Die französische Freiheitsbewegung
„Wir haben eine Bevölkerung, die süchtig nach Angst ist.“ — Ein Interview mit dem französischen Philosophen Idriss Aberkane.
Eines kann man den Franzosen nun wahrlich nicht zum Vorwurf machen: dass sie besonders autoritätshörig seien. Möchte auf dem gegenüberliegenden Rheinufer ein Politiker etwa das Rentenalter anheben, so kann er gewiss sein, dass am nächsten Tag auf den Straßen die Hölle los sein wird. In jede unliebsame Regierungsentscheidung ist der Widerstand der Bevölkerung bereits mit eingepreist. Denn die „Das-lasse-ich-mir-nicht-gefallen-Schwelle“ liegt in Frankreich derart niedrig, dass der jeweils amtierende Präsident, obgleich mit einer aus deutscher Sicht wahrlich grotesken Machtfülle ausgestattet, durch seine Bevölkerung stets auch in seine Schranken verwiesen wird. Kein Wunder also, dass infolge der repressiven Maßnahmenpolitik zur Eindämmung der Coronapandemie immer mehr Menschen in Frankreich regelmäßig auf die Straße gehen, um dort ihren Unmut über die ihnen immer willkürlicher erscheinenden Regelungen der Regierung kundzutun. Dass dem so ist, ist spätestens, seit das Lied „Danser encore“ und der dazugehörige Flashmob viral gegangen sind, auch hierzulande bekannt.
Nun könnte sich für hiesige Maßnahmenkritiker die Frage auftun, wer denn eigentlich die Wortführer dieser neu im Entstehen begriffenen französischen Freiheitsbewegung sind. Wer sich aufmacht, eine Antwort auf diese Frage zu suchen, der wird über kurz oder lang immer wieder über einen Namen stolpern: Idriss Aberkane.
Aberkane zu beschreiben, ist kein sehr leichtes Unterfangen. Der 35-Jährige ist Inhaber mehrerer Unternehmen, dazu Dozent und Essayist. Noch bevor er 30 Jahre alt war, hatte er bereits drei Doktortitel vorzuweisen und bis zu diesem Zeitpunkt ganze 300 Vorträge auf vier verschiedenen Kontinenten gehalten. Allerdings, und das soll an dieser Stelle nicht unterschlagen werden, gibt es auch eine bis heute andauernde Kontroverse rund um mögliche Ungereimtheiten in seinem Lebenslauf, vor allem was seine Doktortitel betrifft. Ihm wird darüber hinaus vorgeworfen, sich als Experte in wissenschaftlichen Disziplinen auszugeben, in denen er kaum einschlägige Erfahrungen vorzuweisen habe.
Diesen Anschuldigungen, die er bis heute nicht gänzlich aus der Welt schaffen konnte, zum Trotz erschien im Jahr 2016 sein erstes Buch mit dem Titel „Befreien Sie Ihr Gehirn!“, welches mit mehr als 200.000 verkauften Exemplaren auf Anhieb ein Bestseller wurde. Sein gleichnamiger Vortrag zählt auf YouTube inzwischen knapp 9 Millionen Aufrufe. Bei einem solchen medialen Erfolg überrascht es kaum, dass es sich Aberkane nicht nehmen ließ, Ende 2019 mit einem eigenen YouTube-Kanal an den Start zu gehen. Etwa zweieinhalb Jahre später zählt der Kanal mehr als eine halbe Million Abonnenten. Sein bis dato erfolgreichstes Video mit dem Titel „Pfizer, ein Unternehmen, das uns Gutes will“ wurde bislang 1,7 Millionen Mal aufgerufen und setzt sich kritisch mit den Machenschaften des genannten Pharmagiganten auseinander.
Aberkane ist also zweifellos eine ebenso schillernde wie auch umstrittene Persönlichkeit und gehört inzwischen zu den einflussreichsten Politkommentatoren in Frankreich. Dieses Renommee, seine klare Haltung beim Corona-Themenkomplex und sein bemerkenswerter Werdegang waren ausschlaggebend, ihn für ein Interview anzufragen. Herausgekommen ist dabei ein Gespräch, bei dem wir nicht nur etwas über die französische Sichtweise auf das Phänomen Corona, sondern auch etwas über die einzigartige Denkweise dieses jungen Bestsellerautors lernen können, der in Frankreich zu polarisieren vermag wie kaum ein Zweiter. Viel Spaß bei der Lektüre!
