Die Gedankenpolizei

In den USA diskutieren neokonservative Kreise bereits über das Ende der Redefreiheit im Internet.

China gilt ja in den USA vielfach als der Erzfeind. An so gut wie allem ist das Riesenreich im Osten schuld, auch an Corona. Wenn es um „gelungene“ Repressionsmaßnahmen geht, wird der Feind jedoch schnell zum Vorbild. Um die Normen und Werte der Gesellschaft aufrechtzuerhalten, bedürfe es einer Zensur des Internets vonseiten der Regierung — so oder ähnlich argumentieren die Befürworter einer Internetüberwachung nach chinesischem Vorbild. Wenn es jenen nützt, die am Mainstream-Narrativ weben, geben sie sogar China recht. Sprachkontrolle jedoch ist auch Gedankenkontrolle. Der bekannte Liedtext „Die Gedanken sind frei“ könnte schon bald nur noch historisch Gültigkeit haben.

Die neokonservative Zeitschrift The Atlantic hat einen Artikel zweier Universitätsprofessoren unter dem Titel „Die Redefreiheit im Internet kommt nie mehr zurück“ veröffentlicht. Er trägt den Untertitel „In der Debatte über Redefreiheit versus Internetkontrolle hat China weitgehend recht behalten — und die USA haben sich geirrt“.

Es lohnt sich, den Artikel in voller Länge zu lesen — nicht nur, weil er empörend ist für jeden, der zwischenmenschliche Kommunikation frei sehen will von Zensur durch Oligarchen und Regierungsstellen. Er ist auch voller — ausführlich durch Quellen belegter — Informationen darüber, wie die Technologiegiganten des Silicon Valley mit den westlichen Regierungen bei der Internetzensur zusammenarbeiten. Der einzige Unterschied zwischen diesem Artikel und einem, den man auf einer libertären Webseite finden könnte: Hier werden all diese Zensurmaßnahmen positiv bewertet.

Hier ist eine archivierte Version des Artikels, wenn Sie nicht The Atlantic anklicken wollen, dessen Chefredakteur Jeffrey Goldberg einstmals der Welt versicherte:

„Die kommende Invasion des Irak wird als eine hochmoralische Tat in die Geschichte eingehen.“

Unbedingt lesen, wenn Sie Interesse und Zeit haben.

Freiheit versus Kontrolle

„In der großen Debatte der letzten beiden Jahrzehnte über Freiheit versus Kontrolle im Internet hat China weitgehend recht behalten, die USA hatten weitgehend unrecht“ schreiben die Autoren, von denen einer in der Bush-Regierung als Anwalt tätig war.

„Ein signifikantes Maß an Überwachung und an Kontrolle der Sprache sind unverzichtbare Komponenten für ein ausgereiftes und florierendes Internet. Regierungen müssen eine wichtige Rolle in diesen Praktiken spielen, damit das Internet mit den Normen und Werten einer Gesellschaft kompatibel bleibt.“

Der Artikel zeichnet ein genaues Bild davon, wie angeblich unabhängige Plattformen sozialer Medien mit den Regierungen und untereinander zusammengearbeitet haben, um Sprache zu regulieren — und wie dies während der Covid-19-Pandemie gesteigert wurde. So wird zum Beispiel angeführt, dass „Marc Zuckerberg im März 2019 die Regierung aufforderte, ‚schädliche Inhalte‘ auf Facebook zu zensieren“, oder dass „Facebook — wie auch in anderen Bereichen — auf Faktenchecks durch Organisationen und ‚Behörden‘ (von der WHO bis zu den Regierungen der US-Bundesstaaten) vertraut, um zu entscheiden, welche Inhalte zu löschen oder herunterzustufen sind.“

Strategische Zusammenarbeit

„Diese Plattformen haben ‚strategische Zusammenarbeit‘ mit der US-Regierung betrieben, inklusive der Weitergabe von Informationen, um ausländische Einmischung in Wahlen zu bekämpfen“, berichtet The Atlantic, nachdem dort im Detail dargelegt wurde wie Facebook, Twitter und Youtube Zensur ausgeübt haben — in „aggressiven, aber noch verbesserungsfähigen Schritten, um ausländische Gegner abzuwehren“.

