Die falsche Israelpolitik
Deutschland sollte gegen jede Art rassistischer Diskriminierung aktiv werden.
In Deutschland gibt es in Bezug auf die Israelpolitik zwei Lager. Einerseits die Bundesbehörden, die den Staat Israel politisch, finanziell und militärisch unterstützen, und andererseits zahlreiche Organisationen der Zivilgesellschaft, die Israel und seine Politik heftig kritisieren. Aus meiner Sicht kann weder die eine noch die andere Einstellung zu einem gerechten und nachhaltigen Frieden führen.
Ich brauche die Leser des Rubikon sicher nicht davon zu überzeugen, dass die Anbiederung der deutschen Behörden an Israel verwerflich ist. Daher werde ich mich weder zum deutschen Waffenhandel mit Israel noch zur absurden Behauptung äußern, die Sicherheit Israels sei deutsche Staatsräson. Dennoch möchte ich zwei allgemeine Bemerkungen über die offizielle Einstellung Deutschlands zu Israel machen.
Typischerweise rechtfertigen alle Bundesregierungen ihre Israelpolitik mit der Behauptung, Deutschland trüge eine historische Schuld gegenüber dem jüdischen Volk und müsste daher den Staat Israel besonders unterstützen. Ich hingegen behaupte, dass diese Erklärung verlogen ist und dass die Unterstützung des Staates Israel seitens Deutschlands und der westlichen Staaten in erster Linie auf weltlichen und strategischen Gründen beruht. Das zu belegen ist nicht schwer.
Gewiss trägt Deutschland eine historische Verantwortung gegenüber verschiedenen Volksgruppen wegen der Verbrechen des Dritten Reichs, wobei die Verfolgung der Juden beispiellose Maßstäbe erreichte. Der Staat Israel verkörpert aber nicht beziehungsweise nicht nur „die Juden“, sondern vertritt alle seine Bürger. Die Mehrheit der Bürger des Staates Israel ist weder Opfer des Dritten Reiches, noch ist sie deren Ahnen.
Auf der anderen Seite leben sehr viele jüdische Opfer und Nachkommen der Opfer des Dritten Reiches außerhalb Israels. Nicht der Staat Israel noch das „jüdische Volk“ waren Opfer des Dritten Reiches, sondern Menschen. Staaten können nicht leiden. Viele der individuellen Opfer wurden von der Bundesrepublik finanziell und moralisch entschädigt, teilweise großzügig, was ich persönlich bestätigen kann. Darauf darf die Bundesrepublik stolz sein und kann sich als Vorbild für Israel im Umgang mit Vertriebenen betrachten.
Deutschland trägt aber auch eine weitere Verantwortung wegen der Verbrechen des Dritten Reiches. Deutschland müsste sich besonders gegen jegliche Art rassistischer Diskriminierung einsetzen, denn der Genozid an den Juden beruhte auf dem rassistischen Konzept von „Blut und Boden“.
Gerade der Staat Israel ist einer der übrig gebliebenen Staaten, die auf rassistischer Diskriminierung beruhen. Hier ist ein kurzer Exkurs zur Terminologie der Begriffe Rasse, Rassismus und rassistisch angebracht: Das Wort Rassismus beruht auf der Annahme, dass es unterschiedliche Menschenrassen gibt, die sich wesentlich voneinander unterscheiden. Der Begriff der rassistischen Diskriminierung wird wegen seines Sprachgebrauchs in internationalen Menschenrechtsorganisationen aufrechterhalten.
Es handelt sich also um jegliche Diskriminierung auf Grund der Herkunft, Hautfarbe, Nationalität, Ethnie, und so weiter. Die Judenverfolgung seitens der Nazis war daher keine Rassenverfolgung, da Juden keine Rasse sind, sondern die Verfolgung von Menschen auf Grund ihrer religiösen Zugehörigkeit. Die komplizierten Bestimmungen der so genannten Rassengesetze, auch Nürnberger Gesetze genannt, veranschaulichen die Schwierigkeit des Gesetzgebers, den Begriff der Rasse in konkrete Bestimmungen zu gießen. Grundsätzlich sind alle Begriffe, die Menschen kollektiv umfassen, problematisch, nicht nur der Begriff der Rasse.