Rubikon: Hallo Herr Aberkane. Ich freue mich sehr, dass Sie die Zeit gefunden haben, mit mir über die aktuelle politische Situation zu sprechen. Es gibt eine Vielzahl an Themen, die ich gerne ansprechen würde, doch aus praktischen Gründen werden wir uns auf das zentrale Thema der vergangenen zwei Jahre konzentrieren: die Coronakrise. In diesem Zusammenhang gibt es ja eine Menge Wörter — Gesundheitskrise, Pandemie, sogenannte Pandemie —, die je nach Blickwinkel versuchen, das zu beschreiben, was wir alle seit März 2020 erleben durften. Welches Wort würden Sie denn persönlich wählen, für das, was passiert ist, seit Emmanuel Macron seinen berühmten „Krieg gegen das Virus“ ausgerufen hat?
Idriss Aberkane: Betrug, Schwindel, Untreue — all diese Wörter kommen einem in den Sinn. Dazu noch Abschaffung der Demokratie, der Meinungsfreiheit sowie Missbrauch der Wissenschaft. Es ist schwer, alles in ein Wort zu packen. Wir sind Zeugen geworden eines absolut unwürdigen Verhaltens der höchsten Autoritäten. Sei es in Kanada, wo wir gesehen haben, dass die Konten der politischen Opposition mal eben beschlagnahmt werden konnten, oder hier in Frankreich, wo der Staat inzwischen eine Milliarde pro Monat für Tests ausgibt, nachdem zu Beginn der Epidemie noch zu hören war, dass diese nichts nützen würden. Das, was passiert ist, ist wirklich ein historisches Phänomen.
Was nun den Pandemiebegriff im Besonderen angeht, so halte ich es mit dem portugiesischen Richter Rui Fonseca e Castro. Er hat bestätigt, dass der Pandemiestatus nach den portugiesischen Kriterien nie erreicht wurde. Und er musste das ja prüfen; schließlich wurden die Freiheitsrechte eingeschränkt und er musste herausfinden, ob das verhältnismäßig ist. Seine Antwort lautete: nein. Und da man seine Erkenntnisse auch auf viele andere Länder anwenden kann, ist das für mich ein klares Indiz dafür, dass es sich hier um einen Betrug handelt.
Eine Pandemie, eine echte, hört nicht auf, wenn man aufhört, über sie zu sprechen. Eine echte Pandemie braucht auch keine Medienkampagne.
Eine echte Pandemie wird uns sehr leicht wissen lassen, dass sie da ist. Und eine echte Pandemie hört nicht auf, wenn in der Ukraine ein Krieg beginnt.
Zu Beginn der Coronakrise waren Sie in Ihren Äußerungen allerdings noch recht zurückhaltend. Auf Twitter konnte man zum Beispiel lesen, dass Sie am Anfang ein starker Befürworter der Maskenpflicht waren.
Ja, ich war zu Beginn der Epidemie sogar sehr dafür, dass man Masken trägt. Einfach weil es in den ersten Wochen und Monaten etwas ist, das nicht viel kostet und kurzfristig wenig negative Konsequenzen hat. Bis wir also eine vernünftige Datengrundlage hatten, fiel das Nutzen-Risiko-Verhältnis klar zugunsten der Masken und des Händewaschens aus. Jetzt aber, wo sich die Epidemie längst breitgemacht hat, ändert sich dieses Verhältnis und das ständige Maskentragen ergibt aus meiner Sicht überhaupt keinen Sinn mehr.
Was hat Sie kritisch gestimmt? Was war der auslösende Punkt, dass Sie sich gedacht haben: „Irgendwas stimmt hier nicht?“
Für mich gab es zwei Dinge, die mich skeptisch gemacht haben: erstens die Behandlung von Professor Didier Raoult (Emeritierter Professor für Mikrobiologie und Infektiologie an der Universität Marseille, Anmerkung der Redaktion). Und da spreche ich in erster Linie nicht von seinen Studien zu Chloroquin, sondern von der Art und Weise, wie er in den Medien behandelt wurde. Denn ich kenne Raoult. Ich habe seine Arbeit studiert. Er ist ein Wissenschaftler, vor dem ich seit Langem einen großen Respekt habe. Und als ich merkte, wie einige Pseudo-Journalisten behaupteten, er sei nicht kompetent — da wusste ich einfach, dass das eine Lüge ist. Das Ganze wurde dann im weiteren Verlauf immer abstruser und in den Medien lief eine regelrechte Schmutzkampagne gegen ihn.
Nur: Die einzigen Quellen für all die Anschuldigungen, die es gegen ihn gab, waren Journalisten und/oder Ärzte. Nie aber die Personen, die regelmäßig die Verlässlichkeit seiner Arbeit bewerteten. Denn dafür gibt es ja Kommissionen. Und bezeichnenderweise hat sich kein einziges der Gerüchte, die über den Prof. Raoult lanciert wurden — ihm wurde zum Beispiel vorgeworfen, Studiendaten manipuliert zu haben —, vor Gericht bewahrheitet. Kein Richter hat ihn für das, was man ihm vorgeworfen hat, für schuldig befunden. Er hingegen hat mehrere Prozesse gegen Personen, die ihn diffamierten, gewonnen. Doch die Medien berichten nicht darüber.
