Die Freiheit des Scheiternden

Nikos Kazantzakis Romanheld Alexis Zorbas hatte ein reales Vorbild — und lehrt uns Heutige vor allem eines: Um glücklich zu sein, braucht es mehr Verrücktheit.

Fast auf den Tag genau vor 100 Jahren verabschiedete sich der griechische Dichter Nikos Kazantzakis am Athener Bahnhof von seinem Kumpel Zorbas. Bis ganz bald, beschworen beide und sollten sich täuschen. Der lebenspralle Grieche ahnte sicher nichts davon, dass sein Leben und Denken Vorlage für einen der größten Buch- und Filmerfolge des 20. Jahrhunderts werden sollte. Zorbas ist zu einem Archetypen geworden — zur Verkörperung dessen, was dem verdrucksten und verkopften Nordeuropäer offenbar am dringlichsten fehlt. Es ist vor allem das Leben selbst, das „Pflücke den Tag“. Der Mut, ein bisschen verrückt zu sein und sich um die Meinung der anderen nicht zu scheren. Die innere Freiheit, noch über den totalen Zusammenbruch zu lachen und auf den Gräbern zerbrochener Hoffnung ausgelassen zu tanzen.

Am frühen Morgen, am 17. April 1922, einem bewölkten Ostermontag hievte Georgios Zorbas — auch bekannt als Alexis Zorbas & Anthony Quinn — ein paar dreckige Koffer und Spatenkram in den Ladewaggon Richtung Skopje. Sein Freund Nikos trug lediglich eine Nickelbrille und gab bei dem Bahnhofskellner noch eine letzte Runde Rum in Auftrag. Im kakophonischen Chaos aus Trillerpfeifen, herumtrampelnden Militäreinheiten und nervösem Großvieh, Lokomotivgezische und Rangierlärm kippten sie die Gläser leer und schauten sich lange in die Augen.

Zorbas hatte zu Jahresbeginn die Schürfrechte für eine mazedonische Bergregion erworben und Kazantzakis war damit beschäftigt, in Athen die Scherben einer derangierten Ehe und der verhassten Anwaltskanzlei zusammenzukehren. Wenig später würde er nach Wien und Berlin reisen, marxistische und freudianische Zirkel besuchen und sich — wie schon so viele vor ihm — mit der Schaffung des „neuen Menschen“ beschäftigen. Von Romanen, Theaterstücken, wie Hörspielen abgesehen, empfehlen sich heute noch seine intensiven Interviews, etwa mit Mussolini, dem spanischen Diktator Primo de Rivera und vor allem Lenin.

Ehrenwort, so beteuerten sie immer wieder, Ehrenwort, bei jeder nur möglichen Gelegenheit wird man sich besuchen, tanzen, saufen und feiern, Ehrenwort! Aus dem Fenster des anfahrenden Zugs proklamierte Zorbas noch ein Mal die Leviten:

„Um frei, richtig frei zu werden, braucht es ein bisschen Verrücktheit. Nämlich alles zu riskieren. Dein Verstand, Chef ist ein Krämer, er führt Buch. Er schneidet die Leine nicht ab, im Gegenteil, er hält sie fest in der Hand. Aber kannst du mir sagen, wonach schließlich das Leben schmeckt, wenn du die Leine nicht abschneidest? Nach Kamillentee, aber nicht nach Rum. Dir mangelt es an nichts, außer einem, das ist ein Stück Wahnsinn.“

Hoch lebe das Scheitern

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Jeder kennt dieses ikonische Herrenballett in Schwarz-Weiß, ein Weltkulturerbe. Griechisches Strandidyll, zwei Männer im Anzug und mit schicken Krawatten bestückt, die Arme um die Schultern gelegt und gemeinsam anschwebend im Takt des hymnischen Sirtaki.

