Die Farbe der Hoffnung
Werden andere Länder Europas ebenfalls in einem Meer gelber Proteste versinken?
Frankreich trägt gelb! Binnen weniger Wochen wurde die gelbe Warnweste, die in jedem französischen PKW verpflichtend mitzuführen ist, zu einem Statussymbol einer landesweiten Protestbewegung. Diese trägt ein revolutionäres Potenzial in sich, wie es das Europa des 21. Jahrhunderts noch nicht gesehen hat. Welche Hoffnung birgt diese Bewegung? Ist sie echt oder nur eine bewusst herbeigeführte Täuschung? Ist sie das Revolutions-Geheimrezept, welches von anderen Ländern adoptiert werden könnte? Was kann #aufstehen hierzulande von den Franzosen lernen?
Frankreich brennt! Es brennen die rauchverhangenen Pariser Straßen, die Autos in den Vororten und die Herzen der Franzosen. Die gelben Warnwesten sind überall, nur nicht mehr an dem Ort, der eigentlich für sie vorgesehen ist: die Armaturenbretter französischer PKWs. Hängen die gelben Westen nicht an Brücken, Balkonen oder an Verkehrsschildern, zieren sie die Oberkörper aufgebrachter Franzosen. Franzosen, denen der Kragen geplatzt ist. Nein! Nicht die Wohlhabenden, die auf den Champs-Elysées den Hals nicht voll kriegen, sondern die Mehrheit der arbeitenden, lohnabhängigen Franzosen. Die Franzosen, die durch den Jahre – wenn nicht Jahrzehnte – andauernden Sozialabbau schwer gebeutelt wurden.
Wir haben es hier mit einem sozialen Vulkanausbruch zu tun! In den Aschewolken können Macron und der Rest der französischen Finanzelite die Konturen der Geister sehen, die sie riefen. Doch bevor wir der Frage nachgehen, ob es dieser Vulkanausbruch auch vermag, einen Ascheregen auf die anderen europäischen Länder niedergehen zu lassen, sollten wir uns Gedanken darüber machen, wer die treibende Kraft hinter den gelben Westen sein könnte.
Wo kommt ihr her?
Spekulationen, so wild wie die Bewegung selber, machten in den Medien die Runde: Wer könnte dahinterstecken? Manche Medien vermuten wieder den bösen Putin als Drahtzieher. Und als wenn das nicht schon absurd genug wäre, verdächtigt so mancher Spekulant gar die Rapper Jay-Z und Kanye West, diese Bewegung von langer Hand angekündigt zu haben.
Zu Ersterem: Es ist anzunehmen, dass mittlerweile in den Pausenräumen aller großen Medienkonzerne kein Marmeladenbrot mehr mit der bestrichenen Seite zu Boden gehen kann, ohne dass man – statt der Schwerkraft oder der eigenen Schusseligkeit – den allmächtigen Putin dafür verantwortlich macht. Egal, was im Westen nicht nach Plan verläuft, als Schuldigen hat man ganz schnell Russland mitsamt seiner Staatsmedien sowie die angeblich hundert Mann starke „Trollfabrik“ ausgemacht.
Ist ja auch völlig plausibel! Welcher Franzose kommt schließlich nicht auf die Idee, sich bei Minustemperaturen eine gelbe Weste überzuziehen, um lautstark und mit vollem Körpereinsatz auf den Straßen Frankreichs Luft abzulassen, weil er auf Twitter von einem russischen Tweet vereinnahmt wurde?
Die zweite These, dass die Rapper Kanye West und Jay-Z im Rahmen einer okkulten Ankündigung diese Ereignisse im Jahre 2012 mit ihrem Musikvideo „No Church in the wild“ vorhersagten, ist zweifelsfrei abenteuerlich, um nicht zu sagen haarsträubend. Doch zumindest einen interessanten Denkansatz birgt dieser Gedankengang. Und zwar jenen, dass die gesamte Bewegung eine bewusst herbeigeführte Inszenierung im Rahmen eines „Hoffnungs-Managements“ sein könnte – ein Begriff von Prof. Rainer Mausfeld, auf den wir noch eingehen werden.
Hoffnungs-Management beschreibt das bewusste Streuen (falscher) Hoffnung, das die „Veränderungsenergie“ der Massen in bestimmte, ungefährliche, nicht-subversive Bahnen lenken soll. Als Beispiel führt Mausfeld gerne Ex-Präsident Obama an, der mit seiner „Yes-We-Can“-Wahlkampagne Hoffnungen auf eine alternative Politik in den Menschen schürte.