Dann gibt es da noch einen zweiten Aspekt. Und zwar die Herkunft des Virus. Fledermaus? Schuppentier? Viele ernst zu nehmende Forscher sagten schon sehr früh: „Moment mal, da gibt es doch so ein P4-Labor in Wuhan“. Außerdem gab es mehrere Zeugen in Wuhan, die bereit waren, darüber auszusagen, dass der Ursprung des Coronavirus wohl im Labor liege. Mehrere Zeugen! Aber sie wurden nicht interviewt.
Und dann wurde jeder, der es wagte, das Vorhandensein des P4-Hochsicherheitslabors auch nur zu erwähnen, als Verschwörungstheoretiker verunglimpft. Diese beiden Punkte waren einfach ausschlaggebend, dass ich mir gedacht habe: „Okay, hier wird gelogen. Und wenn so früh schon gelogen wird, dann wird sich das im weiteren Verlauf auch nicht ändern.“
Über die Kontroverse rund um Raoults Forschungsergebnisse kann ich selbst nicht viel sagen. Es ist aber schon so, dass auch bei uns in Deutschland ähnliche Entwicklungen zu beobachten sind wie die, die Sie hier beschreiben. Diejenigen Experten, die bestimmte Narrative infrage stellen, werden sofort von den Faktencheckern unter Beschuss genommen.
Diese Art des „Faktencheckens“ hat sich auch in Frankreich breitgemacht. Deshalb war es mir ein Anliegen, mit dem sogenannten Re-Checking zu beginnen — das heißt also, die Faktenchecker selbst zu checken. Die Willkür, mit der sie gewisse Falschnachrichten durchgehen lassen, ist ja ganz offensichtlich. Wir hatten in Frankreich neuerdings zum Beispiel einen Artikel, in dem allen Ernstes behauptet wurde, dass eine der Auswirkungen von Covid-19 die Verkürzung der Geschlechtsorgane sei. Und die „Faktenchecker“ haben das nie korrigiert.
Oder ein weiteres Beispiel: Es gibt in Frankreich einen Medizinprofessor namens Gilbert Deray, der in einer Sendung gesagt hat: „Ich habe MRT-Bilder von Kindern gesehen, die an Covid erkrankt sind, und das sieht aus wie Alzheimer“. Das hat er gesagt. Und es war gelogen. Da gab es nicht mal ansatzweise einen Beweis dafür. Und die Faktenchecker, die sich eigentlich — bei kritischen Forschern — auf solche Aussagen stürzen wie die Wilden, waren da plötzlich sehr mäßigend unterwegs. Nach dem Motto: „Ja, das war ein Fehler, aber ihr müsst verstehen, der arme Kerl ist müde, er arbeitet viel und eigentlich ist er ja ein Held.“ Und diese einseitige redaktionelle Linie bei den „Faktencheckern“, die weder wissenschaftlich noch rigoros ist, war während der ganzen Krise zu beobachten.
Ich würde gerne eine Verbindung zu Ihrem Buch „Befreien Sie Ihr Gehirn" herstellen, das 2016 im Laffont-Verlag erschienen ist. Ich selbst habe es zum ersten Mal im Sommer 2018 gelesen, nachdem ich Ihren gleichnamigen Vortrag gesehen hatte. Zur Vorbereitung auf dieses Interview habe ich es jetzt erneut gelesen und während der Lektüre festgestellt, dass viele Sätze und Passagen auch auf die aktuelle Situation angewendet werden können. Das beginnt schon mit dem Zitat von Michel de Montaigne auf der ersten Seite. Übersetzt lautet es sinngemäß: „Die wahre Wissenschaft ist eine Unwissenheit, die sich ihrer selbst bewusst ist.“ Mit diesem Satz im Hinterkopf: Welchen Blick haben Sie auf die akademische Welt — die ja auch Ihre Welt ist — während dieser Krise?
Wir sehen, dass die akademische Welt an einem Konformitätszwang erkrankt ist. Das ist aber kein neues Phänomen. Spätestens seit Beginn der 1980er-Jahre, seit Rankings eine immer bedeutendere Rolle spielen, ist das bekannt. Diese Rankings haben die akademische Welt völlig umgekrempelt. Sie sind ein weiterer Auswuchs dessen, was ich in meinem Buch als „das benotete beziehungsweise das bewertete Leben“ bezeichne.
