Die Friedensbewegung ist zurück
Während sich Kriegstreiber bei der Münchner SiKo trafen und eine ukrainische Demo Waffenlieferungen forderte, erlebte die Friedensbewegung am 18. Februar ihre Wiederauferstehung.
Wohin mit dem Frieden? Bei den diesjährigen Gegenprotesten zur Sicherheitskonferenz (SiKo) war diese Frage für Friedensbewegte gar nicht so einfach zu beantworten. In den vorherigen Jahren — 2021 einmal ausgenommen — stellte sich diese Frage nie. Das politische München war an diesen jährlich herausragenden Wochenenden stets bipolar. Da gab es das Treffen der Kriegstreiber im Hotel Bayerischer Hof einerseits und die Anti-SiKo-Demo auf der Straßenroute rund um das abgeriegelte Hotelgelände andererseits. Dass die Welt multipolarer wird, spiegelte sich am vergangenen Februar-Wochenende in München. Da gab es nicht allein die Dichotomie aus SiKo-Kriegstreibern und Anti-Siko-Friedensbewegten. Stattdessen fanden zahlreiche Veranstaltungen parallel statt, sodass es sich als schwierig herausstellte, den Überblick zu behalten. Während die Sicherheitskonferenz traditionell stationär in dem Luxushotel abgehalten wurde, waren die verschiedenartigsten Demonstrationen weit verstreut und fragmentiert über das Innenstadtgebiet verteilt. Dieses Jahr verfügte die SiKo — und das ist sehr außergewöhnlich — über einen verlängerten Arm auf der Straße, auf welcher sie sonst nichts als Kritik und Protest erfährt. Am historisch belasteten Odeonsplatz vor der Feldherrenhalle fand eine Pro-Ukraine-Demo statt, auf der prominente SiKo-Gäste sprachen und auf der lauthals die Lieferung von Waffen gefordert wurde. Das klassische Anti-SiKo-Bündnis verlor dieses Jahr an Zulauf. Der Schwarze Block der Antifa war verhindert, weil damit beschäftigt, eine kleine AfD-Kundgebung niederzubrüllen. Zugleich fand am Königsplatz eine Friedensdemo des Bündnisses „Macht Frieden“ statt. Ein Zusammenschluss mit dem klassischen Anti-SiKo-Bündnis hatten Letzere abgelehnt. Der Zulauf bei „Macht-Frieden“ sprengte jegliche Vorstellungskräfte und verbildlichte Friedrich Hölderlins Worte: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Es folgt ein Vor-Ort-Bericht.
Winde wie im Frühjahr und Sonnenstrahlen, die die Wolkendecke durchlöchern; das Wetter spiegelte am 18. Februar 2023 die politische Wetterlage in München. Dunkle Kriegslüsternheit trifft auf das Licht der Friedensbewegten. Zum Demonstrieren war dieses Wetter wie gemacht. Statt der für SiKo-Wochenenden typischen Frosttemperaturen, luden milde Temperaturen zu geöffneten Jacken ein und die Winde ließen die Fahnen, Flaggen und Ballons besonders lebendig flattern.
Kurz vor 12 Uhr Mittags, eine Stunde vor Beginn der Friedensdemonstration des Bündnisses „Macht Frieden“ herrscht am Münchner Königsplatz Aufbruchstimmung. Vor dem majestätischen Tempeleingang, den Propyläen, wird die Bühne aufgebaut, anwesende Pressevertreter bauen ihre Stative auf. In einer Höhe von wenigen hundert Metern kreist ein Polizeihelikopter, um sich ein Gesamtbild der Lage zu verschaffen. Diesjährig kein leichtes Unterfangen, da die politische Musik an vielen Orten gleichzeitig spielt.
Übersichtskarte zu den verschiedenen Demonstrationen und Demonstrationszügen in der Münchner Innenstadt am 18.02.2023. Erstellt mit © Google-Maps.
Gespaltene Friedensbewegung?