Ein paar Stunden zuvor haben sie alles in den Sand gesetzt, ihre Mühen, Hoffnungen und das ganze Kapital. Anstatt zu hadern oder Schuldige zu suchen, erheben sie sich aus der Asche, feiern den Triumph über das Scheitern, höhnen über Neugeburt und Auferstehung und tanzen dort bis heute. Ein kleiner Traumpfad erschließt sich zu Samuel Beckett und man hört drei Männerstimmen im griechischen Wind dröhnen: „Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“

Kohle machen in schwierigen Zeiten

Der Balkan um 1910 als Ganzes sowie die griechischen Zustände im Speziellen waren geprägt von einem neurasthenischen Irrsinn zwischen Revolutionen und Restaurationen. Bulgaren, Rumänien, Türken und Griechen lieferten sich permanent regionale Operationsgemetzel, während sich die großen Spieler, England, Deutschland, Frankreich und Russland für das Schlachtfest der nahenden Apokalypse in Schale warfen. Auf den Titelseiten von Times, Figaro, Deutsche Welt und Wedemosti standen Tag für Tag seriöse Lügen, Erfindungen, Fake-Parolen, Brechreizslogans und bestenfalls hohles Pathos.

Im Sommer 1915 pachtete Nikos Kazantzakis in einem winzigen Kaff nahe der messinischen Hauptstadt Kalamata eine Lignitmine. Als überzeugter Pazifist spekulierte er in Vorahnung des großen Krieges darauf, sich mit dem Abbau von Braunkohle für militärische Zwecke vom griechischen Wehrdienst zu befreien. Bei der Planung erinnerte er sich an jenen sonderlichen Mann, den er vor kurzem während eines Pilgerwegs auf dem Kloster Athos traf, einen knapp 50-jährigen Haudegen, „strotzend vor Vitalität, gebräuntes und runzliges Gesicht, gelockte Haare, markanter Schnauzbart, kecker Hut, kariertes Sakko und Augen, die so spöttisch funkelten und unruhig kreisten wie der Blick eines Raubtiers“.

Als eine Zorbastochter im Jahre 1965 die Filmpremiere im Athener Olympia-Kino sah, musste sie, dem Wahnsinn nahe in eine Klinik kutschiert werden, weil sie felsenfest davon überzeugt war, in Anthony Quinn ihren leibhaftigen Vater auf der Leinwand gesehen zu haben.

Der reale Georgios Zorbas traf mit dem Linienboot Piräus-Kalamata im Frühjahr 1916 mit sieben seiner zehn Kinder im Schlepptau ein. Am 2. April meldete die lokale Zeitung die Gründung der Minen-Gesellschaft und die Fotos am Stolleneingang zeigen eine kunterbunte Truppe: schnauzbärtige Türken mit Fez und Wasserpfeifen, einheimische Maniaten in kuriosen Folkloretrachten, slawische Macho-Söldner, zwei deutsche Deserteure, vermummte Frauen und allerlei Kinder.

Zur Person

Jener richtige Georgios Zorbas kam 1857 nahe der mazedonischen Stadt Katerini zur Welt. Wegen ständiger Konflikte mit den türkischen Besatzern verbrachte er die Kindheit in abgeschiedenen Gebirgsdörfern, wo er Schafe und Ziegen hütete. Mit 17 Jahren suchte er das Weite, verdingte sich als Gelegenheitsarbeiter und fand schließlich eine Arbeit in einer von Franzosen betriebenen Silbermine. Er heiratete zügig die Tochter des Direktors und verbrachte mit seiner Eleni viele glückliche Jahre, aus denen jene Kinderschar hervorging. Ihr plötzlicher Tod wurde zum schlimmsten Schicksalsschlag seines Lebens. Bei einem Bombenangriff wurde die Mine zerstört und danach irrte der Zorbas-Tross durch die balkanische Trümmerwelt, wobei er jede noch so demütigende Arbeit erledigte: Suppenkoch, Bergmann, Musiker, Schwarzhändler, Holzfäller, Söldner. Nach einem Amokrausch suchte er in einem Athoskloster nach Erlösung.

Später beichtete er Kazantztakis: „Manchmal, nachts kommen die Bilder zurück, ein Albtraum, mein Junge. Ich, der Held, der große Patriot, ich wildes dummes Tier, hurra ich, Zorbas, es lebe das Vaterland. Ein Mörder bin ich, ein Vergewaltiger, Brandstifter, natürlich für die gute Sache. Du sprichst noch vom Vaterland? Du solltest mir lieber glauben, solange es Vaterländer gibt, bleiben Menschen Untiere. Ich glaube an nichts mehr, außer an mich, manchmal. Der Mensch ist eine Bestie. Tust du ihm Grausames an, leckt er deine Füße und zittert vor Respekt. Tust du ihm Gutes an, kratzt er dir die Augen aus und tritt dich mit Füßen. Mönche, Generäle, Anwälte, Tintenkleckser — nichts als feige Köter, die essen, trinken, rammeln und sich sonst vor Angst in die Hose machen, bis sie irgendwann mal steif in der Erde liegen und den Würmern gehören. Ich habe mich davon befreit und bin damit fertig, aus, basta!“