Dieses benotete Leben, das geht für einen Akademiker heutzutage ja gewissermaßen von der Wiege bis zur Bahre. Und ich sage von der Wiege, da es beispielsweise in China Tendenzen dahingehend gibt, zu sagen: „Die Universität beginnt im Kindergarten“.
Ich würde behaupten, dass die Forschung — da diese Tendenzen sich erst seit einigen Jahrzehnten verschärft haben — früher freier war. Klar war nicht alles perfekt. Doch das heute omnipräsente „Publish or Perish“, also der Publikationsdruck, dem man zwangsläufig zum Opfer fällt, wenn man Karriere machen will, den gab es in diesem Ausmaß nicht. Er ist vielmehr ein Produkt der Hochschulrankings, die wiederum maßgeblich davon abhängen, in welcher Zeitschrift — Lancet, Nature, Science et cetera — die hauseigenen Forscher publizieren. Die Chinesen haben auf diese Entwicklungen reagiert, indem sie ihre eigenen Rankings erstellt haben, um dadurch Studenten an ihre Unis zu locken.
Mich persönlich erinnert das alles stark an die Ratingagenturen in der Finanzwelt. Und um ein gutes Rating zu bekommen, ist Konformität für eine Karriere in der akademischen Sphäre zu einer absoluten Notwendigkeit geworden. Damit will ich nicht sagen, dass Konformität früher unbedeutend gewesen wäre. Im Gegenteil: Natürlich hat es einem schon damals das Leben erleichtert, wenn eine gewisse Übereinstimmung zu den Kollegen vorhanden war. Nur ist dieses Übereinstimmen, dieser Hang zum Konsens heute lebensnotwendig geworden. Ich bin überzeugt, dass man heute ohne ein Mindestmaß an Konformität in der akademischen Welt schlicht nicht existieren kann.
Das wiederum ist interessant, da die Erkenntnisse über den menschlichen Hang zur Konformität ja genau dieser akademischen Welt entspringen. Man müsste sich der eigenen Dynamiken also bewusst sein.
Das stimmt. Aber die Leute, die diese Erkenntnisse zutage gefördert haben, waren Rebellen. Egal ob Philip Zimbardo, Solomon Asch, Stanley Milgram oder David Rosenhan — all diese Forscher waren zu ihrer Zeit höchst umstritten. Ihre Erkenntnisse wurden zwar gefeiert, aber doch mit einem gewissen Widerwillen. Sie wurden so lange gefeiert, wie sie nicht auf die Universität selbst angewandt wurden. Das hat sich insbesondere beim Rosenhan-Experiment gezeigt (1), wo die echten Untersuchungsobjekte ja eigentlich die Psychiater sind. Um dieses Experiment gibt es eine bis heute andauernde Kontroverse. Und von dem Moment an, als die Experimente zur Konformität damit begannen, die Wissenschaftler selbst als Probanden herzunehmen, da wurde es unangenehm und da hat man aufgehört, die richtigen Lehren aus diesen Erkenntnissen zu ziehen. Es ist ganz eindeutig, dass die psychologischen Experimente der 1940er- bis 1980er-Jahre seitens der akademischen Sphäre überhaupt nicht assimiliert wurden.
Sie zitieren in Ihrem Buch auch René Guénom, der von der „Herrschaft des Quantitativen“ spricht. Eine Herrschaft, die sich in dieser Krise ja ganz besonders manifestiert hat. Täglich wurden wir bombardiert mit Zahlen — mit „Fällen“, Impfquoten, Sterblichkeitsraten und dergleichen. Wenn ich Sie richtig verstehe, sind Sie kein allzu großer Fan dieser Entwicklungen. Warum nicht? Und was wäre die Alternative?
Die Alternative ist eine Kultur des Qualitativen und die beginnt im Bildungsbereich. Der Bildungsbereich ist allerdings sehr quantitativ, ja sehr industriell ausgerichtet.
Jetzt wissen wir aber, dass es zu Betrügereien kommt, sobald das Quantitative zum König erhoben wird. Das hat sich beispielsweise beim Abgasskandal gezeigt. Oder auch in der Sowjetunion, wo es quantitative Erfolgskriterien gab. Wenn im Fünfjahresplan gefordert wurde, 300 Tonnen Nägel zu produzieren, dann hätte Sie nichts davon abhalten können, einen einzigen 300 Tonnen schweren Nagel zu produzieren. Das gilt aber nicht nur für das sowjetische System, sondern für alle quantitativen Systeme. Im Falle der sowjetischen Planwirtschaft war es natürlich extrem, aber in der Realität wird jedes System, je quantitativer es ausgerichtet ist, immer größere blinde Flecken entwickeln. Es weiß dann schlicht nicht, wie ihm geschieht, wenn ein Phänomen nicht quantifizierbar ist.
