Die feindliche Übernahme

Daniela Dahn erklärt in ihrem Buch, warum die Wiedervereinigung alles andere als ein Befreiungsschlag war.

Der DDR-Liedermacher Gerhard Gundermann sagte einst, er habe auf das richtige Pferd gesetzt. Leider habe es verloren. Beim Lesen von Daniela Dahns neuem Buch, das sie im Untertitel „eine Abrechnung“ mit der Einheit nennt, musste der Autor immer wieder an Gundermann denken. Daniela Dahn ist bekannt — unter anderem als Mitherausgeberin der Wochenzeitung Freitag und als stellvertretende Vorsitzende des Willy-Brandt-Kreises. In der Schlussphase der DDR war sie Mitbegründerin des „Demokratischen Aufbruchs“. Ihre Kritik an den Verhältnissen ist scharfsinnig und mutig gegen den Mainstream gerichtet. Sie stuft die Annexion der DDR im Klappentext ihres Buches als „eine feindliche Übernahme auf Wunsch der Übernommenen“ ein.

Es geht ihr in ihrer Abrechnung um die Aufklärung über die Manipulation der Menschen durch die westliche Politik und Propaganda, über die „Ahnungslosigkeit und Anmaßung“ vieler VerantwortungsträgerInnen und über die Verbrechen an den Menschen durch Kapital und Militär in vielen Teilen der Welt, angefangen bei dem Staat, in dem sie lebt. Bei alledem geht es ihr um die Menschen und um das Überleben in unserer gefährdeten Welt.

KenFM interviewte Daniela Dahn zu ihrem neuen Buch „Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute“ (1). Eine Stelle in diesem Interview hat mich sofort ins Mark getroffen: Sie berichtete von einem Gespräch, das sie damals mit einem der letzen Staatsratsvorsitzenden, nämlich Egon Krenz, geführt hatte. Sie fragte, ob die DDR-Führung aus seiner Einsicht nicht einen großen Fehler im Umgang mit Andersdenkenden begangen habe. Und in der Tat habe er ihr geantwortet, ja, es sei ein großes Missverständnis, zu meinen, man müsse „immer einer Meinung sein, sonst ist man verloren“.

Diese Stelle führte mich in die Erinnerung an meine Jugend Anfang der 1970er Jahre: Ich war in einer oppositionellen Gruppe in der DKP. Wir waren im Jugendzentrum durch einen kommunistischen Betriebsrat zu marxistischen Studien angeregt worden. Der Kern unserer Position war: Der Marxismus ist eine Denkschulung, die auf der Dialektik aufbaut. Damit ist — mehr als eine Methode — eine Haltung verbunden, die uns befähigt, all unsere Erfahrungen mit dem Blick zu verarbeiten, dass die Realität ein Prozess ist, der sich aus Gegensätzen speist.

Alleine diese Herangehensweise ermöglicht es, wie mir scheint, unvoreingenommen zu verarbeiten, was wir erleben und (mit)gestalten. Sie verhindert jegliche Form von Scheuklappen. Damals war es aber leider das Problem der kommunistischen Weltbewegung, dass wir mit diesem Blick zwar wirklich auf vieles blickten, nur nicht auf uns selbst. Und deshalb mussten wir scheitern. Zu uns kamen damals alle Chefideologen, um uns den Weg des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft nahezubringen. Sie versuchten, uns auf den Weg einer einheitlichen Meinung einzuschwören. Sie scheiterten. Jahre später konnte ich mit ihnen so sprechen, wie ich es mir damals gewünscht hatte.

Wir schauten zurück in später Selbstkritik über das damalige Scheitern unserer Kommunikation, die vor allem darin bestand, Monologe auszutauschen. Daniela Dahns geschärfter Blick auf die Widersprüche des Daseins, ihr Denken in Gegensätzen kann vielen ZeitgenossInnen bei der Verarbeitung vieler Erfahrungen sehr weiterhelfen. Das beginnt gleich auf den ersten Seiten ihres Buches mit einem Zitat von Napoleon, als Hilfe, um zu verstehen, wie die Menschen an der Macht die Geschichte immer wieder so umschreiben, dass die Bevölkerung lenkbar bleibt: Geschichtsschreibung, lesen wir, „ist die Summe der Lügen, auf die die Mehrheit sich einigt“ (2). Das mit der Mehrheit sah Napoleon sicher falsch. Genauer ist da die Erkenntnis von Karl Marx, dass die Gedanken der Herrschenden die herrschenden Gedanken sind (3).

Daniela Dahn bezieht sich im Zusammenhang mit der Geschichtsschreibung zusätzlich auf den Literaten Volker Braun und zitiert ihn mit diesen Worten:

„Was wir landläufig Geschichte nennen, ist der Gegenstand einer Konstruktion, die von Jetztzeit geladen ist“ (4).