Wer sich heute, 100 Jahre später, im Umfeld des hufeisenförmigen Sandstrands der in Smaragd- und Azurblautönen leuchtenden Kalogria-Bucht auf Spurensuche begibt, kann durchaus ein paar Überbleibsel finden: die Zorbasbaracke zwischen Tamarisken und Granatapfelbäumen, die Stelle jenes berühmten Tanzes, die Meditationshöhle, die Verladestation, das von mächtigen Zypressen verdeckte Bürohaus und die Stolleneingänge mit verrosteten Loren und Schienenstücken.

Wiewohl sich das ganze profitorientierte Projekt als durchaus kompliziert erwies, fühlte sich der kopflastige Literat zum ersten Mal in seinem Leben frei: „Ich schwamm jeden Morgen hinüber in meine Naturhöhle, stellte Tisch und Stuhl auf und widmete mich meiner Lektüre, während das Meer leise rauschte und die glänzenden Kiesel zum Schnalzen brachte. Ein kühler Wind streichelte die silbergrauen Blätter der Olivenbäume. Ich hörte das Hämmern aus dem Stollen, die dröhnende Stimme von Zorbas und das beruhigende Tuckern der Bootsmotoren. Ich konnte es kaum erwarten, dass die Sonne untergehen würde, die Arbeiter nach Hause gingen und wir beide uns in den Sand setzen konnten.“

There is a crack in everything

Im Sommer des Jahres 1917 hatte sich Griechenland unter dem aus Kreta stammenden Premier Venizelos, ein enger Jugendfreund von Nikos entschlossen, dem großen Weltenkrieg beizutreten. Sofort stiegen die Preise für Kohle an. Doch gerade jetzt brach ein Stolleneingang zusammen und es gab einige schwer verletzte Arbeiter. Die Boote ankerten schon seit Tagen unten an der Mole und die Investoren aus Athen und Zürich schickten lästige Telegrammschleifen. Zorbas amüsierte sich über die Sorgenfalten seines Chefs: „Aha, der Herr Kapitalist grübelt. Ideale hin, Moral her, da muss der Pazifismus eben ruhen. Davon abgesehen: Wir brauchen besseres Holz für die Schächte und moderneres Gerät, damit wir Zeit sparen. Das ist doch euer Lebensmotto? Zeit ist Geld.“

Im Lauf des Sommers wurde ihnen immer klarer, dass die Mine nur noch den äußeren Rahmen für das eigentliche Abenteuer darstellte. Nach getaner Arbeit wurde der Strand in ein balkanisches Woodstock verwandelt. Der Koch drehte einen Hammel über dem Feuer, die Dörfler brachten Oliven, Käse, Brot und geharzten Wein. Hatte Zorbas Bestlaune, griff er zur Bouzouki und sang Hohnlieder über Vaterland, Krieg, Eros, Vagabunden, Popen, Gott und Gefängnis. Dazu tanzten sich die Frauen schwindlig und ihre Männer behämmerten ihre Hundsfelltrommeln.

Als schließlich alle gegangen waren, blieben die beiden Freunde zusammen, schwiegen oder redeten: „Ich habe die verdammte Pflicht, Zorbas, diese Welt zu retten, die Dunkelheit zu erhellen. Ich muss die Wahrheit finden. Und ja, dafür opfere ich notfalls mein Leben, so wie Jesus. Ganz einfach, ich gebe mein Leben dafür, dass du erlöst wirst. Und danach erwecke ich Gott zum Leben.“ Mit einem Seufzer betrachtete Zorbas den Vollmond und antwortete: „Ich atme. Ich atme. Ich atme. Ich habe keine Zeit für dieses Gekritzel. Ich erlebe den Krieg, die Frau, den Wein, die Bouzouki. Und jetzt erlebe ich dich. Merke dir eines, mein Junge: wenn du die Mysterien erleben möchtest, dann wirst du keine Zeit für etwas anderes haben. Wer aber die Zeit zum Schreiben findet, der erlebt keine Mysterien, so einfach ist das.“

Während sich Zorbas langsam erhob, meinte Nikos mit leiser Stimme: „Es ist doch völlig unwichtig, welches Problem einen quält, ob groß, klein, dumm, weltbewegend. Wichtig ist, dass man überhaupt eine Qual empfindet, denn nur durch die Qual bleibt der Geist am Leben.“ Mittlerweile stand Zorbas kerzengerade auf den Zehenspitzen, ließ seine Hände zu Flügeln werden, begann wie ein Sufi zu wirbeln, krähte, bellte und jubilierte wie ein sich auflehnender Erzengel, voller Revolte und Spott auf den Herren und seine misslungene Schöpfung.

