch in den letzten Nischen des Verborgenen lag, wird durch die digitale und neuronal-invasive Datenerhebung geborgen und wie ein Exponat ausgestellt in der Glasvitrine, die unsere, des Menschen transparente Hülle darstellt.
Wir Menschen befinden uns in einem technokratischen Stripclub, in dem wir gegen von der Datenkrake „großzügig gewährte“ Obolus-Scheine — Pay-Back-Punkte, einstellige Rabattsätze, Zusatzservice-Leistungen et cetera — die Hüllen fallen lassen, die eigentlich unser Innerstes, Intimstes verdecken. Die Datenkrake, beziehungsweise die dahinter stehenden Lenker (10) haben uns mit ihren kleinen Verlockungen, unserem narzisstischen Drang nach Gesehen-Werden zu Exhibitionisten erzogen, uns dazu gebracht, diesen Striptease freiwillig zu vollziehen. Die Volkszählung in der BRD der 1980er Jahre löste in der damals diesbezüglich noch kritischeren Bevölkerung einen heftigen Protest aus. Dabei kam der Umfang der damaligen Datenerhebung — in der Strip-Metapher bleibend — im Vergleich zur heutigen, exzessiven Datenpreisgabe eher der Aufforderung gleich, die Schuhe auszuziehen. Kein Vergleich also mit dem heutigen Daten-Strip.
Zu recht fragt Dufourmantelle in diesem Kontext:
„Durch wen oder was will man überwacht werden? Woher kommt nur dieses Bedürfnis, unbedingt gesehen zu werden? Warum soll man keine Geheimnisse haben wollen? Um vor sich selbst zu verbergen, dass man kein Leben zu führen vermag, das welche hervorbringt — ein freies Leben? Und immer heißt es, es sei zu ihrem ‚Besten‘, wenn man den Menschen auferlegt, so lesbar wie möglich zu sein. Hinter der Rede von der Gefahr einer Wiederkunft der alten Totalitarismen zeichnen sich bereits neue ab. Die freiwillige Transparenz dient der freiwilligen Knechtschaft. Kein Staat kann seinen Bürgern heute absolute Sicherheit garantieren. Wie hoch auch immer der erreichte Grad an Überwachung ist, letztlich wird es einzig die menschliche Analyse sein, die den Unterschied macht. Entscheidend ist nicht das technische Arsenal (…) (sondern) ‚wer‘ die Daten interpretiert“ (11).
Ein Röntgenbild als Menschenbild
Wenn die Obolus-Scheine für den Datenstrip und die Geheimnispreisgabe nicht die erwünschte Entblößung bewirken, wird auf verschiedene Weise die Sicherheit als Grund angeführt, weshalb es keine Geheimnisse mehr geben dürfe.
„Dass jedes Geheimnis ein potenziell Verheimlichtes und also eine Lüge ist und nicht etwa ein geschützter ‚Garten‘, in dem das Leben gedeiht, ist unsere neue staatsbürgerliche Ideologie. Die Absichten der Individuen des Gesellschaftskörpers bis in Detail zu kennen, um künftigen Normabweichungen oder Verstößen vorzubeugen oder um die Radikalisierung seiner Bürger zu antizipieren (schließlich kann jeder zum Terroristen [oder ‚asymptomatisch Erkrankten‘, Anmerkung des Autors] werden!), das ist ein Phantasma, das die heutigen Demokratien in eine merkwürdige Nähe zu den Vertretern revolutionärer Schreckensherrschaft rückt. Aus deren Sicht nämlich gab es keine größere Gefahr als die, dass im ‚Volk‘ unentwegt etwas verheimlicht wird, dass Individuen, die man zuvor als mustergültig angesehen hatte, etwas zu verheimlichen haben“ (12).
Welche Ausmaße diese Durchleuchtung annehmen kann, durften wir in den letzten drei Jahren schmerzlich erfahren. Das exzessive Durchscannen, dass wir seit 9/11 bislang nur von den Flughafensicherheitsschleusen kannten, hat sich mit der Fake-Pandemie auf die gesamte Gesellschaft ausgeweitet. „Die Unverletzlichkeit der Wohnung darf kein Argument mehr für ausbleibende Kontrollen sein“, so forderte es der damalige SPD-Hinterbänkler Karl Lauterbach im Herbst 2020. Ein Vorgeschmack auf die bevorstehende Orgie des Durchleuchtens und Erfassens. Überall waren wir angehalten, unsere personenbezogenen Daten zu hinterlassen, Einlass wurde uns an manchen Lokalitäten nur mit dem Scannen eines QR-Codes gewährt, Wohnungen wurden durchsucht, Menschen ließen sich mit Tracking- und Tracing-Apps zum vorgeblichen Gesundheitsschutz erfassen.