Zwischen Pavillons, Kleinbusen, herumschwirrenden Technikern nimmt sich die Pressesprecherin des Bündnisses „Macht Frieden“ Mona Aranea Zeit für ein kurzes Interview:
Mona Aranea ist Pressesprecherin des Bündnisses „Macht Frieden“. Foto: © Hannes Henkelmann.
Nicolas Riedl: Der Zusammenschluss mit dem klassischen Anti-SiKo-Bündnis scheiterte, wie aus einem veröffentlichten Briefwechsel zwischen beiden Bündnissen hervorgeht. Nun hätten Sie und alle Teilnehmer Ihrer Demonstration theoretisch an der klassischen Anti-SiKo-Demo als „normale Demonstranten“ ohne Label des Bündnisses teilnehmen können. Sie haben sich dennoch dafür entschieden, eine eigene, separate Demonstration zu veranstalten — warum?
Mona Aranea: Es ist wichtig, dass heute viele Menschen in München für den Frieden demonstrieren. Und die Anti-Siko-Demo ist durchaus eine gute Veranstaltung. Nur macht dieses Bündnis kein Angebot für alle Menschen, einige fühlen sich ausgeschlossen. Der Schwarze Block stellt innerhalb dieses Bündnisses ein großes Problem dar, insbesondere für Menschen aus der bürgerlichen Mitte. Diese fühlen sich von der Antifa abgeschreckt, weil sie sich nicht an die Grundsätze einer gewaltfreien Politik hält. Da wir heute für den Frieden demonstrieren, kommt es für uns nicht in Frage, die Antifa in unser Bündnis zu holen, denn wir möchten eine Demo abhalten, die zu einhundert Prozent friedlich und gewaltfrei ist. Daher sehen wir unsere Demo als ein ergänzendes Angebot.
Unserem Bündnis wird vorgeworfen, wir seien „rechtsoffen“. Wir sind der Meinung, dass der Weg zum Erfolg durch die Mitte führt und der gesellschaftlichen Mitte macht man kein Angebot, wenn nur linke Gruppierungen eingeladen werden.
Manche Kritiker würden Ihnen nun vorwerfen, dass das Bündnis die Gegenbewegung zur Sicherheitskonferenz spalten würde. Sie sehen das hingegen als Gegenangebot für Friedensbewegte, die sich mit gewalttätigen Gruppierungen nicht identifizieren können?
Genau. Ich komme selber aus der globalisierungskritischen Bewegung und ich habe früher auch an globalisierungskritischen Demos teilgenommen, beispielsweise gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm, gegen die Welthandelsorganisation in Genf. Und mich selber hat der Schwarze Block schon immer gestört, denn meistens stört und delegitimiert er die Demos durch Gewalt. Und das wollen wir heute nicht und distanzieren uns von der Gewalt der Antifa.
Welcher Tagungspunkt der diesjährigen Sicherheitskonferenz ist dem Bündnis ein besonderer Dorn im Auge?
Die Sicherheitskonferenz ist in ihrer Gesamtheit eine Kriegskonferenz. Auf der Sicherheitskonferenz werden Kriegshandlungen geplant und es ist keine Sicherheitskonferenz in dem Sinne. Wir kritisieren, dass an dieser Sicherheitskonferenz nur westliche Regierungschefs und westliche Regierungsvertreter teilnehmen. Eine Sicherheitskonferenz, die für sich in Anspruch nimmt, weltweit für den Frieden etwas voranzubringen, müsste auch russische Vertreter einladen. Einen Frieden kann es in Europa nur mit Russland geben, niemals gegen Russland.
Auf den Mittwochsumzügen von „München steht auf“ wurde in den letzten Wochen über die Lautsprecher an jene Anwohner appelliert, mit denen man zu Corona verschiedener Ansicht war, dass man sich angesichts der weltweiten Kriegsgefahr doch nun für den Weltfrieden zusammenschließen müsse. Ist dies bereits in irgendeiner Weise geschehen? Haben sich Menschen oder Bündnisse angeschlossen, die bei dem Corona-Thema andere Ansichten vertraten?