Die Aussage von Volker Braun hier einzubringen, trifft den Nagel auf den Kopf. Das Kräfteverhältnis zwischen den Inhabern der Macht und den Gegenkräften hat vielerlei Auswirkungen, nicht nur auf die Entscheidungen im Bereich der Politik und der Gesetzgebung sowie der juristischen Interpretationen, sondern auch in Hinsicht auf die Meinungsbildung auch in der Geschichtswissenschaft. Dies hat Auswirkungen darauf, welchen Weg in die Zukunft die Gesellschaft einschlägt.

Die heute gängige Geschichtswissenschaft in der westlichen Hemisphäre erklärt die Umbrüche von 1989 und den Folgejahren prioritär als Mauerfall mit der Folge der Wiedervereinigung. Häufig kommt der Begriff „Wende“ vor. Das alles wird den Ereignissen und ihren Folgen nicht gerecht, hilft aber der Macht, ihr Bild im Diskurs zu verbreiten. Im KenFM-Interview machte Daniele Dahn demgegenüber sofort deutlich, dass dieser Mauerfall von Berlin keine Wende, sondern in Wirklichkeit ein Weltbeben war.

Es war weder ein rein deutsches noch ein rein europäisches Ereignis. Ihrem Buch ist zu entnehmen, dass sie ab 1990 den Zerfall der Politik verortet, die auf eine sogenannte „Soziale Marktwirtschaft“ setzt. Bis zum Ende des Schönheitswettbewerbs der Systeme im Kalten Krieg ging es dem Kapital darum, die östliche Konkurrenz abzuschütteln, auch indem sie die Arbeiterklasse für sich gewann. Dafür musste das System einen gewissen sozialen Standard bieten, ohne Absturzgefahr ins Nichts. Das wurde 1990 obsolet.

Der Kapitalismus hat sich totgesiegt, insofern ist auch das System, das es im Westen gegeben hatte, ein Verlierer der Einheit. Danach konnte der Neoliberalismus mit seiner Deregulierung und Steigerung der Arm-Reich-Kluft den Gesellschaften auf diesem Planeten seinen Stempel aufdrücken.

Dies geschieht gründlich, auch bei der Neuschreibung der Geschichte: Im kollektiven Gedächtnis soll nur die Tatsache haften bleiben, dass das System, das sich „real existierender Sozialismus“ nannte, eine Gesellschaft der Kontrolle und Repression der Menschen war. Dass dort flachere Hierarchien und auch kulturelle Veranstaltungen zum Betriebsleben gehörten, dass es viele Genossenschaften, Jugendclubs und Polikliniken gab und mehr Güterverkehr auf der Schiene rollte, das soll in Vergessenheit geraten. Der schlechten Bausubstanz vieler Wohnhäuser stand eine Industrie entgegen, die die DDR zu den stärksten Handelsnationen der Welt aufsteigen ließ.

Das Volkseigentum der DDR war etwas ganz anderes als staatliches Eigentum im Kapitalismus: Niemand durfte es privatisieren, also dem Volk aus der Hand nehmen. Anders im Westen:

„Sollte in Kalifornien mal ein Trump-Mann regieren, wird Schluss sein mit der Förderung erneuerbarer Energien“ (5).

Die DDR war kein Sozialismus, insofern vieles zum Tabu wurde. So war „der angreifbarste Punkt des DDR-Antifaschismus immer, dass er versäumt hat, auch die totalitären Tendenzen der eigenen Ordnung zu kritisieren (...) Das hätte zu grundsätzlichen Fragen von stalinistischem Umgang mit Widerspruch geführt und den verfluchten und paranoiden Zwang, hinter jeder Ecke einen Renegaten (...), Agenten und Klassenfeinde aufspüren zu müssen, offenbar gemacht“ (6).

Sie kommt aus ihrer differenzierten Analyse zum Ergebnis, dass das, was gewagt wurde, zunächst gescheitert ist. Das aber sagt nichts über das Kommende. Im Schlussteil des Interviews fügte sie hier an, man müsse sich das jetzt noch einmal ansehen. Nächstes Mal müssten wir nicht bei null anfangen. Scheitern geht schnell, sagt sie; alle, die über Alternativen nachdenken, kommen an der Eigentumsfrage nicht vorbei, wenn sie wirklich etwas ändern wollen. Die Erfahrungen der Vergangenheit sind nutzbar für eine Gesellschaft, in der das Eigentum an Produktionsmitteln und an Dienstleistungs-Infrastruktur der Mehrheit die Möglichkeit gibt, unter demokratischen Verhältnissen mitzuwirken.

Daniela Dahn deckt viele Instrumente der Massenmanipulation auf, mit denen die Herrschenden die Meinungsführerschaft zu sichern versuchen. Der aktuelle Rassismus ist beispielsweise auch deshalb so stark verbreitet, weil bestimmte Informationen nur von solchen Medien wie den Nachdenkseiten und Rubikon im Diskurs gehalten werden: Kurz vor dem Ende des Interviews erwähnt sie, wir hätten für die Bankenrettung in der Folge der Wirtschafts- und Finanzkrise aus den Jahren ab 2008 ungefähr das 15-Fache dessen für die Bankenrettung aus dem Steuersack zu Verfügung gestellt, was wir seit 2015 für die Flüchtlingshilfe bezahlt haben.