An dieser Stelle möchte ich, an die Tatsache erinnern, dass der Staat Israel Teile seiner Bevölkerung im Sinne der Menschenrechte rassistisch diskriminiert. Der Staat Israel unterscheidet zwischen „Juden“ und „Nicht-Juden“ in zweierlei Weise: Er diskriminiert diese positiv und negativ.
Die positive Diskriminierung manifestiert sich im Recht jedes „Juden“ weltweit, nach Israel einzuwandern und dann automatisch die israelische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Um festzustellen, ob die entsprechende Person ein „Jude“ ist, nutzen die israelischen Behörden komplizierte und teilweise widersprüchliche Verfahren. Trotz endloser Debatten in der israelischen Gesellschaft konnte der Staat Israel den Begriff Jude juristisch nicht eindeutig definieren. Diese Problematik füllt viele Bücher.
Die negative Diskriminierung wird gesetzlich verordnet, aber verschleiert, damit eine flüchtige Lektüre der israelischen Gesetze dies nicht unmittelbar zeigt. Dennoch gibt es seit den 1980er Jahren eine Fülle wissenschaftlicher Studien, die akribisch die diskriminierenden Gesetze, ihre Ausführung und ihre Folgen beschreiben.
Die Diskriminierung von Nicht-Juden ist nicht einheitlich. Es gibt vier Hauptkategorien der negativ Diskriminierten. Zur ersten Kategorie gehören europäische Einwanderer anderer Religionen. Sie werden am wenigsten diskriminiert und in der Regel weitgehend wie jüdische Israelis behandelt.
Die zweite Kategorie der Diskriminierten sind die arabisch-sprachigen Bürger des Staats Israels, zumeist Muslime und Christen. Sie sind zwar Staatsbürger, dürfen die Knesset, das israelische Parlament, wählen und auch dorthin gewählt werden, aber nicht überall wohnen oder ein Haus erwerben. Etwa 92 Prozent der Fläche des Staats Israels – ohne die seit 1967 besetzten Gebiete – ist ausschließlich für Juden reserviert.
Man stelle sich vor, dass in Deutschland 92 Prozent des bewohnbaren Landes für Christen reserviert wäre. Dörfern oder Wohnvierteln wird seit einiger Zeit sogar erlaubt Nicht-Juden auszuschließen. Israelis, dessen Muttersprache arabisch ist – und die sich als israelische Palästinenser bezeichnen – bilden immerhin beinahe 20 Prozent der israelischen Bevölkerung. Sie werden in der Regel ebenfalls von zahlreichen Tätigkeiten ausgeschlossen, weil sie angeblich ein Sicherheitsrisiko darstellen.
Noch zu erwähnen ist die Kategorie der sogenannten „present absentees“, das sind israelische Bürger arabischer Herkunft, die seit 1948 als interne Flüchtlinge nie mehr in ihre ursprünglichen Ortschaften zurückkehren duften. Auch heute dürfen sie es nicht, obwohl sie in Israel wohnen.
Die dritte Kategorie der diskriminierten Nicht-Juden sind die Bewohner der in 1967 besetzten Gebiete. Ihnen werden keine politischen Rechte zuerkannt, weder als israelische Staatsbürger noch als Bürger eines souveränen Staates Palästina. Sie unterliegen weitgehend israelischen Militärverordnungen und sind der Willkür des israelischen Besatzungsmacht und des palästinensischen Geheimdienstes – der mit Israel zusammenarbeitet – ausgeliefert. Ihre Grundrechte werden durch Israel und seine Kollaborateure systematisch verletzt.
Diese Verletzungen werden jährlich von den Vereinten Nationen gerügt. Aber vergeblich, weil weder die USA noch ihre Alliierten, darunter Deutschland, wirksam gegen diese Menschenrechtsverletzungen vorgehen.