Das „Macht-Frieden-Bündnis“ ist aus der Grundrechte-Bewegung erwachsen und vereint nun die Themen Grundrechte mit dem Thema Frieden. Es ist sehr wichtig, dass wir jetzt diesen Schritt machen und aufeinander zugehen.
In den letzten Jahren war es sehr schwierig, Regierungshandeln zu kritisieren. Das hatte schwere Konsequenzen für die Menschen, sowohl beruflich, sozial, persönlich und finanziell. Es geht jetzt nicht darum, sich nur mit denen zusammenzutun, mit denen man gegen die verfassungswidrigen Grundrechtseinschränkungen der Corona-Jahre auf die Straße gegangen ist. Nein, wir müssen alle, die reinen Herzens für den Frieden sind, gemeinsam auf die Straße gehen. Und da machen wir auch keine Gesinnungskontrolle, indem wir etwa nachfragen, wie der Einzelne zur Pandemie- oder Klimapolitik, zu Nationalstaaten, Globalismus oder der Genderdebatte steht. Wir konzentrieren uns auf das Thema Frieden.
Das Bündnis hat unter anderem die Freidenker Hessen im Boot. Die sind traditionell eher im Anti-SiKo-Bündnis gewesen. Wir haben Sprecher, die aus der traditionellen Friedensbewegung kommen, etwa Diether Dehm oder der ehemalige Bundestagabgeordnete Jürgen Todenhöfer oder auch Karl Krökel von den Handwerkern für den Frieden. Letztere haben sich im Zuge der Sanktionen gegen Russland gebildet, klagen die Nicht-Aufarbeitung der Nord-Stream-Anschläge an und setzen sich für den Erhalt des Wirtschaftsstandorts Deutschland ein.
Wir haben ein gemeinsames Interesse mit allen Menschen, denen der Frieden am Herzen liegt, und so verknüpfen wir das Thema Frieden mit den Themenfeldern Soziales und Wirtschaft.
Spricht man sich heute für den Frieden aus, muss man auf der Hut sein, denn das kann schnell justiziabel werden. Stichwort: Erweiterung des Paragraphen 130, Strafgesetzbuch, der die Volksverhetzung zum Gegenstand hat. Beispielsweise wurde am 3. Januar der Friedensaktivist Heiner Bücker zu einer Geld- beziehungsweise einer 40-tägigen Haftstrafe verurteilt, weil er sich letztes Jahr am 22. Juni, am 81. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, dafür aussprach, dass man „offen und ehrlich versuchen (muss), die russischen Gründe für die militärische Sonderoperation in der Ukraine zu verstehen“. Wurden vor dem Hintergrund dieser und anderer abschreckender Beispiele Überlegungen angestellt, was und wie und mit welchen Wörtern die Redner sich auf der Bühne für den Frieden aussprechen sollen? Gab es eine Schere im Kopf?
Man muss mittlerweile als Oppositioneller in Deutschland aufpassen, was man sagt. Denn wir haben in den letzten Jahren ganz klar gesehen, dass Richter und Staatsanwälte nicht immer nach Sachlage oder nach juristischen Fakten, sondern oft nach Gesinnung entscheiden. Und genau das passiert eben jetzt auch wieder im Hinblick auf Krieg und Frieden. Menschen, die sich für den Frieden einsetzen, werden öffentlich diffamiert als Putinversteher, als Pudel des Kreml, als Russlandfreunde oder als Amerikafeinde. Zu der Diffamierung kommt eben auch die juristische Verfolgung hinzu. Was hier passiert, ist eine juristische Verfolgung von Oppositionellen hier in Deutschland. Und das müssen wir uns klar machen, das ist die Realität, die uns umgibt. Und da müssen wir natürlich auch klug agieren und argumentieren — die Friedensdebatte ist gesellschaftlich so aufgeheizt und da ist es ganz wichtig, da nicht noch mehr aufzuheizen und zu spalten.