Sie fügte an, wir seien aktuell noch nicht im Faschismus, es gebe noch die Möglichkeit, ihn zu vermeiden. Ob es aber möglich ist, die Klimakrise und die kapitalistische Logik der Konkurrenz und des Wachstumsdogmas hinter uns zu lassen, das ist offen.

Ein anderes Narrativ, mit dem die Herrschenden manipulieren, ist der Vorwurf gegen Russland, es habe in der Krimkrise eine Aggressivität an den Tag gelegt, die der Westen zu Recht kritisiere. Daniela Dahn zeigt unter anderem am Beispiel des Jugoslawienkrieges, inwiefern diese Kritik der NATO (un)glaubwürdig ist: Im völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Jugoslawien zerstörte die Nato „476 Bildungsstätten und Schulen, 113 Krankenhäuser und Reha-Kliniken, 74 TV-Stationen oder Transmitter und zahlreiche Elektrizitätswerke, 31 Landwirtschaftsunternehmen, 64 öffentliche Verwaltungen, darunter das Haus der Sozialistischen Partei Serbiens, das Innenministerium, die chinesische Botschaft, Banken, Hotels und Touristenbüros (...) Schaden nahmen 50.000 Wohnungen und 36 sakrale Einrichtungen“ (7).

Im Schlussteil des Buches schreibt Daniela Dahn, die „US-dominierte NATO ist die Schutzarmee des Kapitalismus“ (8). Und sie fügt hinzu:

„Macht euch bewusst, dass unsere repräsentative Demokratie der optimal legalisierende Schutzmantel des Kapitalismus ist“ (9).

Damit meint sie, dass in der Ökonomie die Eigentümer über das Schicksal der abhängig Beschäftigten herrschen, in einer straffen Hierarchie von oben nach unten.

Zur DDR schreibt sie abschließend:

„Wir hatten eine Gesellschaft, in der, nach meinem Empfinden (...) Besitz weniger wichtig war als Beisammensein (...) Mit etwas mehr Zeit hätte womöglich der Beweis erbracht werden können: Es wäre einfacher gewesen, mit der Hand an der Macht und Volkseigentum im Rücken eine humane Gesellschaft zu schaffen, als mit der festgezurrten Fußangel von Eigennutz, Konkurrenz und Wachstum“ (10).

Dieses Buch ist ein Prellbock gegen die Machtpolitik der Herrschenden, die den Menschen Sand in die Augen streuen, um sie dann besser unter Kontrolle halten und ausbeuten zu können. Nach dem Ende sozialistischer Versuche in vielen Staaten — vor allem in Osteuropa —, nutzen die Kräfte des Alten ihre neue Dominanz in der Meinungsbildung, Politik und Ökonomie, um alles aus dem Gedächtnis der Menschheit zu streichen, was den Ideen einer Alternative zum herrschenden System einen Bezugspunkt geben könnte.

Sie blenden nicht nur die Verbrechen des Kapitalismus aus, sondern sie filtern die Erinnerung an die Sowjetunion und an die mit ihr verbündeten Staaten so, dass sie als das Hort der Menschenfeindlichkeit im Gedächtnis haften oder gar als „Fixpunkt der Achse des Bösen“, wie es George W. Bush einst propagierte (11).

Daniela Dahn schlussfolgert aus ihrer Abrechnung, dass „der eigentliche Fehler“ der DDR-Bevölkerung „darin bestand, dem falschen System beizutreten“ (12). Und auf der letzten Seite des Buches formuliert sie noch einen Hinweis an die Fridays for Future-Bewegung:

„Ihr habt schon erfahren, dass es allen Lohnabhängigen per Gesetz verboten ist, an den Fridays mitzustreiken, denn sie haben kein politisches Streikrecht. (...) Wer sich an die Spielregeln hält, hat das Privileg, auf Kosten anderer in den Genuss von Wohlstand und relativen Freiheiten zu geraten. (...) Aber gutes Leben nur für sich selbst ist kein gutes Leben“ (13).

Quintessenz: Es kommt darauf an, die Welt zu verändern, damit das Leben eine Zukunft hat.



Quellen und Anmerkungen:

(1) Daniela Dahn, Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute, Die Einheit — eine Abrechnung, Reinbek 2019, https://www.rowohlt.de/paperback/daniela-dahn-der-schnee-von-gestern-ist-die-sintflut-von-heute.htm und: https://kenfm.de/im-gespraech-daniela-dahn/
(2) D. Dahn, a.a.O., S. 18
(3) K. Marx, Deutsche Ideologie, Marx Engels Werke, Berlin (DDR), 1972, Band 3, S. 47
(4) ebenda
(5) D. Dahn, a.a.O., S. 269
(6) ebd., S. 145
(7) ebd., S. 214
(8) ebd., S. 276
(9) ebd.
(10) ebd., S. 280 f.
(11) https://www.welt.de/print-welt/article408047/Putins-Schmusekurs-mit-der-Achse-des-Boesen.html
(12) D. Dahn, a.a.O., S. 280
(13) ebd., S. 281