„Die von digitaler Sprache ausgehenden Gefahren werden im gleichen Maße zunehmen wie die Sprachkontrolle in diesen Netzwerken“, versichern die Autoren.

„Und die Regierungseinmischung wird sich unweigerlich verstärken. Im Augenblick trifft der private Sektor die meisten wichtigen Entscheidungen, wenngleich oft unter Druck seitens der Regierung. Wie Zuckerberg schon plädierte, werden die Firmen jedoch ohne deutlichere Leitlinien und direkte Beteiligung der Regierung Sprache nicht legitim regulieren können. Es ist auch nicht klar, ob die Unternehmen ohne mehr Regierungsüberwachung in der Lage sind, ausländische Falschinformationen einzudämmen sowie digitale Angriffe auf die Wahlverfahren zu verhindern.“

China imitieren, um es zu besiegen

Der Artikel erscheint nur Tage nach einem ähnlich lesenswerten Artikel von Whitney Webb:

Technotyrannei. Wie die nationalen Sicherheitsbehörden Covid-19 benutzen, eine Orwell’sche Vision zu verwirklichen.“

Webb berichtet von einem im Rahmen des Freedom of Information Acts erhaltenen Dokument einer Regierungsorganisation namens NSCAI (National Security Commission on Artificial Intelligence). Dieses spricht sich für die Notwendigkeit aus, autoritäre Maßnahmen nach chinesischem Muster wie stärkere Überwachung zu implementieren, um zu verhindern, dass die Volksrepublik die USA technologisch überholt.

Webb berichtet beispielsweise, wie das Dokument „die Massenüberwachung von Chinas ‚riesiger Bevölkerung‘ als Beispiel dafür anführt, wie China den Vorteil in der Größe seines Verbrauchermarktes nutzt, um auch bei verwandten Technologien wie der Gesichtserkennung einen Sprung nach vorne zu machen.“

Auch der Thinktank Tony Blair Institute for Global Change spricht sich in einem neuen Bericht für mehr Massenüberwachung aus. Seiner Meinung nach ist ein drastischer Anstieg der technischen Überwachung ein „angemessener Preis“ für den Kampf gegen Covid-19. Aber das ist schon komisch: Wenn der Thinktank eines Schoßhündchen-Premierministers von Bush sich für mehr Überwachung als angemessenen Preis für die Pandemiekontrolle ausspricht, ist das etwa vergleichbar damit, wenn eine Straßenräuberbande eine Abkürzung durch dunkle Alleen nähme, da der Zeitgewinn das erhöhte Risiko, ausgeraubt zu werden, rechtfertige.

Also, das ist großartig. Manager von Mainstream-Narrativen fordern lautstark dem Kalten Krieg ähnelnde Eskalationen gegen Chinas böse autoritäre Regierung, während sie gleichzeitig befürworten, dass westliche Regierungen Pekings schlimmste autoritäre Praktiken nachahmen. Das ist, wie wir bereits erörtert haben, Meinungsmache, um den Weg für drastische Schritte seitens des unipolaren US-Imperiums zu ebnen, damit China nicht auf die Überholspur gerät und eine multipolare Welt aufbaut. Je freier die Menschen darin sind zu denken, zu handeln und zu organisieren, desto schwerer werden sich solche Schritte noch durchsetzen lassen.

Oligarchen haben kein Recht zu kontrollieren, was wir einander sagen können und was nicht. Regierungen haben kein Recht, uns immer gläserner zu machen und sich selbst immer undurchschaubarer. Das ist grauenhaft, menschenverachtend und es muss aufhören.

Bei der Redefreiheit geht es im Kern um die Freiheit des Denkens. Die Sprache ist das Trägermedium der Gedanken: Wer sie kontrolliert, der kontrolliert die Verbreitung von Ideen. Zensur bedeutet, Kontrolle darüber auszuüben, was die Menschen denken. Sprachkontrolle ist Gedankenkontrolle.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien unter dem Titel „Narrative Managers Argue China-Like Internet Censorship Is Needed“ zuerst auf caitlinjohnstone.com. Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.