Könnte es also sein, dass die Gelbwesten-Bewegung bewusst herbeigeführt wurde, um in dem darin entstehenden Chaos bestimmte Maßnahmen und Ziele durchsetzen zu können – wie bei einer Fußballweltmeisterschaft? Dies lässt sich mit den aktuell vorhandenen Informationen nicht beantworten. Das Nachdenken darüber lohnt allemal.
Nicht wiederholbarer Schachzug
Aber betrachten wir diese Bewegung optimistisch und genau als das, als was sie sich ausgibt. Als etwas, das wir – insbesondere in Deutschland – nicht mehr für möglich gehalten hätten. Ein explosiver, nicht mehr zu bändigender Volkszorn, der es vermag, nicht nur einzelne soziale Zugeständnisse von der Polit-Elite zu erringen oder kleinere Gesetze zu verändern, sondern sich anschickt, die herrschenden Strukturen grundsätzlich aufzuwirbeln. Eine Masse aus Lava, die den jetzigen Status Quo wirklich zum Schmelzen bringen kann und keine lauwarme Suppe, wie wir sie von bunten Schönwetter-Campact-Demonstrationen kennen. Mit anderen Worten gefragt: Erleben wir in Frankreich gerade das Ende einer neoliberalen Ordnung?
Nach Rainer Mausfeld könne jeder Schachzug gegen die neoliberale Ordnung nur ein einziges Mal gespielt werden. Die blitzschnelle Lernfähigkeit der herrschenden Klasse lässt denselben Zug, denselben Schlag kein zweites Mal zu. Wenn die Faust der 99 Prozent einmal aus einer unerwarteten Richtung kam, wird man das nächste Mal darauf gefasst sein. Die massive Gewalt, mit der das Macron-Regime gegen seine Bürger vorgeht, spiegelt die Überraschung in der französischen Elite wider.
Wir können uns einig sein, dass es kein Patentrezept für Umstürze gibt. Man kann nicht alle gelben Westen Frankreichs mit der Maus markieren, kopieren und in einem anderen Land einfügen.
In anderen Ländern wird man nun sehr genau beobachten, ob die Westen – ob nun gelb oder anders grell – nur bei einem Verkehrsunfall hervorgeholt oder für revolutionäre Absichten zweckentfremdet werden. Es mag durchaus das Klassenbewusstsein stärken, wenn die lohnabhängige Klasse anderer Länder sich nun ebenfalls gelbe Westen überstülpt, aber es müssen definitiv neue Strategien entwickelt werden. In anderen Ländern wird man kein zweites Frankreich zulassen!
Eine weitere entscheidende Rolle spielt zudem auch, wie fruchtbar der Boden in dem jeweiligen Land für solch eine Bewegung ist, die jegliche innergesellschaftlichen Gräben überwindet. In den Ländern Südeuropas, die durch die Troika bis aufs Blut ausgepresst wurden, dürfte eine Bewegung mit vergleichbaren Zielen Anklang finden können. Es stellt sich nur die Frage, wie über einen anderen Faustschlag-Winkel ein vergleichbar heftiger Schlag erzielt werden kann. Dies ist die große Frage, die eines hohen Maßes kollektiver Kreativität der dortigen Bevölkerung bedarf.
Und hierzulande?
Große Zweifel kommen hingegen auf, wenn man übers bequeme Deutschland nachdenkt, in dem man – so das Merkelsche Narrativ – gut und gerne lebt: Werden Bewegungen wie #aufstehen imstande sein, eine ähnliche Schlagkraft zu entwickeln?
Die Wucht der sozialen Bewegung, die immerhin zu über 80 Prozent Rückhalt in der französischen Bevölkerung findet, veranlasste auch Bernd Riexinger, Parteichef der LINKEN, ein Statement abzugeben. Laut ihm ist das „Potenzial Ultrarechter in den Reihen der Bewegung besorgniserregend.“ Und: „In Deutschland wäre eine solche Verbrüderung linker und rechter Gesinnung nicht denkbar.“
Diese erbärmliche Reaktion zeigt wieder einmal, wie abgehoben und systemintegriert auch die LINKE ist.
Um das Aufbegehren der Bevölkerung zu diffamieren, werden die Gelbwesten sofort mit der Nazi- und Querfrontkeule erschlagen. Frei nach dem Motto: „Was wir nicht kontrollieren können, kann ja nur schlecht sein.“
Sicherlich kann man nicht in die Köpfe aller beteiligten Menschen schauen und Marine Le Pen versucht, die Bewegung für sich zu kapern. Aber gerade, dass die Bewegung sich von keiner Partei, Gewerkschaft oder bekannten Persönlichkeit vereinnahmen lassen, zeugt davon, dass die Gelbwesten nicht rechts sind. Diese Menschen brauchen keinen Führer, der sich an ihre Spitze stellt und ihnen sagt, wo ihre Probleme liegen und wie sie diese am besten auszudrücken haben.