So ist es wichtig, weder verbal noch anderweitig zu radikalisieren, weil jede Form der Radikalisierung dem Gegner in die Hände spielt, weil es dann ein Leichtes wird, uns zu kriminalisieren, zu diffamieren und zu delegitimieren. Daher ist es uns wichtig, dass auf unseren Bühnen die Worte mit Bedacht gewählt werden, aber gleichzeitig lassen wir uns nicht einschüchtern. Opposition ist nichts für Feiglinge.
Mit Blick auf die vergangenen, jährlich stattfindenden Sicherheitskonferenzen und die Gegendemos ist es doch bemerkenswert, dass immer erst Kriegstreiber nach München kommen müssen, damit die Menschen in dieser Stadt in Scharen für den Frieden auf die Straße gehen. Dazwischen waren Großdemos für den Frieden eher rar gesät. Wie geht es mit dem Friedensengagement des Bündnisses weiter, nachdem die Gäste der SiKo abgereist sind?
Wir machen weiter! Ich glaube, hier entsteht jetzt ein neuer Schwung und den neuen Schwung wollen wir nutzen. Im April sind die traditionellen Ostermärsche für den Frieden und auch da wollen wir uns einbringen und ebenfalls wieder ein Angebot an die alte, traditionelle Friedensbewegung machen, zu der sich immer noch viele von uns zugehörig fühlen. Wir halten das Angebot weiter aufrecht. Hier ist mittlerweile ein zivilgesellschaftliches Netzwerk aus Oppositionellen, Bürgerinitiativen, Verbänden und Gruppierungen entstanden, die für den Frieden auf der Straße sind und dort auch bleiben.
Nun sagten Sie am Anfang unseres Gesprächs, dass sich das Bündnis von dem Schwarzen Block, der Antifa und ihrem Gewaltgebahren distanziert. Wenn Sie der traditionellen Friedensbewegung zu den Ostermärschen nun ein neues Angebot für einen Zusammenschluss machen wollen, müsste dieses Angebot doch zugleich die Forderung implizieren, dass der Schwarze Block ausgeschlossen werden müsste, richtig?
Ich glaube, wer mit Extremisten marschiert, hat nichts kapiert. Grundsätzlich müssen wir radikale Gruppen, die uns kapern oder instrumentalisieren möchten, im Schach halten und sie aus unserem Bündnis draußen halten. Anders können wir das Angebot für die bürgerliche Mitte nicht aufrechterhalten. Wir müssen in unseren eigenen Reihen schauen, wer die Gruppierungen sind, die nicht, wie Oskar Lafontaine es sagen würde, reinen Herzens für den Frieden auf die Straße gehen, sondern eigene Interessen verfolgen und damit unserem Anliegen schaden, uns spalten und unsere Anschlussfähigkeit an die Mitte der Gesellschaft schmälern. Folglich müssen wir von derlei Gruppierungen Abstand nehmen. Sollte ein solcher Ausschluss bei den Ostermärschen nicht erfolgen, werden wir erneut eine eigene Demo veranstalten.
Vielen Dank für das Gespräch.
Wo ist die Atom-Angst?
Neben Diether Dehm, Jürgen Todenhöfer und Karl Krökel ist auch die Fachärztin für psychosomatische Medizin Ingrid Pfanzelt als Rednerin eingeladen. Sie ist Mitglied der Vereinigung „Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW)“ doch spricht — wie sie betont — an diesem Tag ausschließlich als Privatperson und Friedensaktivistin. Auch sie nimmt sich kurz vor Demobeginn Zeit für ein kurzes Interview:
Ingrid Pfanzelt. Foto: © Hannes Henkelmann.
Nicolas Riedl: Ende Januar wurde die Doomsday-Clock auf 90 Sekunden vor Mitternacht vorgestellt. Wie schätzen Sie die aktuelle Gefahrenlage im Bezug auf einen Atomkrieg ein? Ist die Gefahrenlage mit der Kuba-Krise vergleichbar?
