Die Friedens-Lügen
Es waren einmal ... Abrüstungsverträge. Doch wie ernst waren sie gemeint — und was wurde aus ihnen?
Westliche Politiker sprechen gerne von Abrüstung, während sie gleichzeitig für das Zwei-Prozent-Ziel der NATO lauthals nach mehr Rüstung rufen. Mit dieser Doppelstrategie haben sie bisher sogar Erfolg. Da lohnt ein Blick auf die nackten Fakten: Was waren die wichtigsten Abrüstungsverträge und was ist aus ihnen geworden?
Die Geschichte geht zurück in den Kalten Krieg, als sich West und Ost gegenseitig mit atomarer Vernichtung bedrohten. Damals – die Älteren unter uns erinnern sich noch – war die Angst vor einem Atomkrieg real. Daher wurden Abrüstungsverträge geschlossen, die jedoch heute fast alle nicht mehr existieren. Die nun wieder große Gefahr eines Atomkrieges spielt in den Medien heute dennoch keine Rolle.
Es gab drei wichtige Abrüstungsabkommen: Den ABM-Vertrag, den INF-Vertrag und die Serie der START-Verträge.
Der ABM-Vertrag
Der ABM-Vertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty, Vertrag über die Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsystemen), regelte das Verbot einer strategischen Raketenabwehr und wurde schon 1972 abgeschlossen.
Der Hintergrund war, verhindern zu wollen, dass eine Seite sich der (falschen) Illusion der Unverwundbarkeit hingeben und so versucht sein könnte, einen Atomkrieg zu beginnen, in der Hoffnung, ihn gewinnen zu können.
Das Gleichgewicht des Schreckens sollte aufrecht erhalten werden, denn es garantierte den Frieden im Kalten Krieg. Die perverse, aber funktionierende Logik war, dass keine der Seiten einen Krieg beginnen würde, wenn sie wüsste, dass derjenige, der zuerst schießt, garantiert als zweiter vernichtet werden würde.
Diese Logik hat funktioniert und die Welt damals, trotz aller Spannungen, vor einem Dritten Weltkrieg bewahrt. Der ABM-Vertrag war dazu eine wichtige Säule, denn er verbot es den Supermächten, sich mit Abwehrsystemen gegen einen Atomkrieg zu schützen.
Die USA haben den Vertrag 2002 einseitig gekündigt. Damals war Russland schwach, und die USA meinten, sie müssten keine Rücksicht mehr nehmen. Sie entwickelten ihre strategische Raketenabwehr (offiziell gegen den Iran und Nordkorea), die sie dann aber fern ab dieser Länder an der Grenze zu Russland aufstellten. Heute sind die Anlagen in Rumänien und Polen stationiert.
„Abwehrrakete“ klingt harmlos, dabei handelt es sich um ein aggressives System. Der Sinn dieser „Abwehr“ ist es, einen Erstschlag gegen Russland zu führen — in der Hoffnung, den dann schwachen russischen Gegenschlag mit der Raketenabwehr weitgehend abfangen zu können.
Die Raketenabwehr mit ihren wenigen Raketen bietet hingegen keinerlei Schutz gegen einen Erstschlag der Russen, der mit Hunderten oder Tausenden Raketen erfolgen würde. Aber vor einem Gegenschlag mit einigen Dutzend übrig gebliebenen Raketen erhoffte man sich einen gewissen Schutz.
Die perverse Logik des Kalten Krieges war damit noch perverser geworden, denn nun konnten einige Hardliner in den USA tatsächlich der Illusion verfallen, ein Atomkrieg sei gewinnbar.
Ein weiteres Problem ist, dass die Raketenabwehr nicht nur zur Verteidigung, sondern auch zum Erstschlag genutzt werden kann. Der Grund liegt in den Startvorrichtungen der Raketenabwehr. Es handelt sich dabei um die MK-41, die auch auf Schiffen zum Abschuss der Tomahawk-Raketen verwendet wird.
Damit können die USA nicht nur die Abwehrraketen von dort abfeuern, sondern auch atomar bestückte Tomahawk-Raketen. Das macht die „Raketenabwehr“ in Wahrheit zu einem Angriffssystem. Außerdem ist sie dazu noch ein klarer Verstoß gegen den INF-Vertrag, denn die Aufstellung solcher Startrampen an Land ist in diesem Vertrag unmissverständlich untersagt. Zum INF-Vertrag kommen wir gleich noch.
Hinzu kommt, dass Russland schon 2002 reagiert hatte, indem es nach der Kündigung des ABM-Vertrages ankündigte, asymmetrisch zu reagieren und Raketen zu entwickeln, die eine Raketenabwehr umgehen können.
Das Land war damals pleite und lag am Boden, die USA hatten die Russen nicht ernst genommen. Wie wir heute wissen, war das ein Fehler. Inzwischen hat Russland gezeigt, dass es sein Wort gehalten hat und ist heute führend bei Hyperschallraketen, die für keine Raketenabwehr erreichbar sind. Die Kündigung des ABM-Vertrages durch die USA und die Aufstellung der Raketenabwehr waren ein Milliardengrab, das außerdem die Welt unsicherer gemacht hat.