Daraus speist sich die Kraft der Bewegung und die Empörung und Angst, die sie beim Establishment auslöst. Es gibt keine zu identifizierende Führungsperson oder kleine Interessengruppe, von der der Widerstand getragen wird, und durch deren Wegfall oder Festnahme der Widerstand abklingen könnte. Die Demonstrierenden drehen an vielen kleinen Rädchen des Systems, knabbern alle Kabel an und sägen alle Stützsäulen ein. Menschen aus allen Bereichen, auf dem Land und in den Städten beteiligen sich an den Protesten. Die Franzosen – und wenngleich Pauschalisierungen nie richtig sind, so will ich hier aufgrund der großen Solidarität doch von „den Franzosen“ reden – haben verstanden, dass es nichts bringt, Macron abzusägen und dafür irgendeinen anderen Schnösel zu wählen. Es geht um eine grundlegende Systemveränderung.
Um ihre Forderungen durchzusetzen bzw. um sich überhaupt Gehör zu verschaffen, greifen einige Demonstranten leider auch zu Gewaltmitteln. Die Tagesschau berichtet natürlich mal wieder nur von Gewalt im Allgemeinen, ohne zu fragen, woher dieses Aggressionspotenzial kommt. Doch vielmehr handelt es sich um Notwehr gegen ein System, welches auf Gewalt und Unterdrückung beruht.
Die gewaltsamen Angriffe, gegen die sich die Gelbwesten richten, sind die zu niedrigen Löhne und Renten, die immer schlechteren Zukunftsperspektiven für Schüler und junge Menschen, die unerhört hohen Mietpreise, die hohen Steuern und Sozialabgaben, während Unternehmen ihre Steuern im Sand vergraben. Die Gelbwesten protestieren dagegen, dass der Staat Banken rettet, die sich verspekuliert haben. Die Franzosen haben es satt, sich regieren zu lassen, und erkämpfen sich ihre Würde zurück.
Der Staat hat dagegen keine Skrupel, sein Gewaltmonopol auszunutzen und ist nicht sparsam damit, Polizei und ominöse Schlägertruppen gegen die Gelbwesten einzusetzen, um die bestehende Ordnung aufrechtzuerhalten. Als ich die Videos sah, wie Demonstranten erschlagen, mit Knüppeln misshandelt, von Pfefferspray fast erstickt und sogar angeschossen werden, wurde mir schlecht.
Diese Übergriffe zeigen, wie unbarmherzig der Staat ist und dass mit einem „Bitte“ und einem Lächeln keine Veränderungen herbeigeführt werden können. Wenn sich die Staatsgewalt sogar schon gegen demonstrierende Schüler richtet, wie die Festnahme von 146 Schülern belegt, tritt offen zu Tage, welche Seite in der Auseinandersetzung eskalierend agiert. Entscheidend ist auch, dass sich die „Gewalt“ der Gelbwesten nur in sehr geringem Umfang gegen andere Menschen richtet und nicht vergleichbar ist mit der alltäglichen staatlichen Gewalt in all ihren Erscheinungsformen. Kaputte Autos, besprühte Wände oder andere Sachbeschädigungen verblassen angesichts der menschenverachtenden Strukturen des weltweit herrschenden Neoliberalismus mit millionenfachem menschlichem Leiden
Nachdem sich Sahra Wagenknecht bereits mit den Gelbwesten solidarisiert hatte, sprach der Vorstand der Linken ein eher halbherziges Statement aus und begnügte sich mit der Aussage: „Wir sehen in der Breite des sozialen Widerstandes auch eine Ermutigung für Deutschland.“ Angesichts der genannten Äußerungen von Bernd Riexinger dürfte selbst diese halbgare Kompromissformel nicht repräsentativ für die gesamte LINKE sein, sondern allein dazu dienen, den Burgfrieden innerhalb der Partei zu wahren.
Doch die gespaltene Meinung der Partei gegenüber linken Bewegungen außerhalb des Parlaments deutete sich schon bei den Positionierungen zu #aufstehen an. Daher wirkt es doch paradox, dass die Gelbwesten eine Ermutigung für Deutschland sein sollen, wenn schon #aufstehen nicht auf Begeisterung gestoßen und längst nicht so eine starke Massenbewegung ist. Trotz der konkreten Aufforderung, aufzustehen, ist die deutsche Bewegung noch nicht von Erfolg gekrönt. Es fehlen die spontane Begeisterung, die Motivation der Menschen und die konkreten Aktionen. In Frankreich gibt es, was Aufstände und Ungehorsam angeht, ein grundsätzlich anderes Selbstverständnis und eine andere Tradition als in Deutschland. Viele Deutsche sind zu sehr an Anweisungen „von oben“ gewöhnt, fühlen sich in ihrer passiven Rolle zu sicher und sind für Revolte zu obrigkeitshörig.