Immer neue Rückschläge verstärkten die Zweifel am Sinn des Projekts. Bis zuletzt aber hielt Zorbas die Mannschaft auf Trab, lobte, fluchte und rechnete die Tageslöhne ab. Ein tagelanger Herbstregen sorgte am Ende dafür, dass das fragile System der Schächte geflutet wurde und die Mine im tiefsten Herzen zerstörte. Mit Blick auf das große Nichts vor ihren Augen raunte Zorbas seinem Freund ins Ohr: „Spreche mir nach: zum Teufel mit Papier und Tintenfass! Zum Teufel mit Kapital und Zinsen! Streiche all das Spekulieren aus deinem Hirn, scheiß auf die Zahlen, schlage diese verdammte Waage kurz und klein. Nur so kannst du deine Seele retten!“

In seiner „El Greco“-Autobiographie erinnert sich Kazantzakis viele Jahre später: „Zorbas und ich hatten alles getan, um lachend, spielend, diskutierend die Katastrophe herbeizuführen. Ich hatte mein ganzes Geld verloren. Und gerade jetzt empfand ich eine Erlösung. Mir war, als hätte ich in den harten und grässlichen Falten der Notwendigkeit einen Winkel entdeckt, in dem die Freiheit gelassen spielte. Und eine Stimme in mir begann zu jubilieren.“

Neue Finsternis

Im Mai 1919 wurde Kazantzakis vom griechischen Präsidenten Eleftherios Venizelos zum Direktor des neu gegründeten Ministeriums für Wohlfahrt ernannt. Er erhielt den Auftrag, im Kaukasus für die Rückführung Zehntausender Pontos-Griechen zu sorgen, die von kurdischen Armeeeinheiten wie vorrückenden Bolschewisten eingekesselt waren und dem Massenexodus entgegensahen. Dem zehnköpfigen Team gehörte auch Zorbas an. Die riskante Mission führte sie über Konstantinopel nach Tiflis, Kars und Sochum in schockierende Szenerien aus Elend, Tod und Verzweiflung. Es blieb Zorbas überlassen, die traumatisierte und demoralisierte Reisegesellschaft mit befreiendem Anarchengeist halbwegs bei Laune zu halten. Nach drei Monaten hatte der Poet Kazantzakis das Kunststück geschafft, mehr als 150.000 Landsleuten die Heimkehr nach Griechenland zu ermöglichen. Zorbas brachte es lediglich auf zwei russische Frauen, die ihn in seine mazedonische Heimat begleiteten und sich dort familienpädagogisch verdient machten.

In Griechenland kehrte keine Ruhe ein. Nach Versailles wurden neue Zündschnüre ausgelegt. Die Großmächte, vor allem England, hatten die frisch entdeckten Ölfelder nahe Mossul im Auge. Um so diplomatisch wie möglich an das Gold des neuen Jahrhunderts zu gelangen, galt es, das osmanische Reich zu filetieren und möglichst umfassend zu zerstören. Parallel arbeitete eine messianistische Fraktion innerhalb der City of London daran, das Fundament für ein neues Jerusalem zu erstellen.

Deren eloquente Botschafter präsentierten den bereits von leichter Hybris befallenen Griechen die Vision eines wieder auferstehenden Byzanz. In diesem Sinne hypnotisiert rückte die hellenische Armee 1922 guten Mutes in Richtung Konstantinopel vor. Ihr Schicksal kam ihnen in der Gestalt von Kemal Atatürk und den sowjetischen wie französischen Waffengeschenken entgegen. Und bereits ein Jahr später war die Katastrophe von Smyrna perfekt. Während britisch-amerikanische Energiekonzerne ungestört ihre Bohrtürme im Nahen Osten positionierten, verzeichnete das kleine Asien eine Million frischer Leichen, drei Millionen vertriebener Menschen und einen türkisch-griechischen Hass bis tief ins Heute hinein.

