Die Generationenschuld

Unsere Vorfahren hatten Millionen Kriegstote auf dem Gewissen — wir vielleicht den ganzen Planeten. Exklusivabdruck aus „Zähmt die Wirtschaft!“.

„Warum habt ihr nichts dagegen getan?“ — solche Vorwürfe haben Nachkriegsdeutsche gegen ihre Väter und Mütter immer wieder erhoben. Hintergrund ist die Idee, „wir“ hätten — hätten wir unter der Hitler-Diktatur gelebt — irgendwie wacher, mutiger und edler gehandelt als unsere Vorfahren. Das mag im Einzelfall zutreffen; nichts deutet aber darauf hin, dass die Generationen, die heute am Ruder sind, insgesamt mit größerem Verantwortungsbewusstsein gesegnet wären. Klimakatastrophe, Artensterben und Vermüllung sind „unser“ großer Krieg, und wir führen ihn gegen alles Leben auf dieser Erde. Kann sich eine ganze Generation schuldig machen? Verantwortung jedenfalls kann jeder von uns tragen und dazu beitragen, unser mörderisches Wirtschaftssystem zu verändern.

Wir Kinder sollten es wohl nicht hören. „Mitläufer!“, hatte mein Vater gerade gesagt, mit einer Mischung aus Wut und Resignation in der Stimme, und verschwand mit meiner Mutter im Zimmer nebenan. Heute weiß ich, dass er ihre Frage zu seinem Verfahren bei den Nürnberger Prozessen beantwortet hatte. Er war Direktor eines Kaiser-Wilhelm-Instituts gewesen, einem Vorgänger der Max-Planck-Institute. Forschungsdirektoren verurteilten die amerikanischen Richter zumindest als „Mitläufer“ des Hitler-Regimes, auch wenn sie nicht unmittelbar an den Gräueltaten des Dritten Reichs beteiligt waren.

„Mitläufer“, das hatte so einen Anflug von Mitschuld, der meinem Vater zu schaffen machte. Er hatte sich 1923 in München an der Niederschlagung des ersten Hitler-Putschs beteiligt. Er hatte das Parteibuch, das ihm die NSDAP aufgrund seiner Position zugesandt hatte, zurückgegeben. Er war abgehört und beobachtet worden und hatte nie die Hand zum Hitlergruß gehoben. Und dennoch galt er jetzt als mitschuldig, als einer, dessen Generation am größten Verbrechen des Jahrhunderts beteiligt war. Er war eben Teil dieser Generation, hatte seine Rolle als Wissenschaftler in verantwortlicher Position wahrgenommen und war in wirtschaftlich schwieriger Zeit mit seiner Karriere als Wissenschaftler und mit seiner neu gegründeten Familie beschäftigt, politisch sehr interessiert, aber nicht wirklich engagiert und generell kritisch gegenüber dem Nationalsozialismus.

Hätte er damals mehr tun können? Denn später, nach dieser sogenannten Machtübernahme und Perfektionierung von Gestapo und SA war wirklicher Widerstand nur noch unter Lebensgefahr möglich. Da war es zu spät, da blieb nur noch die Konzentration auf den Beruf und den Schutz als anerkannter Wissenschaftler für einen kriegswichtigen Rohstoff.

Mein Vater war Direktor eines Instituts für Lederforschung. Leder war in der nationalsozialistischen Zeit ein wichtiger Grundstoff. Auch heute noch ist es nicht perfekt durch Plastik zu ersetzen, und gutes Leder setzt Importe von Gerbstoffen aus dem Ausland voraus. Forschung für neue Gerbverfahren galt deshalb als kriegswichtig. Und als international anerkannter Spitzenforscher blieb er Direktor des Instituts mit fast zweihundert Mitarbeitern, obwohl er nicht „linientreu“ war. Wird daraus eine Mitschuld? Hätte er berufliche Stellung, Einkommen und Lebensstandard aufgeben und seine Familie in die Zurückgezogenheit oder gar ins Ausland verbannen sollen?