Ingrid Pfanzelt: Es ist sogar noch gefährlicher als damals in der Kubakrise. Die Zeiger der Doomsday-Clock standen noch nie so nah an der 12, kurzum — wir waren noch nie so nah an einem Atomkrieg wie jetzt. Die Gefahr, dass ein solcher Atomkrieg aus Versehen ausgelöst wird, ist ebenfalls enorm, da die dazugehörigen Systeme mittlerweile computergesteuert sind. Menschen, wie damals 1983 der sowjetische Oberstleutnant Stanislaw Petrow, haben gar nicht mehr die Möglichkeit und die Zeit, einen Fehlalarm als solchen zu erkennen und entsprechend einzugreifen. Das macht das Ganze um ein vielfaches gefährlicher als im Kalten Krieg.
In der Gesellschaft sind nun bereits seit einigen Jahren viele Themen äußerst angstbesetzt. Die Furcht vor einem Atomkrieg scheint offensichtlich nicht dazuzugehören. Gerade die jüngere Generation treiben ganz andere Sorgen um. Wie können Sie sich erklären, dass die Angst vor einem Atomkrieg insbesondere in der Generation Y kaum vorhanden ist?
Das frage ich mich auch des Öfteren. Ich denke, dass die jüngere Generation — zum Glück — zum Krieg keinen persönlichen Bezug mehr hat. Ihr Fokus liegt nun auf der Klimakatastrophe, ein Thema, von welchem sie offensichtlich so eingenommen werden, dass sie die atomare Gefahr gar nicht mehr im Fokus haben.
Meine Generation — ich bin 1956 geboren — ist mit der Angst vor der atomaren Gefahr aufgewachsen. Wir wissen, was das bedeutet, vor nuklear bestückten Raketen Angst zu haben. Daher müssen wir weiter darüber aufklären, dass die Welt nicht nur durch die Klimakatastrophe bedroht ist, sondern auch durch das riesige Arsenal an Atombomben, die jederzeit außer Kontrolle geraten können. Weltweit sind Abertausende dieser Atombomben stationiert — damit könnte die Welt mehrere Male vernichtet werden.
Eine letzte Frage: Würden Sie sich wünschen, dass sich Jugendliche zur Abwechslung mal vor dem Atombomben lagernden Fliegerhorst in Büchel festkleben?
Die Antikriegsbewegung und die Anti-Atomkriegsbewegung sind in Büchel sehr aktiv. Und letztlich sind alle willkommen, die sich dem Protest vor Büchel anschließen. Ob das jetzt unbedingt ein Festkleben sein muss, da bin ich mir nicht sicher. Letztendlich ist es wichtig, dass wir zusammenstehen und zusammen unseren Widerstand über Generationen hinweg deutlich machen. Wir wollen keine Atomwaffen und erst recht nicht in Deutschland. Deswegen müssen generationenübergreifend junge wie ältere Menschen auf die Straße gehen und auch vor Büchel demonstrieren, für die Abschaffung der Atomwaffen und dafür, dass Deutschland dem Atomwaffenverbotsvertrag beitritt. Das ist bis heute nicht geschehen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Ablenkung, AfD, Antifa
Wenige hundert Meter südlich vom Königsplatz, am Karl-Stützel-Platz ist die Atmosphäre grundverschieden, denn hier trifft politisch „Mentos auf Cola“. Die AfD hält eine Kundgebung unter dem Aufhänger „Nord-Stream statt Gasumlage“. Zumindest versucht sie dies. Denn gleichzeitig hat sich der Schwarze Block zu einem schwarzen Ring formiert, der die Kundgebung einschließt und diese niederbrüllt.
Löblicherweise spricht sich die Antifa gegen einen Krieg in der Ukraine aus. Foto: © Hannes Henkelmann.
Für den Fall des Getriggert-Werdens steht die psychologische Notfallversorgung einsatzbereit vor Ort. Foto: © Hannes Henkelmann.