Schlechte Nachrichten

Nach dem Treffen Ostern 1922 schrieben sich die beiden Freunde regelmäßig Briefe, ließen sich über die vielen gemeinsamen Freunde Grüße ausrichten und versandten selbstgemalte Postkarten, von denen man einige in dem Kazantzakis-Museum nahe Iraklion besichtigen kann. Ein ganz bestimmtes Telegram aus dem Jahre 1940 brachte Nikos indessen zur Weißglut: „Chef, habe in Skopje einen herrlichen grünen Stein gefunden. Komm sofort hoch, du musst ihn dir anschauen.“ Der Dichter war außer sich vor Wut: „Da stürzt diese Welt in das nächste Gemetzel, Millionen von Menschen zittern vor Angst und dieser alte Narr hat nichts im Kopf außer einem verfluchten Stein. Bedeutet ihm das Leid anderer denn gar nichts? Warum soll ich ihn ausgerechnet jetzt besuchen?“

Bleiben wir im Athen des Jahres 1940: Nachdem der griechische Diktator Metaxa dem Ansinnen von Mussolini gegenüber sein „Oichi“ präsentierte, also das griechische „Nein“, der Achse Rom-Berlin beizutreten, begann die sofortige Okkupation durch Italien und später durch Deutschland, was sich zu einer barbarischen Angelegenheit steigern sollte. Während Zorbas weitgehend vergnügt seine Schächte in mazedonische Berge trieb, verließen Nikos und Eleni Kazantzakis das blutige Pflaster der Hauptstadt und wählten ihr kleines Küstenhaus auf der nah gelegenen Insel Ägina als Refugium.

Im Jahre 1942 brachte der Briefträger einen schwarzumrandeten Umschlag. Eleni öffnete das Couvert und las vor: „Ich bin der Lehrer des Dorfes und ich schreibe Ihnen, um die traurige Nachricht mitzuteilen, dass Georgios Zorbas, der hier nahe Skopje ein Magnesitbergwerk besaß, am vergangenen Sonntag um sechs Uhr nachmittags gestorben ist. In seiner Sterbestunde rief er mich zu sich und meinte mit rauer, aber starker Stimme:

Es gibt da einen Freund von mir, den Tintenkleckser und wenn ich heute oder morgen gestorben bin, dann schreibe ihm, dass ich tot sei und bis zum letzten Augenblick bei vollem Bewusstsein und geistig klar war und an ihn dachte. Schreibe zudem, dass ich nichts bereue von dem, was ich getan habe. Und sage ihm, es möge ihm wohlergehen, obwohl es allmählich Zeit wird, dass er vernünftig werde. Falls ein Priester es wagen sollte, an mein Bett zu treten, möge er sich sofort zum Teufel scheren. Menschen wie ich müssten tausend Jahre leben. Und jetzt gute Nacht.

Danach richtete er sich auf, warf die Decken zur Seite, stieß alle Gäste zurück, ging ans Fenster, riss die Augen auf und begann zu lachen und dann wie ein Pferd zu wiehern. So traf ihn der Tod, aufrecht stehend, die Fingernägel ins Holz gekrallt.“

Die Auferstehung

Kazantzakis benötigte einige Tage, um sich zu erholen. Er ging durch die Wälder, schwamm stundenlang im Meer, legte alle aktuellen Arbeiten zur Seite, füllte dann jenes berühmte Tintenfass und brachte wie in Trance die Erinnerungen an jenen 1916-Küstensommer aufs Papier. Natürlich trieb ihn auch das schlechte Gewissen um, weil ihm jedes Interview, jede Bühnenbearbeitung oder Vortragsreihe wichtiger war, als kurz einmal den Zug nach Skopje zu nehmen. Als Prolog für seinen in rasender Geschwindigkeit verfassten Zorbas-Roman notierte er: „Müsste ich einen seelischen Führer für diese Welt erwählen, dann würde ich — mehr als Buddha, Lenin oder Jesus — meinen Zorbas wählen.