Worin bestand also seine Schuld? Sicher, er war „Mitläufer“ dieser Generation, die diesen dramatischen Rassenhass und einen zweiten großen Krieg zuließ. In diesem Sinne sehe ich auch bei ihm eine Mitschuld, wenn auch durch die schwierigen Umstände gemindert.

Generationenschuld — gibt es das überhaupt? Das frage ich mich heute immer wieder.

Kann man eine ganze Generation in Haftung nehmen? Bin nicht auch ich Teil einer Generation, die schwere Schuld auf sich lädt? Der Klimawandel, der Rückgang der Artenvielfalt, die Vermüllung der Meere — das sind doch alles von unserer Generation geschaffene Probleme.

Probleme übrigens, die mit europäischer Technologie ihren Ausgang nahmen und für die unser politisches System keine Lösung findet.

Wir stecken tief in einer Systemkrise, einer Zivilisation, die zwar die Kindersterblichkeit verringern und die Lebenserwartung erhöhen kann, aber zugleich den Planeten ausbeutet, als gäbe es kein Morgen und keine Verantwortung für Umwelt und die Generationen nach uns.

Und wie betrifft das mich? Zweifelsohne bin auch ich ein Mitläufer, bin beteiligt an dieser Systemkrise. Sicher, ich könnte sagen: „Auf mich kommt es nicht an.“ Aber stimmt das? Denn die Systemschwächen sind letztlich durch uns alle bedingt. Wir leben in einer Demokratie. Wir dürfen zwar nicht direkt mitbestimmen, aber wir dürfen immerhin unsere Meinung ziemlich frei äußern, zumindest in Europa. Die Schuld, die Generationenschuld beginnt wohl da, wo man Ideen zur Veränderung, zur Verbesserung hat, sich an Diskussionen beteiligen und sich äußern kann — und sich dennoch zurückzieht auf genau diese Position: „Auf mich kommt es nicht an.“

Zurückziehen — das passt nicht zu meinem Ehrgeiz. Ich möchte Probleme lösen. Wie es übrigens auch viele andere wollen. Da große Änderungen Diskussion und Ideen brauchen, möchte ich mich einmischen, Anregungen geben, Wege zeigen, wie unsere Zivilisation auf ein nächstes, ein höheres Plateau sozialer Kultur kommen könnte. Wir erleben aktuell eine dramatische Verstrickung unserer Zivilisation zwischen den Gegenpolen Generationenegoismus und Generationenschuld. In so einer Phase nichts zu tun, wäre verantwortungslos. Es wäre auch eine Missachtung all dessen, was Eltern, Lehrer und Gönner und die Allgemeinheit in mich, ja in uns, die sogenannte Elite, investiert haben.

Ich war dabei besonders vom Glück gesegnet. Trotz häufiger Faulheit bin ich mit ebendiesem Glück durch Schule und Studium manövriert, habe später bei Heisenberg promoviert, einem der Intelligentesten der Nachkriegszeit, danach in Boston am MIT studiert, einer der Eliteuniversitäten der USA, die immer an vorderster Front lag, wenn es um neue Technologien ging, und bin schließlich bei einer Firma gelandet, zu der ich erst nicht hinwollte, bei der ich aber von Anfang an in herausforderndes Innovationsmanagement und internationale Führungsfunktion einsteigen konnte, die mich dann in fast alle Länder der Welt führte.

Welch ein Glück — und welch eine Aufforderung, Erfahrungen zurückzugeben an das Land, an den Kontinent, dem ich das alles verdanke.

Zurückzugeben auch, weil viele Bürger nicht die Chance dieser vielen Erfahrungen und Eindrücke haben, und zurückzugeben, weil ich bei den Kollegen der Wirtschaft allzu oft eine merkwürdige Zurückhaltung sehe, gar eine Ängstlichkeit, nicht nur von den Vorzügen der Marktwirtschaft zu schwärmen, sondern auch ihre Schwächen einzugestehen und gegen sie anzuarbeiten. Denn es ist die fehlende Werteorientierung der Marktwirtschaft, deren Defizit der Kern der globalen Probleme unserer Zivilisation ist.