Auch der Vietnamkrieg ist ein gutes Beispiel hierfür. Robert McNamara, der amerikanische Verteidigungsminister unter John F. Kennedy und später unter Lyndon B. Johnson, wollte ja, dass dieser Krieg völlig wissenschaftlich und quantitativ geführt wird. Seine Strategie in Vietnam baute vollständig auf Daten. Und den Daten zufolge waren die Amerikaner dabei, den Krieg zu gewinnen. Sie haben aber nicht verstanden, was auf dem Schlachtfeld, jenseits der Daten, noch so passierte. Und dann haben sie verloren. Warum? Weil es ein qualitatives Element in der vietnamesischen Opposition gab, das die Amerikaner nicht messen und nicht verstehen konnten und das letztlich für ihre Niederlage sorgte. Dasselbe Fiasko haben wir dann auch im Irak- beziehungsweise Afghanistankrieg gesehen, die beide noch um ein Vielfaches datenbasierter geführt wurden als der Vietnamkrieg.
Wenn wir daraus also etwas lernen wollen, dann müssten wir dieses Problem an der Wurzel anpacken, das heißt im Bildungssystem. Die Bildung muss wieder vermehrt auf Qualität beruhen. Dafür muss die Gesellschaft ein Verständnis für die Grenzen des Quantitativen gewinnen. Ich habe allerdings meine Zweifel, ob das mit unseren Verwaltungen überhaupt möglich ist. Schließlich haben die nie etwas anderes gelernt. Wir müssen hier aber umdenken, wenn wir nicht weiter junge Generationen heranwachsen sehen wollen, die in ihrem Verständnis der qualitativen Aspekte des Lebens intellektuell kastriert wurden.
In ihrem Buch schreiben Sie — 2016 wohlgemerkt — wörtlich, dass das kollektive Gehirn der Menschheit „im Lockdown“ ist, weil die individuellen Gehirne der einzelnen Menschen im Lockdown sind. Könnten Sie näher erklären, wie genau Sie das meinen, und — auch wenn die Frage vielleicht etwas plump erscheinen mag — gibt es Ihrer Meinung nach einen Zusammenhang zwischen den von Ihnen so bezeichneten „Hirn-Lockdowns“ und den „Covid-Lockdowns“, die wir erlebt haben?
Ja, den gibt es auf jeden Fall.
Freiheit stellt für das Gehirn eine nicht unwesentliche Belastung dar. Denn Freiheit erfordert Anstrengung. Und das Gehirn strengt sich nicht gerne an.
Es gibt da die Theorie des „cognitive Miser“ („kognitiver Geizhals“), die besagt, dass das Gehirn sich am liebsten so wenig wie möglich anstrengt. Das betrifft alles: um die Welt zu verstehen, um Entscheidungen zu treffen, um nachzudenken. Und Freiheit ist gerade die Einstellung, die am meisten Anstrengung erfordert. Wir glauben also klischeehaft, dass Freiheit am einfachsten ist und Disziplin und Verzicht am tugendhaftesten sind. Aber eigentlich ist das nicht wahr.
Klar ist die Fähigkeit, sich selbst zu beschränken, eine Tugend. Aber nur der freiwillige Stoizismus ist eine Tugend. Unfreiwilliger Stoizismus ist ein Laster. Und in Wirklichkeit ist der Großteil der Menschheit nicht bereit, sich der Verantwortung zu stellen, die die Freiheit mit sich bringt. Folglich ist der Großteil der Menschheit mental „im Lockdown“ und ist bereit, dass man ihre individuellen Freiheitsrechte einschränkt, da ihnen die Freiheit Angst bereitet.
Dieses Phänomen kennen wir aus der Geschichte der Sklaverei oder auch aus Gefängnissen: Menschen, die, sobald sie freikommen, sofort wieder eine Straftat begehen, um wieder ins Gefängnis zu kommen. Es gibt diese Panik vor der Freiheit. Und wenn sie jetzt ein Leben haben, das vollständig verwaltet wird, wie zum Beispiel in China, dann bin ich ziemlich sicher, wenn es jetzt hieße: „Das wars, wir lassen das jetzt sein mit dem Sozialkreditsystem“, dass dies einen beträchtlichen Teil der Menschen in Angst und Panik versetzen würde. Und diese Art mentaler Lockdowns waren es, die letztlich dafür gesorgt haben, dass die ganzen Beschränkungen der vergangenen Monate widerstandslos hingenommen wurden. Man kann diese Beschränkungen der Bewegungsfreiheit nicht einfach akzeptieren, wenn man nicht davor schon in seiner Gedankenfreiheit eingeschränkt wurde.
