Die fraktale Gesellschaft
Die Schule und die Gesellschaft haben viele Wechselwirkungen — leider auch zerstörerische.
Die Ereignisse auf der Welt scheinen oft voneinander isoliert stattzufinden. Kriege brechen aus, scheinbar ohne Zusammenhang zu anderen wichtigen Geschehnissen. Menschen begeben sich auf den Weg in andere Länder, die Umwelt wird zerstört, und doch scheint das alles mit uns nichts zu tun zu haben. Aber wir leben in einer fraktalen Gesellschaft, in der sich bestimmte Grundmuster immer wieder wiederholen. Wird das Gesamtsystem von Gewalt beherrscht, so findet sich diese Gewalt auch im Kleinen wieder. Gleichzeitig wirkt das Kleine auch auf das Große, und so bedingt sich beides gegenseitig.
Was hat ein durchschnittliches deutsches Gymnasium mit dem Krieg überall in der Welt zu tun? Das scheint zunächst eine absurde Frage zu sein. Denn in den zahlreichen Kriegen werden Menschenleben vernichtet, Häuser zerstört und die wirtschaftliche Grundlage ganzer Länder über Generationen hinweg geschädigt. Hunger, Flucht, Armut, Tod und Seuchen sind die Folge — die Zukunft der Betroffenen wird durch Kriege zerstört. In Schulen hingegen werden Kinder auf demokratische Werte eingestimmt, ihnen wird Bildung vermittelt, sie werden auf das Erlernen eines Berufes vorbereitet und damit für ihre Zukunft fit gemacht. Schule bewirkt also das Gegenteil von Kriegen.
Geht man jedoch etwas tiefer, so muss man sich zunächst die Frage stellen, auf welche Weise Schule all diese hehren Ziele zu erreichen wünscht. Schaut man sich das System Schule an, dann herrschen dort vor allem Zwang, Gehorsams- und Leistungsdruck, Unfreiheit. Das Schulsystem gliedert Kinder in ein rigides Zwangssystem aus Regeln, Vorgaben, Anforderungen und Erwartungen. Die Schüler werden miteinander verglichen, werden im Hinblick auf ihnen von außen auferlegten Vorgaben abgeprüft und anhand ihrer Leistung kategorisiert. Die Schüler haben in der Regel kein Mitspracherecht bei den Themen, dürfen nicht ihren Interessen folgen, sondern bekommen einen starren Unterrichtsplan — erdacht in fernen Ministerien – vorgesetzt, der abzuarbeiten ist. So viel dann auch schon zur Demokratie. Schulen sind alles andere als demokratisch, sie sind autoritäre Institutionen, welche die Kinder auf ebensolche Verhältnisse vorbereiten sollen.
Dabei wirken sie über das Mittel der Gewalt. Natürlich werden Kinder heutzutage in der Schule nicht mehr geschlagen. Die Gewalt ist eine psychische.
Ständiger Druck, der Zwang, sich dem zu unterwerfen, was vom System vorgegeben wird, fremde Lernziele zu erreichen und im Vergleich zu bestehen — all das führt zur Unterdrückung eigener Impulse der Neugier, des Willens zu lernen.
Bei Prüfungen gilt: Jeder arbeitet für sich allein, auf keinen Fall ist Teamwork erlaubt. Wer seinem Nachbarn hilft und dabei erwischt wird, bekommt — ebenso wie der Nachbar — eine schlechte Note und gefährdet damit seine Zukunft. Schüler müssen lernen, ihre natürlichen Impulse zu unterdrücken, um sich an die gegebenen Umstände anzupassen. Sie verleugnen Teile von sich selbst, verdrängen sie, und müssen sich in ihren Persönlichkeitsstrukturen anpassen — was die Definition des Traumas erfüllt.
Ein Trauma bezeichnet nicht ein schlimmes Ereignis an sich, sondern die psychische Reaktion darauf. Erfordern die Umstände, eigene Persönlichkeitsanteile abzuspalten und Emotionen zu unterdrücken, dann ist diese Abspaltung traumatisch. Der traumatisierte Mensch wird von dieser Abspaltung schwer beeinträchtigt, er bekommt keinen Zugang mehr zu seinen Gefühlen. Und das ist genau das, was eine Schule am laufenden Band macht: Sie traumatisiert die Schüler.
Damit wirkt die Schule direkt auf die Psyche der Kinder ein. Sie verändert diese und bringt tausendfach traumatisierte junge Menschen hervor, die dann in die Welt entlassen werden, um in der Gesellschaft ihren Platz einzunehmen.
Doch traumatisierte Menschen reproduzieren ihr Trauma. Die systemische Gewalt, die ihnen in der Schule begegnet ist, halten sie nun für vollkommen normal, und leisten ihren Anteil daran, diese in der Gesellschaft zu wiederholen. Wenn sie irgendwann Kinder bekommen, werden diese wiederum häufig Opfer der Traumatisierungen ihrer Eltern.