Zweitens: Der INF-Vertrag
Der zweite wichtige Abrüstungsvertrag war der INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces, Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme) aus dem Jahr 1987, der das Verbot von landgestützten atomaren Kurz- und Mittelstreckenraketen regelte.
Der Hintergrund war die Stationierung der sowjetischen SS-20-Raketen in der DDR in den 1970er Jahren, mit denen sie ganz Westeuropa innerhalb weniger Minuten erreichen konnten. Der Westen reagierte mit dem NATO-Doppelbeschluss und der Stationierung der amerikanischen Pershing-Raketen. In Verhandlungen wurde dann erreicht, dass beide Seiten komplett auf derartige landgestützte Raketen verzichteten und diese vernichtet wurden.
Allerdings ging es eben nur um landgestützte Raketen, weshalb zum Beispiel die Tomahawk-Raketen der USA nicht gegen den Vertrag verstoßen, weil sie nicht von Land, sondern von Flugzeugen oder Schiffen abgefeuert werden.
Übrigens wurden die Tomahawks ursprünglich für den Einsatz mit Atomwaffen entwickelt. Die Russen hatten nichts Vergleichbares und haben erst vor kurzem mit der „Kalibr“-Rakete ein gleichartiges Waffensystem in ihre Arsenale aufgenommen, die genau wie die Tomahawk von Flugzeugen, Schiffen und U-Booten, aber nicht von Land aus abgeschossen werden können.
Der INF-Vertrag war vor allem für Europa extrem wichtig, weil Kurz- und Mittelstreckenraketen keine Gefahr für die USA darstellen, die weit genug entfernt sind, wohl aber für die europäischen Länder. Denn diese Raketen erreichen ihre Ziele innerhalb von Minuten, und es gibt praktisch keine Vorwarnzeit.
Diesen Vertrag haben die USA vor einem halben Jahr gekündigt und am 2. August ist er ausgelaufen.
Die USA warfen den Russen vor, gegen den INF-Vertrag zu verstoßen, um damit ihre eigene Kündigung zu rechtfertigen. Das Problem ist, dass die USA zwar behaupten, Russland verstoße mit den Raketen gegen den Vertrag, aber nie Beweise vorgelegt haben.
Nicht einmal den Russen, obwohl diese seit Monaten um Vorlage der „Beweise“ bitten, damit man wenigstens dazu Stellung nehmen kann. Es gibt aber nichts als unbelegte Vorwürfe aus den USA.
Umgekehrt haben die USA jedoch unbestritten schon lange gegen den INF-Vertrag verstoßen. Nur ein Beispiel ist die schon erwähnte US-Raketenabwehr in Europa vom Typ MK-41. Solche Startrampen, die Tomahawk-Raketen abfeuern können, an Land aufzustellen, ist ein klarer Vertragsverstoß.
Und das ist nur ein Beispiel für Vertragsbrüche der USA. Ein weiteres sind Drohnen, die an Land stationiert und unbemannt sind, eine Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometern haben und Atomwaffen tragen können.
Per Definition fallen sie deshalb unter die Bestimmungen des INF-Vertrags. Es gibt noch weitere, belegte russische Vorwürfe gegen die USA, und obwohl all diese Verstöße leicht überprüfbar und unbestreitbar sind, hat Russland den Vertrag nicht gekündigt, sondern versucht, zu verhandeln.
Die Medien in Deutschland hingegen betätigen sich bei dem Thema als Pressesprecher des Pentagon. Denn von Vertragsbrüchen der USA berichten sie mit keinem Wort, dafür aber zitieren sie die unbelegten Vorwürfe der USA gegen Russland als Fakten.
Übrigens ist die Geschichte dieser Vertragskündigung kurios. Der interessierte deutsche Bürger bekam immer wieder zu hören und lesen, wie sich deutsche Regierungspolitiker für den Erhalt des INF-Vertrags ausgesprochen haben. Das war gelogen und geheuchelt.
Als die USA im Oktober 2018 die einseitige Aufhebung des Vertrages ankündigten, hat Russland eine Resolution in die UNO-Vollversammlung eingebracht, um dieses Thema dort zu debattieren.
Diese wurde mit den Stimmen aller europäischen Nato-Staaten zusammen mit den USA abgelehnt. Das ist ein deutliches Beispiel dafür, wie deutsche Politiker für das „dumme Volk“ in der Tagesschau das eine sagen und doch das Gegenteil tun.
Wundern Sie sich nicht, wenn Sie davon noch nie gehört haben, darüber hat kein einziges deutsches „Qualitätsmedium“ berichtet.
Stattdessen waren aber die deutschen Transatlantiker im Oktober sofort in der ersten Reihe, als es um die Forderung der Stationierung neuer US-Atomwaffen in Europa ging.
Und ein Treppenwitz der Weltgeschichte ist es, dass nun ausgerechnet Russland die Sicherheit der europäischen Nato-Staaten garantiert. Glauben Sie nicht?