Sie meinen, weil man dann nicht darüber nachdenken muss, ob das, was einem als „solidarisch“ verkauft wird, auch wirklich solidarisch und verantwortungsbewusst ist?
Ja. Es ist viel einfacher, einem Befehl zu folgen, als selbst eine Entscheidung zu treffen. Das hängt eng zusammen mit dem Phänomen der „Entscheidungsmüdigkeit“. Besonders unter Managern ist das sehr bekannt. Im Prinzip wissen wir, dass unser Gehirn nur eine bestimmte Anzahl an Entscheidungen pro Tag treffen kann. Unternehmensbosse versuchen daher, alle Entscheidungen, die nicht ihren Arbeitsalltag betreffen, auf ein Minimum zu reduzieren. Was ziehe ich heute an? Zack, eine Entscheidung weg. Aus diesem Grund hat Steve Jobs immer dieselben Klamotten getragen. Anscheinend wollte er daheim nicht einmal Möbel haben. Menschen wie er, die auf täglicher Basis wichtige Entscheidungen treffen müssen, tun alles in ihrem Leben, um Situationen, in denen sie triviale Entscheidungen treffen müssen, zu reduzieren.
Wenn man dieses Phänomen nun umkehrt, bedeutet das Folgendes: Wenn man die Menschen zwingt, jeden Tag möglichst viele triviale Entscheidungen zu treffen, schränkt man sie in ihrer Fähigkeit ein, bei wirklich wichtigen Entscheidungen klar zu denken. Und dazu sind unsere modernen Entertainmentsysteme wie geschaffen. Die Entscheidungsmüdigkeit ist schon längst da. Das, was Zbigniew Brzeziński in seinem Buch „Beyond Two Ages“ als „Tittytainment“ beschrieben hat, ist schon längst da. Er hatte schon in den Achtzigern beschrieben, dass es aufgrund der explodierenden Weltbevölkerung im Technologiezeitalter wichtig sein wird, die Menschen mit Unterhaltung zu füttern, wie eine Mutter, die ihr Kind stillt. Denn wenn man das täte — und ich meine, man tut es ja offenkundig — dann wäre die Bevölkerung kontrollierbar.
Sein Gehirn zu befreien, so wie Sie das in Ihrem Buch beschreiben, ist ein endloser Prozess. Wie sieht es da bei Ihnen aus? Haben Sie im Laufe der Covidkrise „mentale Ketten“ gesprengt? Und wenn ja, welche?
Ich war ja lange Zeit Redakteur des Magazins Le Point, dem französischen Pendant zum Spiegel. Und da macht man sich natürlich Sorgen um seinen Ruf. Diese Sorgen hintanzustellen, einfach aus der Notwendigkeit der Lage heraus, war eine Lektion, die ich lernen musste. Zwar habe ich schon häufiger Angriffe über mich ergehen lassen müssen und hatte deswegen eine gewisse Grundimmunität, wenn man so will, doch wenn man plötzlich mit Attributen wie „Verschwörungstheoretiker“ versehen wird, dann trifft einen das schon sehr. Das ist die moderne Version des Häretikers. Dann bist du erst mal raus aus dem öffentlichen Diskurs. Das hat mich schon ziemlich geschockt und kurzzeitig war ich wie versteinert. Von daher musste ich lernen, mich aus dieser Schockstarre zu befreien, weiter in Bewegung zu bleiben, wohlwissend, dass ich für meine Positionierung sanktioniert werden würde.
Und so kam es dann auch. Ich habe in den vergangenen neun Monaten mehr Angriffe erlebt als in meinem gesamten vorherigen Leben. Viele Medien haben angefangen, mich zu boykottieren, mich als „schlechten Umgang“ abzustempeln. Als ich dann mein Video über Pfizer gemacht habe, war das der Tropfen, der das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht hat. Mit diesen 1,7 Millionen YouTube-Klicks habe ich mir eine Menge Feinde eingehandelt. Aber genau da liegt der Punkt, wie Lao Tse einst sagte: „Wenn du dich darum kümmerst, wie andere dich sehen, wirst du immer ihr Gefangener sein“. Und das ist eine Lektion, die man leider nicht in der Schule lernt.
Ich würde Sie gerne mit einem letzten Zitat aus Ihrem Buch konfrontieren. Sinngemäß übersetzt schreiben Sie Folgendes: „Ein Volk und sein Innenleben der Angst zu unterwerfen, ist ein Vorgehen, das nur eine Grenze kennt: die Mauer des Selbstmords“. Nun wurden wir alle während der Pandemie einer bislang ungekannten Überdosis an Angst ausgesetzt. Was können wir jetzt tun, um uns von dieser Mauer, der wir doch gefährlich nahegekommen sind, wieder zu entfernen? Denn ich habe das Gefühl, dass die Frustration in der Gesellschaft so groß ist wie nie. Und mit dem Krieg in der Ukraine laufen wir Gefahr, ohne groß nachzudenken, ohne zu reflektieren, von einem Ausnahmezustand in den nächsten überzugehen.