Sehr anschaulich wird hier die Blitzableiterfunktion der AfD sichtbar. Während sich nicht einmal einen Kilometer weiter östlich westliche Kriegstreiber zusammensetzen und unter der euphemistischen Umschreibung der Sicherheit weitere Kriegsvorhaben aushecken, hat der Schwarze Block nichts besseres zu tun, als die Kundgebung einer im direkten Vergleich mit den Kriegstreibern eher harmlosen rechtspopulistische Partei niederzubrüllen und bei der eigentlichen Anti-SiKo-Demo mit Abwesenheit zu glänzen.
Entsprechend dünn besucht ist ebendiese klassische Anti-SiKo-Demo am Karlsplatz-Stachus. Zwar ist der kreisrunde Platz voll, doch wirkliche Enge oder ein Dicht-Gedrängt-Sein gibt es allenfalls direkt vor der Bühne.
Blau-goldener Hexenkessel: „Vielen Tank, Deutschland!“
So etwas Abstoßendes gab es an einem SiKo-Wochenende auf den Straßen Münchens wohl noch nie! Scharen an Menschen rufen auf einem öffentlichen Platz nach mehr Waffen. Am Odeonsplatz manifestierte sich das von George Orwell in „1984“ beschriebene Doppeldenk: Krieg ist Frieden.
Die ganze Szenerie am historisch belasteten Odeonsplatz, am Fuße der Feldherrenhalle, war derart grotesk, sodass es schwer fällt, das dort Erlebte in Worte zu fassen. Der Platz ist geflutet von einem blau-goldenen Fahnenmeer, an der Spitze Rednerinnen und Redner, deren Stimmlage nach allem, nur nicht nach Frieden klang.
Ein Meer aus Blau-Gold. Foto: © Hannes Henkelmann.
Es werden Parolen skandiert, wie „Deutschland vielen Dank“, wahlweise auch „Deutschland vielen Tank (englisch, zu deutsch: „Panzer“, vulgo, „Deutschland, viele Panzer!“. Plattgetretene Phrasen werden zum Besten gegeben: Die Ukraine müsse den Krieg gewinnen, die Ukrainer hätten ein Recht darauf, in Freiheit zu leben, ohne fürchten zu müssen, angegriffen zu werden. Dies ist natürlich aus der Sicht eines friedliebenden Menschen vollkommen richtig, doch stellt sich dem kritischen Beobachter der Szenerie die Frage, wann und inwiefern diese Forderung für jene Mitmenschen aus der Ostukraine galt, die zwischen 2014 und 2022 unentwegt von dem Kiew-Regime angegriffen wurden. Oder macht es einen Unterschied, ob in der Ostukraine Truppen aus Kiew oder aus Moskau einmarschieren? Insofern natürlich schon, da erstere die eigenen Landsleute bekämpfen, die sich weigern, die 2014 durch den Maidan-Putsch ins Amt gehievte Regierung, samt ihrer nationalistischen Erfüllungsgehilfen anzuerkennen.
Fotos: © Hannes Henkelmann.
Doch ganz in Orwellscher Manier, nimmt man es hier bei dieser Demo mit zurückliegenden historischen Fakten nicht so genau. Das, was sich 2014 auf dem Maidan ereignet hat, sei — so betont es eine Rednerin — selbstverständlich kein Putsch gewesen. Die fünf Milliarden US-Dollar, die 2014 zum Zweck des Regierungswechsels aus den USA in die Ukraine flossen, verschweigt sie hier geflissentlich.
Doch auch im Hinblick auf die Gegenwart und die Zukunft gehen die Reden komplett an der Realität vorbei. So erliegt hier an diesem Ort nahezu jeder der Illusion, ein Mehr an Waffen würde den Frieden bringen. „Panzer senden, Krieg beenden“, wie die Jungen Liberalen skandieren würden. Mit der militärischen Chancenverteilung an der Front hat dies freilich herzlich wenig zu tun. Bereits Ende März 2022 war die Verlustbilanz der ukrainischen Armee verheerend, sodass sich die Ausweglosigkeit des Krieges, ganz zu schweigen von einem ukrainischen Sieg, schon vor fast einem Jahr für jeden rational denkenden Menschen unübersehbar abzeichnete.
