Die Freiheitssimulation

Die heutigen Eliten verfügen über bessere Techniken zur Manipulation von Wahlen als jene der DDR. Exklusivabdruck aus „Tamtam und Tabu“.

1990 gilt als das wichtigste Jahr der Nachkriegsgeschichte. Alles scheint gesagt. Die Tabus überdauern. Die renommierte Essayistin Daniela Dahn und der Kognitionsforscher Rainer Mausfeld nehmen sie in ihrem neuen Buch „Tamtam und Tabu“ ins Visier mit einem Blick auf bislang unterschätzte Zusammenhänge. Daniela Dahn untersucht, wie in atemberaubend kurzer Zeit die öffentliche Meinung mit großem Tamtam in eine Richtung gewendet wurde, die den Interessen des Westens entsprach. Mit ihrer stringenten Zusammenschau reichen Materials aus den Medien wird das offizielle Narrativ über die Wende erschüttert. Rainer Mausfelds Analyse zeigt die Realität hinter der Rhetorik in einer kapitalistischen Demokratie. Die gemeinschaftlichen Analysen werden in einem grundlegenden Gespräch vertieft und liefern einen schonungslosen Befund des gegenwärtigen Zustands der Demokratie. Ein Auszug.

Rainer Mausfeld: Der Westen verfügt über ein einzigartiges Arsenal höchst raffinierter psychologischer Manipulationsmethoden. Das wird seit mehr als hundert Jahren mit großen Forschungsanstrengungen entwickelt und verfeinert. In diesen psychologischen Techniken einer Bevölkerungskontrolle hat der Westen gegenüber dem Osten einen kaum vorstellbaren Forschungsvorsprung. Der Grund ist einfach: Kapitalistische Demokratien sind, wie man schon früh erkannte, wegen der freien Wahlen darauf angewiesen, bei den Wählern den Eindruck völliger Freiheit aufrechtzuerhalten und zugleich sicherzustellen, dass diese so wählen, wie sie wählen sollen.

Das ist machttechnologisch nur mit höchstem Aufwand zu bewältigen. Die dazu erforderlichen Methoden wurden mithilfe der Psychologie und der Sozialwissenschaften in vielen Jahrzehnten zur Perfektion entwickelt und in Dutzenden von Fällen im innen- und außenpolitischen Kontext erprobt. Hierüber gibt es eine große Menge an Literatur.

Auch die psychologischen Techniken der Kontrolle von Dissens sind in kapitalistischen Demokratien überaus subtil angelegt. Sie durchziehen alle Sozialisationsinstanzen. Dadurch sind sie für uns praktisch unsichtbar und im Normalfall auch kaum spürbar. Wir schwimmen gleichsam wie ein Fisch im Wasser in ihnen, ohne überhaupt eine Vorstellung von ihnen zu haben.

Seit den historischen Anfängen kapitalistischer Demokratien war den jeweiligen Machteliten klar, dass eine solche Herrschaftsform nur stabil sein kann, wenn man die tatsächliche Macht für die Bevölkerung weitestgehend unsichtbar macht.

Daher werden seit mehr als hundert Jahren Sozialtechnologien entwickelt, mit denen man die „verwirrte Herde“ so auf Kurs halten kann, dass sie dennoch überzeugt ist, frei und ohne Lenkung ihren eigenen Bedürfnissen zu folgen. Ein Projekt des Demokratiemanagements, das sich als immens erfolgreich erwiesen hat. Konkurrenzlos erfolgreich sogar. Dies alles ist also bereits seit langer Zeit in kontinuierlicher Anwendung. Auch für Extremsituationen, die eine besonders große Wirksamkeit in sehr kurzer Zeit erfordern, liegt ein Arsenal von Methoden seit Langem in der Schublade der ökonomischen und politischen Zentren der Macht.

1989 konnte man also sehr kurzfristig auf lang erprobte und höchst ausgefeilte Techniken zurückgreifen. Insofern überrascht es nicht, dass sie beim Zusammenbruch der DDR mit so durchschlagendem Erfolg ihre Wirksamkeit bewiesen haben. Doch bergen historische Situationen, in denen für die Mehrheit der Bevölkerung eine Lebensform und ein ganzes gesellschaftliches Weltbild zu Bruch gehen, trotz ausgefeilter psychologischer Kontrolltechniken ein beträchtliches Restrisiko für die Wirksamkeit westlicher Manipulationsversuche. Denn die Dynamiken, mit denen sich neue Identitäten und Solidaritäten bilden, sind kaum vorhersehbar und damit nur schwer kontrollierbar.

Damals zerfielen ganze Werteordnungen, die Orientierung und sozialen Zusammenhalt vermittelten. Mit solchen gesellschaftlichen Umwälzungen musste zwangsläufig auch eine Erschütterung der gewachsenen Identitäten einhergehen, massive Gefühle der Desorientierung und Unsicherheit brachen auf und schon vorhandene wurden verstärkt. Wie haben Sie damals diese Dynamiken erlebt? Welche Werte, welche Solidaritäten galten denn noch?