Nicht wenige Kinder sind schon vor dem Eintritt in die Schule traumatisiert oder psychisch geschädigt. Anderenfalls würden sie das System Schule auch gar nicht überstehen.
Selbstverständlich kann auch das rigide System Schule nur aus einer Gesellschaft hervorgehen, die ihrerseits systemische Gewalt ausübt, von Trauma und unterdrückter Emotion beherrscht wird, und dies normalisiert.
Die Schule ist damit das Abbild der Gesellschaft als Ganzes, und wirkt ihrerseits in die Psyche der Menschen, und damit wieder zurück auf die Gesellschaft. Es ist eine fraktale Organisation. Fraktale sind geometrische Formen, die durch Selbstähnlichkeit gekennzeichnet sind. Das bedeutet, dass sich dasselbe Muster immer wieder reproduziert, egal, wie weit man in die einzelnen Details des Musters hineinschaut.
Die Transferleistung
Ähnlich funktioniert die menschliche Gesellschaft. Die Organisation eines Staates spiegelt sich in der Organisation ihrer Institutionen wider. Treffen wir in der Institution Schule auf systemische Gewalt- und Trauma-Strukturen, deutet das auf ähnliche Muster in der Gesamtgesellschaft hin. Gleichzeitig kann man auch in der individuellen Psyche solche Strukturen vermuten. Und schauen wir uns die Gesellschaft als solche an, dann erleben wir systemische Gewalt an allen Ecken und Enden. Ökonomischer Zwang, sich einem Arbeitgeber zu unterwerfen und den fremden Willen in fremdem Interesse auszuüben, ist die stärkste Kraft der Gesellschaft. Hinzu kommt ein rigides Staatssystem, das sich auf Polizei und Militär stützt und dafür Sorge trägt, dass dieses Zwangssystem auch aufrechterhalten wird. Der Staat dient dazu, den Zwang in Gesetzesform zu gießen und ihm damit den Anschein der Legitimität und der Normalität zu verleihen.
Überall werden Menschen gegängelt — durch Gesetze, Behörden, Vorschriften und Zwangsvollstrecker. Wer sich nicht unterwirft, den ereilt die Macht des „Rechtsstaates“; wer sich nicht ausbeuten lassen will, wird in ein staatliches „Sozialsystem“ überführt, wo er dann mittels Zwang und Gewalt wieder in die Fremdausbeutung hinein verpresst werden soll.
Die Selbstverständlichkeit, mit der Menschen fremdem Willen unterworfen und in die Selbstverleugnung getrieben werden, um Herrschaft und Fremdsteuerung zu akzeptieren, lernen die Kinder schon zuhause, bei ihren Eltern, die es ebenfalls so gelernt haben, und später in der Schule, um es dann im Berufsleben als vollkommen normal zu erleben und ewig zu wiederholen. Und so bedingen sich die kleinen und die großen Strukturen gegenseitig und wirken aufeinander ein.
Gesellschaften, die Zwang, Trauma und Gewalt als etwas vollkommen Normales erleben, schrecken auch vor Krieg nicht zurück, denn er ist nur die logische Fortsetzung im Außen dessen, was man im Inneren bereits als ganz gewöhnlich erlebt. Denn nun richtet sich der Zwang, die Gewalt, nach außen und zielt darauf ab, auch andere Völker und Gesellschaften den eigenen Vorstellungen, den eigenen Zielen und Interessen zu unterwerfen. Tun sie das nicht freiwillig, dann wird eben Gewalt gebraucht. So treffen in Form von Staaten traumatisierte Gesellschaften aufeinander, die entgegenstehende Interessen und Ziele haben, und anstatt sich diplomatisch auf etwas zu einigen, wovon alle profitieren können, soll Gewalt den als Konkurrenz erlebten Gegenspieler aus dem Weg räumen.
Die Logik der Konkurrenz, des Zwangs und der Gewalt, die den Schülern wie selbstverständlich in den Schulen vermittelt wird, kann also zu gewalttätigen, kriegerischen Gesellschaften führen. Trotz aller Bekenntnisse zum Wunsch nach Frieden und Diplomatie sind diese in den gesellschaftlichen Strukturen überhaupt nicht angelegt. Zwar wird auch in Schulen von Frieden und Demokratie gesprochen, doch es wird zu Gewalt und Totalitarismus erzogen. Gleichzeitig wundern sich Politiker und Medien periodisch wiederkehrend über die Gewalt an Schulhöfen, Amokläufen und eine Faszination für sogenannte „Killerspiele“.
In einer Gesellschaft, die von systemischer Gewalt beherrscht wird, kann kein Frieden reifen. Denn die psychologischen Voraussetzungen für Kooperation, Ausgleich und Diplomatie werden den Kindern schon in der Schule systematisch aberzogen: Wer seinem Nachbarn bei der Prüfung hilft, bekommt eine schlechte Note.