Wer versuchte, sich dieser Überwachung zu entziehen, sah sich genötigt, die Gardinen zuzuziehen, um das Innenleben der eigenen vier Wände vor den Blicken der potenziellen Denunzianten zu schützen. Aus seinem Aufenthaltsort, seinen körperlichen Daten oder auch nur seinem gesundheitlichen Wohlbefinden ein Geheimnis zu machen, galt als Gefährdung der Bevölkerung und der Gesundheitsinfrastruktur.
In der gesundheitsdiktatorischen Technokratie soll der passgenaue Mensch als Einzelner nur ein ebenso einzelner Bestandteil einer großen Verfügungsmasse sein.
Analog zu den weiter oben skizzierten, digitalen Möglichkeiten, das menschliche Gehirn live auszulesen und zu überwachen, zielten sämtliche Corona-Maßnahmen darauf ab, die mentale Widerstandsfähigkeit unseres Gehirns erheblich zu schwächen, mit dem Ziel eines „Great Mental Resets“ der Weltbevölkerung dergestalt, dass die Menschen neurologisch zu eindimensionalen (Herbert Marcuse), gleichgeschalteten, nicht mehr selbstständig denkenden, auf bloße Reiz-Reaktion-Muster reagierende Wesen degradiert werden. So legt es der Molekulargenetiker Michael Nehls mit unzähligen wissenschaftlichen Quellen und einer stimmigen Analyse in seinem überaus lesenswerten Werk „Das indoktrinierte Gehirn“ (13) dar. Solche Wesen sind selbstredend nicht mehr länger Träger von Geheimnissen, im Gegenteil, sie werden mit der Zeit dazu erzogen, sämtliche Geheimnisse stets offen zu legen. Ganz im Sinne von Ida Aukens berühmten WEF-Dystopie-Aufsatzes „Willkommen im Jahr 2030: Ich besitze nichts, habe keine Privatsphäre und das Leben war nie besser.“
Nehls zitiert in diesem Zusammenhang das aus Journalisten und Wissenschaftlern bestehende Autorenkollektiv Dr. C.E. Nyder, welches die Absichten des WEF in der Einleitung des Buches „Young Global Leaders: Die Saat des Klaus Schwabs“ sehr treffend auf den Punkt bringt:
„Sie (die Young Global Leader [YGL]) streben nach einer bunten Welt, in der keine Individuen mehr existieren, sondern nur noch geno- und phänotypisch einheitliche Kreaturen, einfältig geschichtslos (sic!) und vielfach geimpft. Geboostert mit gleich ausgerichtetem Denken und immun gegen jegliche Art von Kritikfähigkeit obliegt es den YGLs, diese Schwundstufe des Menschen als digitaler Adel zu führen.“ (14)
Für die „geno- und phänotypisch einheitliche(n) Kreaturen“ gibt es einen kurzen Begriff, der es diesjährig sogar fast zum Jugendwort des Jahres geschafft hätte: der NPC, der „Non playable charakter“. Gemeint sind damit eben jene geist- und willenlosen Wesen, die lediglich die ihnen einprogrammierten Befehle und Sätze ausführen und aussprechen können, die jedoch über keine eigenen Gedanken verfügen und entsprechend keine Geheimnisträger sind. Eine zentrale Methode, dem Individuum seine Geheimnisse abzuringen, ist es, die Individuen ihrer Individualität zu berauben und den Ausdruck der kümmerlichen Restindividualität allenfalls auf eine Surrogat-Ebene (Klamotten, Fußballvereine, Automarken et cetera) zu beschränken. Die Individualität wird eingestanzt in das, was der Sprachwissenschaftler Thomas Bauer in seinem erhellenden Büchlein „Die Vereindeutigung der Welt: Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt“ als „Vereindeutigung durch Kästchenbildung“ beschrieb:
„Eine (…) Vielgestaltigkeit kann (…) keineswegs mit Vieldeutigkeit einhergehen, da innerhalb eines jeden Kollektivs ein hohes Maß an Eindeutigkeit über Zugehörigkeit bzw. über Nichtzugehörigkeit zu ihm und über die Eigenschaften herrscht, die die Zugehörigkeit begründen. Wir begegnen hier einer gängigen Strategie der Endambiguisierung, die ich ‚Kästchenbildung‘ nennen möchte. Wenn offensichtlich keine Aussicht darauf besteht, Eindeutigkeit durch Beseitigung des Ambigen herzustellen, bleibt als zweitbeste Lösung immer noch die Möglichkeit, die Welt in Kästchen zu sortieren, innerhalb derer dann wenigstens größtmögliche Eindeutigkeit herrschen soll.“ (15)
Viel leichter von den Geheimnislüftern zu durchleuchten sind wir, sobald wir nicht mehr länger eine riesige Masse an unberechenbaren Einzelindividuen sind, sondern wenn wir mit den verbliebenen und kümmerlichen Resten unserer Eigenart einer überschaubaren Anzahl von Kategorien zugeordnet werden, man spricht auch von Zielgruppen. Beispielhaft hierfür ist das Sinus-Milieu, welches seit den 1970er Jahren vom gleichnamigen Institut jährlich ermittelt wird, indem wir Menschen entsprechend unseres ökonomischen Statusses und des Grads an Veränderungswillens in zehn Kategorien eingeordnet werden.