Daniela Dahn: Das war natürlich individuell sehr verschieden. Wir kamen ja in der DDR auch aus einer kontrollierten Öffentlichkeit. Aber das war eher eine konträre Kontrolle. Da ging es nicht darum, ob es neben den politischen Absichten auch reißerisch genug ist, um die Verkaufszahlen zu erhöhen, sondern im Gegenteil. Es wurde strikt darauf geachtet, dass ja nichts gedruckt wird, was unerwünschte Aufregung auslösen würde. Dass viel Kritisches einfach weggelassen wurde, war das Ätzende. Diese geistige Bevormundung war auf ihre Art auch demütigend ― kein Vertrauen, mit den eigenen Leuten über die Probleme zu reden, die sie aus dem Westfernsehen sowieso erfuhren. Das war der Grund, weshalb ich mich als junge Redakteurin 1981 aus dem DDR-Fernsehen zurückzog und seither Bücher mache. Da ist der Spielraum, übrigens damals wie heute, deutlich größer als in den Massenmedien.

Aus heutiger Sicht ist es eher erstaunlich, zu welchen für derzeitige Verhältnisse Traumauflagen es die Zeitungen dennoch gebracht haben ― die Junge Welt zuletzt auf 1,6 Millionen. Man konnte niemanden zwingen, für eine bestimmte Zeitung die meist obligatorischen 15 Pfennig auszugeben. Als Korrektiv und Ergänzung zu den Westsendern wurden die eigenen Medien durchaus wahrgenommen. Weil da das, was Sie „eigene Werte“ nennen, verhandelt wurde. Man hatte auch gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen, und auch das Nichterwähnte war, eine Nachricht. Was man weder gelernt noch erwartet hatte, war mit der Unseriösität der Boulevardpresse umzugehen, aber vor allem mit der Missachtung journalistischer Mindeststandards in den „Qualitätsmedien“. Drastische Fake News waren nach meiner Erinnerung in den DDR-Medien doch eher die Ausnahme.

Beim Nachlesen war für mich das Bemerkenswerte, mit welchem Selbstbewusstsein und wie lange die Ostdeutschen sich mehrheitlich gegen eine Vereinnahmung durch die BRD zu wehren versucht haben. Werte kippten nicht so schnell. Da musste dann schon ganz tief in den Werkzeugkasten der Manipulation gegriffen werden, um die robusten Brechstangen herauszuholen. Wie deutlich Sie herausarbeiten, dass die Sozialwissenschaften seit Langem an der Verfeinerung der Techniken arbeiten, die Psyche der Menschen den Wünschen der jeweiligen Machthaber zu unterwerfen, ist eindrucksvoll und auch erschreckend. Eben das von David Hume beschriebene „Wunderwerk“, weshalb es ein so überraschend leichtes Spiel ist, Macht auszuüben. Ich habe mich gefragt, ob die Wissenschaft diese Methoden durch die Analyse der politischen Praxis gewonnen hat oder ob es umgekehrt war. Haben sie den Machthabern aus ihren Kenntnissen der Psyche untertänigst Mittel in die Hand gegeben, die diese dann mehr oder weniger bewusst anwenden?

Rainer Mausfeld: Die Antwort darauf ist ganz eindeutig: Die Aufträge für diese Forschungen kamen aus den Machtzentren. Zwar hat es schon lange vor Entstehung der modernen Wissenschaften eine ausgefeilte Praxis psychologischer Methoden der Machtausübung gegeben. Sie bezogen sich vor allem auf Techniken der Angsterzeugung oder Methoden politischer Rhetorik, wie sie vor allem im antiken Rom zur Blüte kamen. Denken Sie etwa an Cicero. Doch die systematische Untersuchung psychologischer Techniken der Machtausübung entstand erst sehr viel später. Dabei entstanden neue akademische Fächer, insbesondere die Sozialwissenschaften. Auch die Psychologie war bis Anfang des letzten Jahrhunderts überwiegend eine Grundlagenwissenschaft. Sie beschäftigte sich also mit Fragen, die von pragmatischen Anwendungskontexten weit entfernt waren.

Durch Anwendungsfragen und Bedürfnisse, die aus politischen und ökonomischen Bereichen an die Psychologie herangetragen wurden, entstanden in der Psychologie Bestrebungen, sich von der Grundlagenorientierung zu lösen und gleichsam auf direktem pragmatischem Weg auf einen Anwendungsnutzen zu zielen. Verstärkt wurden diese Bestrebungen dadurch, dass für praxisbezogene Forschungen unvergleichlich größere finanzielle Förderungsmittel winkten. Auf diese Weise entstanden Bereiche, die sich damals als „Psychotechnik“ bezeichneten und heute Angewandte Psychologie heißen. Diese praxisorientierten Fächer gelangten durch ihre engen Verbindungen zu wirtschaftlichen Bereichen in wenigen Jahrzehnten zu einer großen Blüte und dominieren seither das Fach. Vor allem die stark wachsende Werbeindustrie hatte große Erwartungen an die Psychologie.

Im gesellschaftlichen Bereich zeigte sich zunehmend das Spannungsverhältnis von Kapitalismus und Demokratie. Gewerkschaften und soziale Bewegungen gewannen an Einfluss und wurden von den Machtzentren als so bedrohlich erlebt, dass man große Summen in die Entwicklung psychologischer und sozialtechnologischer Methoden investierte, durch die sie sich spalten und zersetzen lassen. Daher lag bereits vor dem Zweiten Weltkrieg ein äußerst wirksames Instrumentarium an Methoden des Meinungsmanagements, der unsichtbaren Indoktrination, der Spaltung und Zersetzung und vieles mehr vor, mit dem man schon damals das „demokratische Risiko“ in kapitalistischen Demokratien sehr wirksam begrenzen konnte.


Daniela Dahn, Rainer Mausfeld: „Tamtam und Tabu. Die Einheit: Drei Jahrzehnte ohne Bewährung“, 240 Seiten, Westend Verlag, 21.9.2020