Zusammenarbeit ist unerwünscht. Gleichzeitig konkurrieren die Kinder um die besten Noten. Sie werden auf diese Weise schon sehr früh in eine Logik der Konkurrenz gezwungen, die die Gesellschaft als Ganze beherrscht und die stets verlangt, dass der eine auf Kosten aller anderen vollumfänglich das erhält, was er sich zum Ziel gesetzt hat.
Kooperation, Diplomatie und Ausgleich, die Bereitschaft zum Kompromiss, der für alle Seiten von Vorteil wäre, sind in einem solchen System nicht vorgesehen. Eltern verschlimmern dies oft noch, indem sie auf gute Leistungen beziehungsweise Noten ihrer Kinder bestehen und diese unter Druck setzen. So wird die ohnehin schon knapp bemessene Freizeit durch Nachhilfe weiter zugebaut, und damit der Raum zur freien Entfaltung und Erholung der Kinder abgeschafft.
Es ist daher auch kein Wunder, dass es Schülern und Schülerinnen immer schlechter geht. Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden an Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen; die Psychiatrien und Psychotherapeuten sind vollkommen überlastet. Auch der Konsum von digitalen Medien nimmt immer weiter zu. So waren Kinder und Jugendliche zwischen 12 und 19 Jahren im Jahr 2023 durchschnittlich 224 Minuten online. Dieser Durchschnittswert impliziert: Es gibt durchaus Kinder und Jugendliche, die noch länger am Tag online sind. Doch das Konsumverhalten dieser jungen Menschen spiegelt deren negative Erfahrungen in Schule und Alltag: Denn extremer Konsum ist eine psychische Überlebensstrategie, eine Flucht vor der als unerträglich erlebten Wirklichkeit. Schule macht krank — ebenso wie die gesamte Gesellschaft, aus der sie entstanden ist.
Der Wandel
Es gibt also eine direkte Verbindung zwischen dem System Schule und den Kriegen in aller Welt; zu Ausbeutung, Umweltzerstörung, zu Gewalt und Straftaten. Doch wenn die Gesellschaft eine fraktale ist, dann besteht auch die Möglichkeit, sie durch Änderungen an einer Stelle vollkommen zu wandeln. Dabei ist nicht der große Systemumbruch vonnöten. Es genügt, im Kleinen zu beginnen — bei der eigenen Psyche. So haben die Aufarbeitung der eigenen Traumata sowie das Hinterfragen von Denkmustern, Vorurteilen und Glaubenssätzen einen großen Einfluss auf das eigene Leben — und damit auch auf die Mitmenschen. Wenn man versteht, wie man sein Leben dem Willen anderer untergeordnet hat, wie man sich an Fremdsteuerung gewöhnt hat, dann ist es auch möglich, dies zu ändern und selbstbestimmt weiterzuleben.
Diese Möglichkeit kann man dann auch an seine eigenen Kinder weitergeben, kann verstehen, wann man ihnen gegenüber psychische Gewalt anwendet und damit versucht, ihnen den eigenen Willen aufzuzwingen. Auf diese Weise kann man resilientere Kinder in die Welt entlassen, die das System Schule nicht so ernst nehmen und sich ihre Freiräume suchen können. Auch kann man auf diese Weise das System Schule verändern. Denn wenn viele selbstbewusste, in sich selbst ruhende Kinder aufeinandertreffen, dann wird das System nicht mehr zu ihnen passen, und es entsteht der Druck, es zu korrigieren. Gleichzeitig können die solchermaßen selbstständigen, sich ihrer selbst bewussten Erwachsenen auf das System einwirken, sich in Politik und Wirtschaft einbringen und die Strukturen, die auf Profit, Konkurrenz und Gewalt ausgerichtet sind, von innen heraus transformieren.
Auf diese Weise entwickelt sich ein System der Gewalt allmählich zu einem System des Friedens, der Diplomatie, des Ausgleichs und der Potenzialentfaltung. Und wann, wenn nicht in Krisenzeiten, wie wir sie momentan erleben, öffnen sich Freiräume der Gestaltung und Ansatzpunkte des Wandels? Denn jetzt treten all die verkrusteten Strukturen mit ihren starren Mustern ganz offen zutage — jetzt erkennt jeder, der es sehen will, die Unzulänglichkeit und auch die Gewalt dieses Systems.
Daher wäre es nun an der Zeit, dieses System der Gewalt durch ein friedliches zu ersetzen, damit Zusammenhalt und Kooperation in die Welt treten können. Wenn jeder bei sich selbst anfängt, ist schon ein wichtiger Schritt getan.
Doch es ist nicht notwendig und auch gar nicht möglich, auf eine vollständige Heilung zu warten. Es genügt, sich auf den Weg der Heilung zu begeben, und sich dann mit anderen zusammenzuschließen, die sich ebenfalls auf diesem Weg befinden. Gemeinsam können wir diesen Weg der Heilung beschreiten und darüber — Schritt für Schritt — in eine gesündere Gesellschaft finden.