Sind alle mehr oder minder gleich und damit „schubladisierbar“, dann sind sie aufgrund der Berechenbarkeit keine Geheimnis mehr, sondern nur noch Teil einer der wenigen Schubladen, deren jeweilige Inhalte die Datenkrake kennt.
Keine Legende ohne Geheimnis
Verschwinden die Geheimnisse, verschwinden mit ihnen die Legenden. Dufourmantelle zeigt in der Einleitung ihrer Verteidigungsschrift eine der ursprünglichen Bedeutungen des Geheimnisses auf, wonach „die Notwendigkeit des Geheimen der ursprünglichen Trennung von Göttern und Menschen (entstammt)“ (16). Nachdem Nietzsche den alleinigen Gott für tot erklärte, sind es in der Postmoderne die Stars, die von den Menschen vergöttert werden. Stars haben ob ihrer Unnahbarkeit einen sakrosankten Status, der jedoch nur so lange Bestand hat, solange sich die Bigger-than-life-Aura aufrechterhalten lässt. Mit dem Grad an (Dauer)Präsenz auf Social-Media-Plattformen beginnt diese Aura zu schwinden. Ob nun als Himmelskörper oder als Promis — Stars brauchen, um als solche gesehen zu werden, in erster Linie eines: Dunkelheit. Wird die Lichteinstrahlung zu stark, werden sie quasi unsichtbar.
Immer mehr adaptieren die Stars und Sternchen die Kommunikationsform der Influencer, die Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt in ihrer kritischen Abhandlung über Influencer wie folgt beschreiben:
„In dieser Kommunikation, die ― trotz des gigantischen Wohlstandsgefälles zwischen Influencern und Followern ― Augenhöhe simulieren soll, liegt der große Unterschied zu früheren Prominenten: Die Influencer sollen eben nicht bigger than life erscheinen. (…) (Sie) sprechen zu ihren Followern nicht wie zu Untergebenen oder Bewunderern, sondern wie zu Freunden.“ (17)
Freunde sind für uns in aller Regel nicht geheimnisvoll, selbst wenn wir nie alles über sie wissen. Sie sind uns vertraute Menschen, die wir gut kennen, die wir in aller Regel einschätzen können. Suggerieren Stars nun diese Art von Freundschaft, dann verlieren sie für ihre Bewunderer in ebendieser Weise das Unnahbare, welches den Star so bewunderswert machte.
Wie ernüchternd die Entzauberung eines Geheimnisses wirken kann, wurde zu Beginn dieses Textes durch ein persönliches Erlebnis veranschaulicht. Um diesen Vorgang nachdrücklich zu untermauern, wollen wir diese Entzauberung anhand eines Stars skizzieren, der ebendiese Entwicklung in außergewöhnlich flagranter Weise vollzog, weg von einer Bigger-than-life-Aura hin zu einer uninteressant-machenden Gläsernheit und Nahbarkeit, die alles vernichtet, was diesen Star vormals interessant machte.
Die Rede ist von der ehemaligen Deutschrap-Legende Fler, manchmal aus „Flizzy“ oder „Flizz-Meister“ genannt. „Ehemalig“ deswegen, da Fler 2023 alles daran setzt, seinen Legendenstatus im rasanten Tempo zu dekonstruieren.
Fler ist seit über zwei Dekaden Teil der Deutschrap-Szene und leistete in vielerlei Hinsicht Pionierarbeit. Einen hohen Bekanntheitsgrad erlangte er schon zu Beginn seiner Rap-Karriere, während seiner Zeit bei dem damals größten Deutschrap-Label Aggro Berlin. Nach der Labelauflösung im Jahr 2009 geriet er in eine gewisse Relevanzkrise, bis er 2016 durch ein fulminantes Solo-Album eine Renaissance rund um sich und seine Künstlerfigur entfachen konnte. Seither war er wieder eine relevante Größe im Deutschrap-Kosmos, was hingegen nicht allein seiner Musik zu verdanken war. Patrick Losenský — so sein bürgerlicher Name — konnte insbesondere durch seine Aufsehen erregenden Interviews auf sich aufmerksam machen. Durch sein cholerisches Auftreten, gepaart mit den in Predigtform vorgetragenen Weisheiten, wurden seine Interviews zu unterhaltungsträchtigen Gesprächsblockbustern, die — teils genreübergreifend — zuweilen mehr Aufmerksamkeit erregten als seine Alben.