Die Liste der Revolutionen in Deutschland ist nicht besonders lang. Aufstände lassen sich an einer Hand abzählen: Der Bauernkrieg 1525, die bürgerliche Revolution 1848, die Novemberrevolution 1918, etwas Unruhe in den Jahren 1967/68 und die friedliche Revolution 1989. Bei all diesen Ereignissen wurden die eigentlichen Bestrebungen der Menschen entfremdet und „Demokratie“ letztlich aufoktroyiert. Wir Deutschen sind also nicht die erfahrensten und mutigsten Revolutionäre und überdies nicht besonders ehrgeizig darin, für unsere Rechte und Demokratie zu kämpfen – vor allem, wenn das heißt, sich die Hände schmutzig zu machen. Man begnügt sich in einer latenten Unzufriedenheit mit dem Vorhandenen – aus Angst, dass das Neue den persönlichen Status verschlechtern könnte.
Die Leitmedien setzten noch aus einem anderen Grund alles daran, die Gelbwesten zu kriminalisieren. Es ist ihr gebrochenes Herz, das aus ihnen spricht. Das von ihnen verehrte Projekt „Europa“ ist angesichts seiner Blindheit für den Menschen und dessen Bedürfnisse gescheitert – kein Wunder, ist es doch vor allem ein von Deutschland dominiertes Elitenprojekt zur Durchsetzung der vier kapitalistischen Grundfreiheiten: Freiheit im Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehr.
Doch statt über eine menschenwürdigere, demokratischere Alternative zu streiten, trauern sie Angela Merkel nach, die das sinkende Schiff verlässt. Und wenn jetzt auch noch ihr französischer Liebling in den Seilen hängt, muss ihnen das richtig wehtun. Sie können es nicht verkraften, dass der Hoffnungsträger für die europäische Finanzelite und das System, in das sie doch so gut eingebettet sind, nicht der Hoffnungsträger für die Menschen in Frankreich ist.
Trigger in Paris
Seit 2015 ist Paris das Epizentrum des Wandels in Europa und letztlich auch der Welt. Angefangen bei der Terrorserie – bei der selbst der verschlafenste Medienkonsument erkannte, dass die Zeiten sich ändern – und gefolgt von der Nuit-Debout-Bewegung 2016, gipfelt das Ganze nun in der gelben Menschentraube.
Und apropos Terroranschläge – die Schießerei auf dem Straßburger Weihnachtsmarkt kommt der französischen Regierung zufällig wie gerufen. Einerseits lässt dieses Ereignis – welches wieder nach Terror-Schema-F ablief – die ausführliche internationale Berichterstattung über die Gelbwesten in den Hintergrund rücken. Der entscheidende Effekt ist allerdings der, dass erneut Angst und Unsicherheit in der Gesellschaft geschürt werden und der Ruf nach „mehr Sicherheit“ laut wird. All das, was den Sicherheitsbegriff umfasst – Aufrüstung der Polizei, Ausweitung des Überwachungsapparates, weitere Notstandsgesetze – kann in die Speichen der Gelbwesten gesteckt werden, um diese auszubremsen und zu spalten. Es bleibt zu hoffen, dass ein Großteil der Köpfe über den gelben Krägen sich nicht von fremderzeugten Emotionen zu unüberlegten Schritten verleiten lässt und die Bewegung klaren Kopfes auf ihrem Protest beharrt.
Darüber hinaus gingen und gehen von Paris sowohl im positiven wie auch im negativen Sinne entscheidende Impulse aus. Dass diese Impulse etwas in Deutschland zu beleben imstande sind, darf ob der deutschen Neigung, Protest allenfalls in Facebook-Posts zu entladen, bezweifelt werden.
Wir haben es mit unterschiedlichen Protest-Strukturen in beiden Ländern zu tun. Während die Franzosen es verstehen, als großer Schwarm auf die Straße zu gehen, müssen wir feststellen, dass sich hierzulande Aktionen bislang lediglich in kleinen Gruppen organisieren lassen. In diesen müssen wir darauf hinarbeiten, den Boden fester Strukturen aufzulockern. Denn diesen wirklich einzutreten – das können wir Deutschen leider noch nicht so gut wie unsere französischen Freunde.
C'est parti!