Er besaß alles, was einem Tintenkleckser wie mir abgeht. Er hatte mir gezeigt, dass es im Leben darum geht, tapfer zu leben und zu sterben und nicht ständig auf einen Lohn zu warten. Egal, wie aussichtslos eine Lage auch sein mochte — er wies mir den Weg, das Schicksal mit Freude, Stolz und Würde hinzunehmen. Er lehrte mich, das Leben zu lieben und den Tod nicht zu fürchten. Ich hatte doch immer nach Freiheit gesucht. Er hat mir gezeigt, wie und wo sie zu finden war. Er ist die mächtigste Seele der Erde, der freieste Mensch unter Gottes Himmel. Und so ein Mensch stirbt nicht.“

Die Wirkungsgeschichte

1946 erschien das Buch auf griechisch und 1952 in deutscher Übersetzung und erschien bis heute bei fast 100 verschiedenen Verlagen. Weltweit wurde der Roman, Stand Ostern 2022, über vier Millionen Mal verkauft. Die Verfilmung von Michali Cacoyannis sorgte1965 dafür, dass mit dem irischen Mexikaner Anthony Quinn in der Hauptrolle dieser Zorbas zum Lieblingsgriechen der Welt wurde. Der Zypriote Cacoyannis hatte sich jahrelang wie ein Bettler um einen US-Produzenten bemüht und kurz, bevor er das Vorhaben für alle Zeiten beerdigen wollte, sagte Quinn nur deswegen zu, weil ihm gerade ein anderes Projekt geplatzt war. Er brachte den ebenfalls von Skepsis geplagten Produzenten Darryl F. Zanuck von 20th Century Fox mit ins Boot, dessen Anwälte Cacoyannis mit seriellen Knebelverträgen zur Verzweiflung trieben.

Dieser beschrieb den Quinn der ersten Drehtage so: „Er war alles andere als ein Naturtalent. Wir hatten den besten Athener Tanzlehrer engagiert, doch auch mit ihm hatte er sich ständig herumgestritten. Er hatte entweder keine Lust oder war müde und faselte am Ende etwas daher von einem gebrochenen Fuß.“ Quinn wurde dann von seinem griechischen Chauffeur gedoubelt, obwohl Mikis Theodorakis alles dafür unternahm, aus dem traditionellen Harapikotanz einen artifiziellen Plastik-Sirtaki zu komponieren.

Während die US-Preview-Kritiker den Feta&Ouzo-Schwarzweißfilm einhellig zerrissen, wurde dieser ein paar Wochen später — mit „My Fair Lady“ als Konkurrenz — für sieben Oscars nominiert und erhielt immerhin drei: für Lila Kedrova als beste weibliche Nebenrolle, für Walter Lassallys Kamera und die Ausstattung von Vassilis Photopoulos.

Dieser cineastische Triumph sollte zunächst einmal der CIA-gestützten Gladio-Junta von 1967 bis 1974 zu gute kommen, die den Filmstoff zu einer flammenden Hellas-Tourismus-Kampagne umstrickte und dem Helden das Image eines authentischen Griechenmachos und Freiheitskämpfer gegen den Mehltau der kommunistischen Zersetzung verpasste. Erst bei dem fulminanten 1974-Konzert in Piräus des Tage zuvor aus dem Pariser Exil zurückgekehrten Mikis Theodorakis wurde das Bild nach und nach zurechtgerückt. Ganz nebenbei bedeutete dieser wahnwitzige Abend im illuminierten Fußballstadion am Meer ein Aufbruchssignal für die ganze europäische Linke und bestärkt, beseelt und begleitet die zorbasische Freiheitsidee inmitten chaotischer Umstände bis ins unsere Zeit.

Theodorakis selbst blickte mit gemischten Gefühlen auf seinen Soundtrack, sein Sirtaki-Stückwerk so zurück:

„Zorbas wurde für mich mein größter Erfolg und meine größte musikalische Tragödie. Gewiss, die Musik machte mich weltweit bekannt, und mein Name wurde populär. Tausende haben an diesem Gütezeichen verdient, man denke nur an die Zorbas-Schenken, die Tavernen, Diskos, Hotelanlagen und Reisebüros. Wie viele Musikfassungen des Tanzes heute überall verbreitet sind, weiß niemand mehr zu sagen. Ich selbst aber kam am schlechtesten dabei weg. Die Filmgesellschaft beutete das Werk bis zum Letzten aus, ohne dass sie mir die Tantiemen zukommen ließ, und es hatte keinen Sinn, über Anwälte mit diesen Giganten zu streiten. Schlimmer war, dass man mich ganz einfach mit der Zorbas-Musik identifizierte. Immer wieder legte man mich auf diese Arbeit fest, um mir ernsthafte Musikanliegen ganz einfach abzusprechen. Noch heute stoße ich auf ungläubiges Erstaunen, wenn ich in aller Bescheidenheit auf mein sinfonisches Schaffen hinweise.“