Besagte Interviews erschienen jährlich in zwei- bis dreifacher Ausführung, jeweils kurz vor oder nach einer neuen Albumveröffentlichung. Kurzum, diese Interviews waren rare Schmankerl. Fler war präsent aber nicht dauerpräsent. Ein- bis zweimal pro Jahr erschien ein Album, begleitet von den genannten Kult-Interviews. Hin und wieder gab er Konzerte, bei denen seine Fans ihrem Idol nahe sein konnten.
Selbstredend war Fler bereits Mitte der 2010er Jahre nahbarer als noch in den 2000er Jahren, da er es schon sehr früh verstand, die einschlägigen Social-Media-Plattformen der jeweiligen Zeit für sich zu nutzen. Dieser Umstand sowie sein überausgeprägtes Sendungsbewusstsein wurden bereits 2010 sichtbar, als er auf YouTube ankündigte, das „Fler-Phone“ einzurichten; ein extra Handy, auf dem ihn seine Fans direkt kontaktieren konnten. Damals schon schickte sich Fler an, die Distanz zu den Fans immer weiter zu verkleinern und selbst ein „Star zum Anfassen“ zu werden.
Selbstredend hielt sich das „Fler-Phone“ — auch aufgrund der horrenden Gebühren — nicht lange. Dennoch war dieses Konzept ein erster Riss in dem sakrosankten Status, der Bigger-than-life-Aura. Ein direkter Draht durch eine Telefonnummer macht einen schon deutlich weniger unnahbar.
Neben dem angekündigten „Fler-Phone“ spricht Fler in dieser Ankündigung mit großer Begeisterung über die damals überaus neuartigen Möglichkeiten, als Star jederzeit unmittelbar mit den Fans zu interagieren. Manche der genannten Plattformen lassen einen im Jahr 2023 freilich laut auflachen; SchülerVZ, StudiVZ — damals schon gegendert — MySpace oder Jappy.
FLERTV2010: FLER-PHONE KOMMT
Allein das Ankündigungsvideo selbst ist im Kontext der Geheimnisvernichtung aufschlussreich. Wir sehen hier den Rapstar Fler, aufgenommen durch eine verpixelte und verwackelte Handykamera — im Jahre 2010 damals noch nicht selbstverständlich — in einer Alltagssituation, statt in einem gut ausgeleuchteten Interview-Setting oder einem Musikvideo. Statt als Rapsuperstar wirkt Fler hier ganz gewöhnlich, als jemand, der du oder ich sein könnte.
Die Fan-Star-Interaktion wurde — nicht nur — im Falle von Fler ab Mitte der 2010er wesentlich gangbarer und zwar über die Möglichkeit der Fragerunden auf Instagram, einer Funktion, bei der Fans in Schrift- und Emojiform ihrem Idol Fragen stellen und diese mit hoher Wahrscheinlichkeit auch beantwortet bekamen und bekommen. Von dieser Interaktionsform machte Fler großzügig Gebrauch und stellte bei der Nutzung von Lach-Emojis wohl Weltrekorde auf — ein infantiler Digitalkommunikationsstil, der einem Geheimnis umwobenen Gangsterrapper-Image wohl abträglich sein dürfte.
Im Jahr 2023 hat sich diese Tendenz gegenüber 2010 um ein Vielfaches potenziert. Auf der Streaming-Plattform twitch ist Fler nahezu dauerpräsent. Statt drei Interviews pro Jahr, gibt er nun drei Fler-Talks pro Woche. Diese Sendungsinflation führt selbsterklärend dazu, dass Flers Worte an Spannkraft verlieren und die Inhalte immer weiter verflachen, da sich in Ermangelung an relevanten Neuigkeiten die Themen gehäuft um profane Alltäglichkeiten drehen. Von Predigten hin zu Smalltalk-Gebrabbel. Von Bigger-than-life ist hier nichts mehr zu spüren. Wenn wir wollen, sitzen wir mehrmals die Woche — lediglich durch einen digitalen Screen getrennt — im Wohnzimmer des ehemaligen Rapsuperstars Fler.