Das stimmt leider. Der britische Forscher Richard Francis Burton — ein außergewöhnlicher Gentleman, der 29 Sprachen fließend beherrschte — sagte einst richtig, dass jedes Laster die Krone der Tugend getragen hat und jede Tugend zuerst als Verbrechen geächtet wurde. Und das ist kein moralischer Relativismus. Was er zeigt, ist, dass Zivilisationen in der Lage waren, furchtbare Dinge als tugendhaft dastehen zu lassen — zum Beispiel das Opfern von Menschen — und tugendhafte Dinge als furchtbar, wie zum Beispiel die Gleichberechtigung von Mann und Frau.
Und ein solches Laster, das heute als tugendhaft gilt, ist beispielsweise das Verfallen in Panik.
In Panik zu verfallen, in einer wahrlich pathologischen Panik zu sein — jeder weiß, dass dies ein Laster ist. Ein Angsthase zu sein und aufgrund seiner Panik den Bezug zur Realität zu verlieren, ist ein Laster. Aber dieses Laster haben wir tugendhaft werden lassen.
Und nun sind wir mit extremen Fällen davon konfrontiert. Es gibt zum Beispiel so einen Kerl auf Twitter, der Fotos von allen Leuten macht, die am Flughafen ihre Maske unter der Nase tragen. Er ist im Grunde genommen das Produkt der Feedbackschleife der vergangenen Monate, bei der man ihm ständig wiederholt hat: „Trage Masken, du rettest Leben, das ist tugendhaft“.
Ein Laster hat per Definition ja immer auch einen gewissen Suchtfaktor. Und wenn man dann das Laster auch noch verstärkt, indem man behauptet, es sei in Wahrheit eine Tugend, dann wird es um ein Vielfaches schwerer, aus dieser Nummer wieder rauszukommen. Und genau hier stehen wir momentan. Wir haben eine Bevölkerung, die süchtig nach Angst ist und die man davon überzeugt hat, dass diese Sucht tugendhaft sei.
Die Lösung wäre Ihrer Ansicht nach also, dass man übermäßige Ängstlichkeit nicht mehr gesellschaftlich belohnt?
Das wäre mal ein guter Startpunkt, ja.
Das Lied „Danser encore“ hat es geschafft, Grenzen zu überschreiten und eine Verbindung zwischen den verschiedenen Widerstandsbewegungen in Europa herzustellen. Sollte man Ihrer Meinung nach diese Art von Verbindung stärken?
Ja, natürlich. Die Gegenseite versucht ja, den Widerstand in einer gewissen Ohnmacht zu halten. Doch was wirklich entscheidend ist, ist das Bild, das eine Widerstandsbewegung von sich selbst hat. Und wenn eine Bewegung ein Selbstbild hat, bei dem sie der absoluten Überzeugung ist, gewinnen zu können, dann wird sie nicht aufzuhalten sein. Alle Besatzungsmächte wissen das. Die Amerikaner haben es im Vietnamkrieg erfahren müssen und die Franzosen in Algerien. Wenn ein Volk sich zum Widerstand entschlossen hat und entschlossen genug ist, dann kann man nichts machen. Das Einzige, was man im Vorfeld tun kann, ist, durch Propaganda die Menschen davon zu überzeugen, dass „Widerstand eh nichts bringt“. Insofern ist alles, was die wahre Macht des Volkes medial in Szene setzt, für die Eliten absolut angsteinflößend.
Das haben wir zum Beispiel beim Freedom Convoy (Protestzug von Truckern in Kanada, Anm. d. Red.) gesehen. Das hat denen richtig Angst eingejagt. Und die Ukraine kam da zur rechten Zeit, damit wir aufhören, darüber zu reden. Justin Trudeau ist ja sogar aus Kanada geflohen. Das muss man sich mal vorstellen! Ich meine, hallo, Ottawa, das ist jetzt nicht Paris. Und Trudeau ist aus Ottawa geflohen. Je nach Informationsquelle heißt es sogar, er hätte kurzzeitig das Land verlassen. Da hat man einen ersten Eindruck bekommen, was mit friedlichem Protest alles möglich ist.