Ist aber so und zwar aus einem einfachen Grund. Schon im Kalten Krieg, wie auch jetzt wieder, ist die US-Logik hinter diesen Schritten eine sehr einfache: Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa geben den USA die Hoffnung, einen Atomkrieg auf Europa beschränken zu können. Russland hat dieser eine klare Absage erteilt.
Im Februar hat Putin das in seiner Rede an die Nation gesagt, allerdings so verklausuliert, dass es wohl nur Experten verstanden haben. Das russische Fernsehen hat die Aussagen Putins dann so „übersetzt“, dass es auch der Durchschnittsmensch, der kein Fachmann auf dem Gebiet ist, verstehen konnte.
Russland hat eindeutig klargestellt, dass es auf einen atomaren Angriff der USA aus Europa heraus in jedem Fall mit einem Gegenschlag gegen die USA antworten würde. Das russische Fernsehen hat dies sehr bildlich dargestellt und gezeigt, wie die neuen Hyperschallraketen funktionieren und dass die USA sie nicht abwehren können.
Und da solche politischen Sendungen der Russen auch von den Entscheidungsträgern in den USA gesehen werden, hat der Moderator diese Leute direkt angesprochen und ihnen erklärt, dass ihre Kommandobunker, in denen sie sich so sicher fühlen, mit den neuen russischen Waffen innerhalb von fünf Minuten erreicht werden können. Möglich mache diese kurzen Flugzeiten die von U-Booten im Pazifik oder im Atlantik abgefeuerten Hyperschallraketen.
Falken in den USA, die hofften, einen Atomkrieg auf Europa begrenzen zu können, dürften nun einiges zum Nachdenken haben. Und so gibt Russland den Europäern tatsächlich eine indirekte Sicherheitsgarantie, indem es den Entscheidern in Washington klar machte, dass sie, wenn sie bereit sind Europa zu opfern, auch ihre eigenen Familien mit opfern würden.
Die perverse Logik des Kalten Krieges ist zurück.
Die Kündigung des INF-Vertrags hat also nichts weiter gebracht, als die Sicherheit vor allem in Europa zu gefährden.
Aber auch die der USA ist damit nicht größer, sondern geringer geworden, weil Russland auf die Stationierung von US-Atomwaffen in Europa mit mehr U-Booten reagieren wird, die unentdeckt irgendwo in 1.000 Kilometern Entfernung vor den US-Küsten kreuzen, und damit die Gefahr der Kurz- und Mittelstreckenraketen diesmal bis nach Amerika tragen.
Drittens: Die START-Verträge
Der letzte Abrüstungsvertrag, der abgeschlossen wurde, war der START-Vertrag (Strategic Arms Reduction Treaty, Vertrag zur Verringerung der strategischen Nuklearwaffen), der eine Begrenzung atomarer Sprengköpfe der Supermächte festschrieb und 1991 in Kraft trat.
Ihm folgten 1993 der START-II-Vertrag und dann 2010 der NEW-START-Vertrag. Diese Verträge, die immer nur mit einer begrenzten Laufzeit abgeschlossen wurden, haben die Zahl der atomaren Sprengköpfe geregelt und dafür gesorgt, dass es heute, im Vergleich zum Kalten Krieg, nur einen Bruchteil von diesen Waffen gibt.
Aber der gültige NEW-START-Vertrag läuft 2020 aus, und bisher haben noch keine Verhandlungen über einen Nachfolgevertrag begonnen. Wir können davon ausgehen, dass es erst einmal keinen geben wird.
Die USA lehnen Gespräche bisher ab, obwohl Russland seit Jahren den Beginn solcher Verhandlungen fordert. Dafür gibt es in meinem Buch über Putin sehr viele Belege, denn ich habe dort Putins Aussagen der vergangenen Jahre ausführlich zitiert. Dieses Thema hat er immer wieder angesprochen, aber ohne eine Antwort aus Washington zu erhalten.
Damit werden wir schon in einem Jahr keinen einzigen gültigen Abrüstungsvertrag mehr haben, und einem neuen Wettrüsten sind Tür und Tor geöffnet.
Ironie zum Schluss: Der einflussreiche US-Thinktank RAND Corporation hat in einem Strategiepapier kürzlich festgestellt, dass Russland keinerlei aggressive Absichten habe.
Das wurde sehr bedauert, denn trotz fortgesetzter Bemühungen der USA lasse es sich einfach nicht provozieren. Im Ergebnis wurde aber nicht etwa eine Entspannungspolitik vorgeschlagen, sondern eine Reihe von Maßnahmen, um Russland noch mehr unter Druck zu setzen und herauszufordern.
Überflüssig zu erwähnen, dass die deutschen „Qualitätsmedien“ darüber kein Wort berichteten... — aber das war ja nicht anders zu erwarten.
Kilez More: „Friedensbewegung“
Zum Weiterlesen:
- IMI-Analyse 2019/25: „Die Stunde der Kalten Krieger: Vom INF-Vertrag zum neuen Wettrüsten“
- Putins Reaktion auf die Kündigung des INF-Vertrages im Februar 2019 im O-Ton
- Putins Reaktion auf das Ende des INF-Vertrages im August 2019 im O-Ton