In der von Kriegslust geschwängerten Luft geht an diesem Ort vollkommen unter, dass
- acht Jahre lang in der Ukraine ein Bürgerkrieg gegen die eigenen Mitmenschen im Osten des Landes tobte und immer noch tobt,
- die östlichen Regionen des Landes zum Teil gar nicht zur Ukraine dazugehören und sich aus der geographischen Zwangsehe lösen möchten und dass sich nun die Westukrainer echauffieren über die Invasion eines Gebietes, welches sie zuvor acht Jahre lang bekämpft hatten,
- die NATO mit dem US-Hegemon an der Spitze seit Jahrzehnten in wesentlich skrupelloserer Form genau das tut, was Wladimir Putin — zu Recht — vorgeworfen wird,
- und dass jedwede weitere, gegenüber der militärischen Übermacht Russlands sinnlose Aufrüstung die unausweichlichen Friedensverhandlungen zum Preis vielfach fließenden Blutes und einer großen Zahl Toter unnötig aufgeschoben wird.
Noch einmal zum Mitschreiben: Da wird in München, am Odeonsplatz, im Jahre 2023 lautstark nach mehr Waffen gerufen, Durchhalteparolen werden geschwungen, dass die Ukraine den Krieg gewinnen müsse, und das Ganze garniert mit martialischen „Slava Ukraini“-Rufen, die an den Wänden zwischen Theatiner-Kirche und Pfälzer Residenz unheilvoll widerhallen.
Die Geisteshaltung der im Bayerischen Hof versammelten Kriegstreiber hat sich diesjährig ihren Weg auf die ihr bislang verschlossenen Straßen gebahnt. Wo ist nun die Antifa?
Richtig zu brodeln beginnt der Kessel, als sich dann der Demozug des klassischen Anti-SiKo-Büdnisses — mehrere tausend Teilnehmer — seinen Weg am östlichen Rand des Odeonsplatz vorbei bahnt. Im Zug befinden sich Organisationen wie die Pax-Christi und die DKP.
Das klassische Anti-SiKo-Bündnis stößt auf die Pro-Ukraine-Demo. Die Luft ist so dick, man könnte sie schneiden. Foto: © Hannes Henkelmann.
Wer sich für den Frieden ausspricht, sei ein Putinknecht oder Freund*in (sic!) eines Mörders. Foto: © Hannes Henkelmann.
Der Schwarze Block ist noch mit der AfD beschäftigt. Nun erklärt sich vermutlich auch, warum die Antifa sich lieber an der AfD abarbeitet. Mit einer Pro-Ukraine-Demo in Konfrontation zu geraten, hätte wohl eine enorme kognitive Dissonanz ausgelöst.
Die Demoteilnehmer des Anti-SiKo-Bündnisses tragen Schilder mit Aufschriften wie „Frieden mit Russland“ oder „ich bin nicht im Krieg mit Russland“, „Diplomaten statt Granaten“. Für die dortigen Pro-Ukraine-Demonstranten ein rotes Tuch. Es folgen wüste Beschimpfungen, ein „Danke Deutschland für die Hilfe“-Chor und Parolen wie „Lumpenpazifisten, geht zu Putin!“.
Da sind wir mittlerweile angelangt. Die Anti-SiKo-Demo wird auf der Straße (!) angepöbelt, beschimpft und angeschrien, weil sie Abrüstung und den Stopp von Waffenlieferungen fordert. Das wäre letztes Jahr noch undenkbar gewesen.
Ohne Zweifel ist es aus Sicht der Menschen nachvollziehbar, die aus der Ukraine geflohen und von dem Krieg traumatisiert sind und nun hier an diesem Ort demonstrierten, dass die Emotionen hochkochen und Rachegelüste im Inneren lodern. Sicherlich sind sich die meisten der komplexen, geopolitischen Verstrickungen nicht bewusst und in erster Linie durch persönliche Schicksalsschläge geprägt.