Als wäre es nicht schon tragisch genug, dass ihm seine eigenen Geheimnisse nichts gelten, so pflegt Fler zugleich einen sehr amoralischen Umgang mit den Geheimnissen Dritter. Ja er benutzt das Geheimnislüften gar als eine Waffe psychologischer Kleinkriegsführung, um seine Kritiker einzuschüchtern. Als etwa in seinem Umfeld ein verstörendes Video von seinem Rapkollegen Sinan-G geleakted wurde, welches einen schrecklichen Verdacht erhärtet, wurde das verständlicherweise von vielen Akteuren und Connaisseuren der Deutschrapszene auf das Schärfste kritisiert. Unter anderem von dem twitch-Streamer Marvincalifornia. Dafür geriet Marvin beim Flizzmeister in Misskredit, der sich weiterhin auf die Seite von Sinan-G stellte und den Inhalt des Videos runterspielte. Im Zuge der hoch kochenden Eskalation tat Fler Marvincalifornia das an, was neudeutsch „Doxing“ genannt wird — das Leaken von persönlichsten Daten. Fler veröffentlichte den bürgerlichen Namen des Streamers, seine vormalige Arbeitsstelle sowie das Facebook-Profil seiner Mutter. Informationen, die ihrem Wesen nach geheim sind.
Um Musik scheint es am Ende allenfalls nur noch am Rande zu gehen. All das Geheimnisvolle eines Stars, um das sich Mythen ranken können, ist längst zerstört, alles, was noch irgendwie Geheimnis versprechend nebulös sein könnte, wurde bereits in tagelangen Gesprächen gelüftet. Das einzig Nebulöse, was es von Fler noch gibt, ist der weiße Dampf, wenn die Käufer seines Shishatabak selbigen exhalieren.
Wer solche Idole hat, braucht keine Paparazzi mehr. Stars wie Fler werden zu Paparazzi ihrer selbst.
Der Rapper Fler ist einer der Promis, bei denen diese Tendenz der Geheimnisvernichtung am anschaulichsten zu beobachten und zu analysieren ist. Wir können diese bei anderen Stars und Sternchen mal weniger, mal ausgeprägter beobachten. Festzuhalten ist, dass die vereindeutigende Formgebung der Plattformen selbstverständlich auch vor Prominenten nicht halt macht. Physisch-analog mögen die Promis noch in ihren abgeschotteten Domizilen leben, doch mit ihren Auftritten auf Social-Media-Plattformen nehmen sie uns in ihr profanes Alltagsleben mit, das heißt, sie reißen die digitalen Fenster sperrangelweit auf und ermöglichen uns folglich mitunter einen Blick in das Diesseits des eigentlich geschützten Domizils, welches dann in letzter Konsequenz zu einer digitalen Drachenschanze wird, zu der wir online pilgern können.
Insofern hat sich die Hardcore-Band „Kill your idols“ im Jahr 2007 zum genau richtigen Zeitpunkt aufgelöst, denn ab dieser Zeit, mit dem flächendeckenden Aufkommen der Social-Media-Plattformen, wäre bei längerem Bestehen der Bandname schlecht gealtert. Wir müssen nicht mehr unsere Idole — im übertragenen Sinne (!) — „killen“, nein, durch ihre mediale Selbstausschlachtung „killen“ unsere Idole selber das, was sie vormals zu Idolen gemacht hat.
„Ja! Ich habe etwas zu verbergen!“
Wie dramatisch sich die Offenbarung eines Geheimnisses auf ein gesamtes Leben auswirken kann, musste Rainer Winkler, besser bekannt als der YouTuber Drachenlord, über Jahre hinweg schmerzlich erfahren, nachdem er 2014 den überaus verhängnisvollen Fehler machte, in einem 90-sekündigen Wut-Video seine mittlerweile weltbekannte Wohnadresse am Altschauerberg im mittelfränkischen Emskirchen preiszugeben. Dieser Fehler veränderte sein Leben dramatisch und nachhaltig. Nach diesem Geheimnisdammbruch gab es für seine „Hater“ (Haider) keinen Halt mehr und sein Haus wurde über Jahre zur dauerbelagerten Drachenschanze, aus der er 2022 schließlich gänzlich vertrieben wurde, mit anschließender Hetzjagd durch ganz Deutschland.
Vielfach wird der Drachenlord belächelt. Doch sollten wir uns fragen, wie viel vom Drachenlord in jedem Einzelnen von uns steckt. Die meisten geben sicherlich nicht ihre Wohnadresse in den digitalen Äther, doch viele von uns gehen doch ganz und gar unbedarft mit ihren Geheimnissen um, beziehungsweise betrachten ihr auf Social-Media geteiltes Leben nicht als schützenswertes Geheimnis? Völlig sorglos wird fast das gesamte Leben in den asozialen Netzwerken geteilt, sämtliche Datensätze über unsere Einkäufe durch tückisch-bequeme Kontaktloszahlung den Datenkraken gegeben und selbst Handyfotos der eigenen Kinder völlig unbedarft ins Netz gestellt? Ein wirklich absolutes No-Go! Wir sind gläserne Menschen geworden und putzen auch noch die Scheiben unserer transparenten Hülle, um ja die Durchsichtigkeit aufrecht zu erhalten.