Als Anthony Quinn 1985 nach einer der unzähligen Broadway-Musicalvorführungen von „Zorbas, the Greek“ durch den Central Park zurück zu seinem Hotel ging, spürte er den Lauf eines Revolvers in seinem Rücken. Trotz ausdrücklichen Verbots drehte er langsam den Kopf nach hinten, um mit dem Räuber über eine diplomatische Lösung zu verhandeln. Als dieser im Dunklen das Gesicht wahrnahm, ließ er die Waffe fallen und drückte sein Bedauern aus: „Oh, I´am so sorry, Mr. Zorbas! Go, go, please and have a good night!“

Ostern 2022. Auferstehung scheint nicht in Mode zu sein. Eine Menge Pornfear regiert den Wertewesten. Die Karre sei gegen die Wand gefahren, meinen Kissinger, Schwab und andere alte weiße Männer. Welche Karre? Welche Wand? Überall der erregende Duft von Transformationen, Transhumanisierung, Mutationen, Metamorphosen. Anstrengende Melodien, doch eine gute Zeit, Bach zu hören oder im Faust zu lesen, im Parsifal, Don Quichotte oder sich jenen Schelmenroman über den orientalischen Griechen Zorbas zu besorgen, der sich dem toxischen Entweder-Oder entzieht und sich von Gott und Teufel fernhält. Noch als 75-jähriger hörte man ihn in der Kneipe poltern: „Kennt ihr die Segelschiffe in Piräus mit ihren geflickten Segeln? Eben. Und ein solches Segel ist mein Herz, tausendmal zerrissen, tausendmal geflickt. Und es hält jeden Sturm aus und gibt mir eine Wucht, dass ich die Welt aufs Kreuz legen könnte.“

Davos, Armageddon und die Byrds

Es sieht duster aus da draußen, Schwindel und Wahn jagen die Menschen und auch die Deagal-Prognose für 2025 bereitet wenig Freude. Es ist ja schon viel gewonnen, wenn wir unser Leben mit Anstand, Heiterkeit, Geduld und einem Minimum an Vernunft führen und Gott in Ruhe einen guten Mann sein lassen. Jeder stirbt einmal und das betrifft natürlich auch die Davoser KI-Steckdosenkrüppel. Ewiges Leben oder kurze Heimat der Würmer — who knows? Doch auch der Dreißigjährige Krieg dauerte seine Zeit. Gut und Böse sind nach Armageddon einberufen, daran besteht kaum Zweifel. Und wenn wir schon nach Palästina schauen. Der alttestamentarische Kohelet hinterließ uns vor langer Zeit ein paar Zeilen, die von den Byrds 1965 in das Lied „Turn, turn, turn“ verwandelt wurden:

„Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben, eine Zeit zum Sähen und eine Zeit zum Ernten, eine Zeit zum Töten und eine Zeit zum Heilen, eine Zeit zum Niederreißen und eine Zeit zum Bauen, eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen, eine Zeit für die Klage und eine Zeit für den Tanz, eine Zeit zum Steinewerfen und eine Zeit zum Steinesammeln, eine Zeit zum Umarmen und eine Zeit, die Umarmung zu lösen, eine Zeit zum Suchen und eine Zeit zum Verlieren, eine Zeit zum Behalten und eine Zeit zum Wegwerfen, eine Zeit zum Zerreißen und eine Zeit zum Zusammennähen, eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden, eine Zeit zum Lieben und eine Zeit zum Hassen, eine Zeit für den Krieg und eine Zeit für den Frieden.

Jetzt erkannte ich: Alles, was Gott tut, geschieht in Ewigkeit. Man kann nichts hinzufügen und nichts abschneiden und Gott hat bewirkt, dass die Menschen ihn fürchten. Was auch immer geschehen ist, war schon vorher da, und was geschehen soll, ist schon geschehen und Gott wird das Verjagte wieder suchen.“