Doch was ist das für eine Form von Dankbarkeit, die sich weitestgehend auf Waffenlieferungen beschränkt, aber nicht auch den Menschen im Fluchtzielland gebührt, die ebendiese Waffenlieferungen per se und oder aus historischen Gründen ablehnen? Was ist das für eine Art, aus einem Kriegsgebiet in ein Land zu kommen und nach einer weitestgehend herzlichen Begrüßung und großer Hilfsbereitschaft bei der Fluchtunterkunft dem friedliebenden Teil der Bewohner den Mittelfinger zu zeigen, weil diese sich dagegen sträuben und wehren, mit weiterem Kriegsgerät das Blutvergießen zu verstärken? Wo ist das Geschichtsbewusstsein? Wo ist die historische Sensibilität, wenn man die Lieferung nicht nur von herkömmlichen, sondern mittlerweile auch von international geächteten Waffen von einem Land fordert, welches bereits zwei Weltkriege vom Zaun gebrochen hat? Ist man sich der Symbolik bewusst, wenn auf ukrainischen Boden wieder Panzer in Richtung eines Landes rollen, in welchem Deutschland im letzten Jahrhundert 27 Millionen Menschenleben vernichtet hat?
Wie sich später noch abzeichnet, kann die Pro-Ukraine-Demo als verlängerter Arm der Sicherheitskonferenz verstanden werden. So statten mehrere Gäste des Bayerischen Hofs der Demo einen Besuch ab, um dort eine Rede zu halten. Unter ihnen der ukrainische Botschafter Oleksij Makejev, Roderich Kieswetter (CDU), Anton Hofreiter und Jamila Schäfer von den Grünen, sowie die rüstungsvernarrte Marie-Agnes Strack-Zimmermann.
Wenn das mal keine Querfront ist. Foto: Nicolas Riedl
Die Rückkehr der Friedensbewegung
Obwohl so manches in der Münchner Innenstadt an diesem Tag groteske Blüten trieb, so konnte die wahrhaftige Sensation nicht überschattet werden. Und das war die schier unendliche Menge an wahrhaft Friedensbewegten, deren gigantische Anzahl erst im engen, sich durch die Straßen quetschenden Demozug sichtbar wurde. Lief man dem Demozug entgegen, wähnte man sich geradezu in einer blau-weißen Fibonacci-Folge. Der Zug nahm in seiner Buntheit und Vielfältigkeit einfach kein Ende. Bei der Gestaltung der Schilder, der Kostüme, der Inszenierung von Tänzen und dem Musizieren folgte ein Einfallsreichtum auf den nächsten. Mindestens 20.000 dieser Friedensbewegten sollen es gewesen sein. Wann gingen das letzte Mal so viele Menschen für den Frieden in München auf die Straße?
Der Friedenszug ist unendlich lang und kreativ gestaltet. Foto: © Hannes Henkelmann.
Hölderlin behielt wohl recht, als er sagte, dass dort, wo die Gefahr zugleich auch das Rettende wächst. Vielleicht war das Lechzen manipuliert-hypnotisierter Massen nach mehr Waffen, dieser kriegslüsterne Donnerklang in der Kriegspresse und der immer offensichtlichere Blutdurst der Waffenindustrie notwendig, um die Friedenstaube aus dem Schlaf zu wecken, in welchem sie sich durch das vermeintliche Ende der Geschichte nach Francis Fukuyama befand.
Foto: © Hannes Henkelmann.
Klar ist, mit Blick auf die unzähligen Friedensbewegten an diesem milden Frühjahrestag in München, dass mit dem 18. Februar 2023 ein Stein ins Rollen gebracht wurde, der nicht mehr zu stoppen sein wird und der sich so manchen Kriegsgelüsten und Leoparden in den Weg stellen wird.
Quellen und Anmerkungen:
Ein großer Dank geht an den Fotografen Hannes Henkelmann, der diesen bewegenden Tag in atmosphärischen Fotos festhielt. Weitere Fotografien von diesem Tag und vielen weiteren bewegenden Demonstrationen der letzten Jahre finden Sie auf dem Telegram-Kanal von Hannes Henkelmann.