Ja, wir sind Rainer Winkler ähnlicher, als wir uns das vielleicht eingestehen möchten. Der Unterschied mag einzig allein darin liegen, dass wir nicht so ulkig und Fremdscham erzeugend auftreten wie er. Doch wir — viele von uns — geben genauso unbedarft unsere Daten ins Netz, ohne ernsthaft über die Konsequenzen nachzudenken.
Irgendwann kann der Raum unserer innersten Geheimnisse und/oder unserer Privatsphäre im übertragenen Sinne genauso zu einer Drachenschanze werden, die dann eben nicht von den „Haidern“ belagert und infiltriert wird, sondern von den menschlichen und maschinellen Schergen einer dystopischen Überwachungstechnokratie nach chinesischem Vorbild.
Wie können wir eine Kultur der Geheimnisse wieder re-kultivieren? Die Ideologie der Transparenz ist tief in unsere Herzen und Hirne eingedrungen, schwer sie wieder herauszubekommen. Was gäbe es zu gewinnen, würden wir die Geheimnisse wieder als Wert an sich anerkennen, den wir auf einen hohen Sockel stellen? Was könnte eine Kultur der Geheimnisse wieder begehrenswert machen?
Wären wir überhaupt noch in der Lage, in einer solchen Kultur zu leben? Schließlich haben wir die zahlreichen Vorzüge der Transparenz schon in so großem Maße internalisiert. Wir können fast jeden Menschen, für den wir uns interessieren, googeln oder auf Social-Media-Plattformen ausfindig machen und dessen Profil detailliert studieren, um uns ein (Zerr)bild von ihm oder ihr zu machen. So viele von uns haben sich gewöhnt an die Immunisierung gegenüber bösen Überraschungen, zum Preis, gar nicht mehr überrascht zu werden.
Haben wir es nicht mittlerweile verinnerlicht, vor einer Urlaubsbuchung oder einem Restaurantbesuch vorher die Google-Rezensionen durchzulesen, um uns zu vergewissern, dass wir auch ja das vorfinden, was wir erwarten? Treiben wir nicht unlängst durch die Welt als Perpetuum mobile unserer Gewohnheiten, Präferenzen und Erwartungen, abgesichert gegen jedwede Abweichung von dem uns Vertrauten? Sind wir überhaupt noch fähig und willens, uns auf das Geheimnisvolle, das heißt das Nicht-Vorhersehbare einzulassen?
Würden wir uns gesellschaftlich auf eine Rückbesinnung zur Diskretion, zur Zurückhaltung und weg von der Ideologie der Transparenz verständigen, wäre dies zweifelsohne zunächst einmal eine Art Entzug. Die Gewissheit, die wir durch das Zurückdrängen der Geheimnisse erhalten, kann wie eine Droge wirken, deren Absetzung folglich bedeuten würde, mit Ungewissheiten und der Nicht-Kenntnis zurechtzukommen. Keine blauen Häkchen mehr, die zeigen, dass eine Nachricht gelesen wurde. Unklarheit darüber, wie bekömmlich das Restaurant kocht, welches ich nun betrete, und vielleicht auch keine Informationen im Netz über einen Menschen, der sich bei meinem Unternehmen bewirbt.
Die Fähigkeiten, mit Geheimnissen umzugehen, ist uns in den letzten eineinhalb Jahrzehnten abhanden gekommen und ist eine Gabe, die wir wieder erlernen dürfen. Dabei ergibt sich ein gewisses...nennen wir es Langeweile-Paradoxon. Nicht unmittelbar über das eigentlich Geheime verfügen zu können, kann zunächst eine kurzfristige Art von Langeweile hervorrufen. So gewohnt sind wir es, dass wir fast alles zu jederzeit in Erfahrung bringen können. Können wir das aufgrund sich verändernder Konventionen, Normen und Werte irgendwann nicht mehr oder nur eingeschränkt, mag das im ersten Moment langweilig sein. Doch langfristig entsteht in dieser Leere genau das, was uns durch die Dauerverfügbarkeit abhanden gekommen ist: die Fantasie. Wo wir uns auf digitalen Screens kein Bild mehr von einer Sache oder einem Menschen machen können, da beginnt irgendwann unsere Fantasie damit, eigene und nicht von außen kommende Bilder zu malen.