Systemänderung statt nur Lebensstil

Vieles habe ich gesehen, Positives und Schreckliches, Aufopferndes und Gemeinheiten, und ich habe mit Politikern und mit Wissenschaftlern gesprochen, manchmal auch gestritten. Ich bin Idealisten begegnet, die sagen: „Nein, das muss nicht so sein, eine humanere, eine fairere Welt ist möglich!“, und die Lösungen vorschlagen, neue Systemregeln, manches realitätsnah, häufiger aber eher sozialistisch staatsgläubig — immer noch — oder naiv unrealistisch. Aber der Wille, zu verändern, ist mir immer wieder begegnet.

Ich habe Hunderte von Büchern über Werteorientierung in der Wirtschaft, über Nachhaltigkeit, über Klimawandel und über geänderten Lebensstil in meinen Regalen. Deren typische Ansätze haben mich allerdings meist wenig überzeugt: Nur Anklagen, wie in Tausenden von Büchern und Hunderttausenden von Vorträgen und Postings mit der immer wiederholten Botschaft „endlich Vernunft“ und einen anderen „Lebensstil“ anzunehmen, genügen nicht. Das mag man sich wünschen, aber die individuelle Vielfalt und unsere „Unvernunft“ verhindern, dass allein daraus eine neue Kultur entsteht. Lösungen müssen am System ansetzen, nicht nur am Individuum.

Ich glaube nicht, dass die Mehrzahl der Bürger die Erschwernisse eines „anderen“, beispielsweise emissionsfreien und auch sonst vorbildlich nachhaltigen, Lebensstils freiwillig auf sich nehmen würde — unabhängig davon, wie diese Umerziehung indoktriniert wird. Vielmehr führt wohl kein Weg daran vorbei, dass wir unser wirtschaftliches System ändern, dass wir es mit der Leitlinie der Nachhaltigkeit weiterentwickeln.

Das beobachte ich auch an mir, denn für ein „Nullemissionsleben“ wäre ich zu bequem — obwohl die wenigen Menschen, die das versuchen, von einem befreienden Gefühl sprechen. Wie dem auch immer sei: Von diesem arg kleinen Beitrag zur „Lösung“ der Probleme bin ich nicht überzeugt. Als Nullemissionsheld bin ich ungeeignet, aber lösungsorientiert war immer meine Devise — und darum geht es in diesem Buch.

Ich erwarte vom System, also von unserer Marktwirtschaft und von den politischen Vorgaben, dass nur Infrastruktur und Waren angeboten werden, die nachhaltig und unbelastet sind, und dass die übliche Haltung der Unternehmen, Profiten mehr Priorität zu geben als Fairness, ausreichend kontrolliert wird. Ich weiß, dass viele genau das Gleiche wollen wie ich. Das also gilt es zu erreichen: bessere Kontrolle der Fehlentwicklungen der Marktwirtschaft durch die Politik sowie mehr Engagement der Wirtschaft, selbst verantwortungsvoll zu agieren.

Dabei können wir darauf vertrauen, dass der überwiegende Teil der Bürger eine nachhaltig verantwortungsvolle Zivilisation will, wie es Umfragen immer wieder bestätigen. Das gilt es zu nutzen als Gegengewicht zur Macht des wirtschaftsnahen Lobbyismus und seiner großen Verbände. Und als Gegengewicht zu einer oft mutlosen Politik, immer wieder erkennbar dominiert wird vom Streben nach Machterhalt.


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Peter Grassmann: „Zähmt die Wirtschaft! Ohne bürgerliche Einmischung werden wir die Gier nicht stoppen”, 256 Seiten, Westend Verlag, 1.3.2019