Was ich jetzt am Lied „Danser encore“ besonders gut fand, war, dass es für die Meinungsmacher fast unmöglich war, diese Menschen zu dämonisieren. Beim Freedom Convoy kam wieder die alte Leier von wegen alles Neonazis, Faschisten und so weiter. Wenn man das jetzt bei Leuten machen würde, die einfach nur rumtanzen, dann hätte man sich in seiner Lächerlichkeit endgültig selbst demaskiert.
Vor kurzem ist Ihr neuestes Buch „Le triomphe de votre intelligence – Pourquoi vous ne serez jamais remplacé par des machines“ (deutsch: Der Triumph Ihrer Intelligenz – Warum Sie niemals durch Maschinen ersetzt werden) erschienen, in dem Sie sich vor allem der künstlichen Intelligenz widmen. Waren es die Entwicklungen rund um die Coronakrise, die Sie zu diesem Buch inspiriert haben?
Tatsächlich habe ich insgesamt vier Jahre lang an diesem Buch gearbeitet. Es setzt allerdings bei der Coronakrise an, weil alle Elemente, Argumente und Konzepte, die ich in diesen Essay eingebracht habe, ohne weiteres auch auf die Coronakrise übertragbar sind. Der automatisierte Charakter gewisser Modelle, die Tatsache, wichtige Entscheidungen mit Maschinen zu treffen, das sind ja alles Dinge, die wir inzwischen nur allzu gut kennengelernt haben. Das Buch hat für mich auch insofern gepasst, da es die logische Fortsetzung dessen ist, was ich in meinen vorherigen Büchern mit der Herrschaft des Quantitativen beschrieben hatte.
Künstliche Intelligenz (KI) ist ein Avatar der Zivilisation der Quantität. Denn künstliche Intelligenz kann derzeit praktisch nur quantitativ sein. Nicht potenziell; potenziell können wir KIs haben, die qualitativ arbeiten, aber die Richtung, in die wir heute gehen, ist, KIs zu schaffen, die fast zu 100 Prozent quantitativ sind in ihrer Funktionsweise und in ihrem Lernprozess. Das Lernen wird übrigens in den meisten Fällen überwacht, und das ist wiederum mit Benotung gleichzusetzen. Aber das nur am Rande.
Im Großen und Ganzen ging es mir bei dem Buch darum, aufzuzeigen, wo die Ursprünge der künstlichen Intelligenz liegen — und sie liegen, welch Überraschung, im militärisch-industriellen Sektor —, und ich versuche darzulegen, was passieren wird, wenn die künstliche Intelligenz zu einem globalen Standard in der Zivilgesellschaft wird.
Das Ziel dabei ist natürlich, dass wir als Gesellschaft die richtigen Schlüsse aus diesen Entwicklungen ziehen. Und das können wir nur, wenn wir von den Entwicklungen nicht einfach überrumpelt werden, sondern indem wir beginnen zu verstehen, Fragen zu stellen und uns einzumischen.
Eine letzte Frage: In Frankreich finden bald die Präsidentschaftswahlen statt. Gibt es einen Kandidaten, den Sie favorisieren?
Ich habe drei Prioritäten: Die Abschaffung des permanenten Ausnahmezustands, mehr nationale Souveränität und mehr direkte Demokratie. Der Kandidat der ersten Runde, der dem am nächsten kommt, ist Nicolas Dupont Aignant.
Ansonsten habe mich auch klar dahingehend geäußert, dass falls Macron es in die zweite Runde schafft, ich gegen ihn stimmen werde, ganz egal, wer gegen ihn antritt. Auch wenn ich hier womöglich gegen einige meiner Prioritäten anwählen muss — gegen Macron hätte ich kein Problem, für Mélenchon, für Zemmour oder für Le Pen zu stimmen.
Herr Aberkane, vielen Dank für Ihre Zeit.
Quellen und Anmerkungen:
Das Interview wurde vor den Präsidentschaftswahlen in Frankreich in französischer Sprache geführt und anschließend übersetzt.
(1) Anmerkung: Beim Rosenhahn-Experiment ließen sich acht Pseudopatienten, die behaupteten, Stimmen zu hören, unter falschem Namen in Psychiatrien einweisen. Alle Testpersonen wurden aufgenommen und keine wurde vom medizinischen Personal als gesund erkannt. Bei einer Person wurde eine Schizophrenie diagnostiziert, bei einer anderen eine manisch-depressive Psychose. Im Schnitt blieben die „Patienten“ 19 Tage in der Klinik und es wurden ihnen insgesamt 2.100 Tabletten verabreicht.
Link zum Vortrag „Wie können wir unser Gehirn befreien?“ aus dem Jahr 2018: https://www.youtube.com/watch?v=ibIjlXSagME&t=5s
Link zum YouTube-Kanal von Idriss Aberkane: https://www.youtube.com/channel/UCsBPtU4hJkWNQ4kA-IsxgKw