Wir wissen beispielsweise nichts über den Ort, den wir bereisen — wie groß wohl der Überraschungseffekt sein wird, wenn wir an ebendiesen Ort reisen, wenn wir ihn nicht schon vorher auf Google-Maps abgecheckt haben. Oder wir interessieren uns für einen Menschen oder begehren ihn gar, finden ihn aber auf keiner Social-Media-Plattform, generell nirgendswo im Netz. Wir kennen diesen Menschen nur aus flüchtigen Begegnungen in der analogen Welt — ja, wie wird da unsere Fantasie beginnen zu galoppieren? Fragen, die diesen Menschen betreffen, werden aufkommen und diese Fantasie noch mehr beflügeln. Um ein wie vielfaches interessanter wirkt ein Mensch auf uns, wenn wir sein Leben nicht minutiös dokumentiert auf Instagram vorfinden? Um ein wie vielfaches größer ist der Reiz, diesen Menschen dann real kennenzulernen, wenn wir wissen, dass es bei diesem noch so viel zu entdecken gibt?
Sprechen wir in diesem Zusammenhang von Reizen, so ruft diesen doch in allen Bereichen immer das Andeutende hervor. Beim Grusel sind es etwa die un-heimlichen Geräusche, die ihren Verursacher andeuten, aber letztlich nicht verraten; oder die Haifischflosse, die uns eine Vorahnung gibt, was sich da unter der Wasseroberfläche verbirgt. Bei Kleidung und der Erotik sind es gewisse Schnitte des Textils, die die begehrenswerte Physis des jeweiligen Geschlechts andeutet; das Dekolleté, der am Brustbereich nicht zugeknöpfte Hemdkragen oder die vertikal verlaufenden Lücken im langen Abendkleid. Bei Automobilen ist es die Erlkönig-Karrosserieverkleidung der brandneuen Prototypen, die den Betrachtern andeuten, welch geschmeidig designtes Gefährt sich unter der Abdeckung befindet.
Neben der Wiederentdeckung eines Reizes kann das Geheimnisvolle auch etwas Behütendes bieten, ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Dies wird sehr schnell klar, wenn wir uns unser Privileg vor Augen führen, dass wir — die allermeisten — allein durch die Tatsache, nicht berühmt zu sein, die Träger eines Geheimnisses sind, welches jeder Prominente arg vermisst.
Das Geheimnis sind wir selbst. Unser Nicht-Promi-Status, die weitestgehende Unbekanntheit unseres Namens ist für die allermeisten Menschen, denen wir begegnen, ein Geheimnis. Wir haben die Freiheit, uns durch den öffentlichen Raum bewegen zu können, ohne permanent angesprochen oder um ein Selfie gebeten zu werden.
Was denken Sie, wie jeder Promi Sie um diese Freiheit beneidet, die sie dem Geheimnis um ihren Namen und um ihr Gesicht verdanken? Sie können sich jeden Tag ob dieses Geheimnisses erfreuen. „Ach, wie gut, dass — fast — niemand weiß, dass ich XY heiß.“
Eine Re-kultivierung des Geheimnisses könnte dazu führen, dass das im Westen weit verbreitete Streben, unbedingt berühmt werden zu wollen, endlich hinterfragt wird. In die eigene Nicht-Berühmtheit zu investieren beziehungsweise dem Bekannt-Werden vorzubeugen — zumindest was den privaten Menschen hinter einer Person des öffentlichen Lebens anbelangt —, ist eine ausgezeichnete Vorbeugemaßnahme, um sich vor Shitstorms zu schützen. Je weniger wir das unvergessliche Netz mit Informationen über uns speisen, desto weniger Angriffsfläche bieten wir.
Das ist es, was es wiederzugewinnen gibt; den Reiz, den das Unbekannte ausübt sowie eine in Vergessenheit gerate Freiheit, die die Anonymität mit sich bringt.
Wie könnte eine Gesellschaft wieder zu einer Gesellschaft werden, die das Geheimnisvolle kultiviert? Die Antwort: erst einmal gar nicht. Für das Geheimnisvolle gilt das Gleiche wie für die Transparenz — sie darf niemandem aufgezwungen werden. Wer aus sich kein Geheimnis machen möchte, wer das Geheime scheut, der soll auch weiterhin sein gläsernes Dasein führen dürfen. Es sollte gleichermaßen die Freiheit bestehen, sich in Gewänder des Geheimnisvollen zu hüllen, als auch, sich sämtlicher Geheimnisse zu entledigen. Doch darf weder das eine noch das andere mit irgendwelchen ökonomischen Anreizen oder Vorteilen oder auch Nudging gefördert werden. Die Menschen müssen sich auf der Skala zwischen Transparenz und Geheimnis frei bewegen dürfen.
In erster Linie sollte es darum gehen, ein Alternativmodel zur gegenwärtigen Transparenz-Ideologie zu entwerfen, das die Menschen vorleben, denen an der Re-Kultivierung des Geheimnisvollen gelegen ist. Dieses Alternativmodel kann eine Strahlkraft entwickeln und ausüben auf jene, die eine Wiederbesinnung auf das Geheimnisvolle unterbewusst begehren, doch in der neuen Ordnung der (Un)Dinge schon vollkommen vergessen haben, wie schön es sein kann, nicht in völliger Transparenz zu leben. Das von der Politologin Ulrike Guérot geforderte Menschenrecht auf ein analoges Leben beinhaltet zugleich das Recht auf ein intransparentes Leben.
Selbstverständlich muss auch dieses Recht gewissen Einschränkungen unterworfen sein. Die Ideologie der Transparenz betrifft uns, die unbescholtenen Bürger, hingegen nicht betroffen sind die Akteure der globaloligarchischen Schattenmächte — die sind allenfalls dann gläsern, so die Scheiben getönt sind. Das „ich werde nichts besitzen, keine Privatsphäre haben“ gilt ja schließlich nur für „uns“ aber nicht für die geistigen Architekten dieses Konstrukts. Bei den Epsteins, Gates, Fabianern, YGLs, Skull & Bones-Mitgliedern, Königshäusern, Monarchen und den Familien, deren Name nicht genannt werden darf — bei all denen wäre ein flächendeckendes Geheimnislüften mehr als angesagt. Hier sollte es dringend zu einem Stoßlüften des Nebulösen kommen — aber nicht bei uns einzelnen Menschen. Sich auf Geheimnisse zu berufen, ist selbstverständlich dann abzulehnen, wenn sie Kriminelles, Betrügerisches, Bösartiges oder Missbräuchliches zum Gegenstand haben.
Gleiches gilt für die Unehrlichkeit im Zusammenhang mit Unausgesprochenen, was wir — weil wir harmoniebedürftig sind — nicht verbalisieren, wenn wir „ja“ sagen, aber „nein“ meinen oder das Gedachte Gedachtes sein lassen, statt es auszusprechen, es herunterschlucken. Hier ist es in unserem eigenen Interesse, dieses Geheimnis nicht länger ein Geheimnis sein lassen, sondern es auszusprechen.
Dieser Einschub über die Einschränkungen des Alternativmodells ist wichtig. Es wird hier auch bewusst von einem Alternativmodell gesprochen, statt von einem Gegenmodell. Eine Ideologie der totalen Abschottung ist genauso abzulehnen wie eine Ideologie der totalen Transparenz. Es geht um ein Wiedereinpendeln zwischen Geheimem und Transparentem. Wir alle — oder zumindest die meisten — haben etwas zu verbergen aber gewiss nicht alles.
Eine Re-Kultivierung des Geheimnisses würde bedeuten, wieder besser abzuwägen, was wir wem in welchem Umfang mitteilen. Es bedeutet auch, wieder ein Gespür, einen Instinkt dafür zu entwickeln, welche Informationen wir über welche Kanäle, mit welchen — digitalen — Mitteln hinaustragen. Und es bedeutet, wieder Abwehrmechanismen gegenüber den Datenkraken und Überwachern zu entwickeln, statt sie weiter gewähren zu lassen, uns durchzuröntgen.
Es ist unser Recht, selbstbewusst in die Welt zu gehen und Menschen vom Schlag einer Ida Auken entgegenzurufen: „Ja! Ich habe etwas zu verbergen! Und das ist mein verdammtes Recht!“ Wir haben das Recht zu schweigen, die Gardinen zuzuziehen, die Stimme zu einem Flüstern zu senken, mit ausgestreckten Zeigefingern an den Lippen auf ein Stillschweigen einzuschwören, uns Rückzugsräume zu schaffen und zu bewahren, durch VPN keine Brotkrümel im Netz zu hinterlassen, anonym mit Bargeld und Kryptowährungen zu zahlen, elektronische Patientenakten, das Zusammenführen von Pässen und Social-Media-Plattformen abzulehnen, ebenso wie Chips in Haut und Hirn.
Die Verteidigung unseres Wesensbestandteils, Träger von Geheimnissen zu sein, ist weit mehr als nur der Schutz unserer Privatsphäre; es ist konstitutiv für das Mensch-Sein in Würde und Freiheit. Nur dann, wenn wir in der Lage sind, unsere Geheimnisse zu bewahren, dann können wir uns selbst erhalten, selbstbestimmt nach unserem eigenen, freien Willen leben.
Weigern wir uns, gläserne Menschen zu werden. Glas ist durchschaubar und zerbrechlich.