Die am schwersten diskriminierte Kategorie der Nicht-Juden sind die palästinensischen Flüchtlinge sowie ihre Kinder und Enkel, die im Krieg von 1948 aus den im Staat Israel liegenden Gebieten vertrieben wurden. Viele von ihnen leben im Gazastreifen, den Israel mit elektronischem Stacheldraht umzingelt hat. Die Rückkehr dieser Menschen in ihre Dörfer und Städte, die nur einige Kilometer von Gaza entfernt sind, verhindert Israel mit Gewalt. Wer das trotzdem versucht, wird erschossen. Ihre Mehrheit vegetiert seit 1948 im Gazastreifen und ist auf internationale humanitäre Hilfe angewiesen. Ihnen werden sämtliche Menschenrechte verweigert.
Alle diese negativen Diskriminierungsmaßnahmen beruhen auf der Basis der Ideologie von „Blut und Boden“, die auch die Basis für den Rassenwahn der Nazis war. Es ist deshalb besonders verwerflich, dass gerade Deutschland einen Staat unterstützt, der auf dieser Grundlage errichtet wurde.
Durch die Blut-und-Boden-Ideologie, die im Orient besonders verpönt ist, schaffen sich die Israelis nur Feinde und unterminieren ihre eigene Zukunft. Es ist daher kein Wunder, dass viele Israelis auswandern oder sich einen zweiten Pass besorgen. Der Staat Israel ist nicht nur keine Vertretung der Juden und darf daher nicht in ihrem Namen sprechen, sondern vertritt auch nicht das Judentum. Selbst die Bezeichnung Israels als „jüdischer Staat“ ist unangemessen.
Als ein Student Hillel, einen der bedeutendsten Rabbiner aus der Zeit vor der Zerstörung des zweiten Tempels, fragte, ob er die Grundlagen der jüdischen Religion – auf einem Fuß stehend –zusammenfassen könnte, antwortete er: „Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht an. Das ist die ganze Tora und alles andere ist nur die Erläuterung; geh und lerne sie.“
Die herrschende Ideologie in Israel ist jedoch das genaue Gegenteil dieser Lehre: In Israel Heranwachsende werden systematisch zu Misstrauen und Hass gegenüber ihren nicht-jüdischen Nächsten indoktriniert. Zahlreiche Menschen, die sich als jüdisch betrachten oder die jüdische Religion praktizieren, verwerfen die israelische Staatsideologie, den Zionismus, als mit dem Judentum unvereinbar. Eine Minderheit dieser Menschen, strenggläubige Juden, betet und hofft sogar auf die baldige Abschaffung des Staates Israels.
Falsche Israelkritik
Die Kritik an der Politik Israels und am Zionismus ist aus mehreren Gründen berechtigt. Zahlreiche Organisationen in Deutschland üben regelmäßig diese Kritik und solidarisieren sich mit den Kämpfen der Palästinenser für ihre Rechte.
Den Kritikern des Staates Israels und des Zionismus eine antijüdische Gesinnung zuzuschreiben, ist zunächst nicht begründet. Zahlreiche Juden in der ganzen Welt und innerhalb Israels kritisieren selbst heftig die Unterdrückungspolitik des Staates Israel und auch die zionistische Ideologie. Ihre Einstellung ist nicht antijüdisch.
Es fällt jedoch auf, dass sich die Israelkritiker in den meisten Fällen nicht für eine gerechte, friedliche und nachhaltige Lösung des Konflikts einsetzen. Als Erklärung für diese Zurückhaltung wird in der Regel behauptet, „wir“ dürften den Konfliktparteien keine Lösung aufzwingen. Das ist zwar richtig, aber dann stellt sich die Frage: Auf welcher Grundlage darf man dann überhaupt Israel kritisieren? Wer eine gerechte, friedliche und nachhaltige Lösung in Israel/Palästina anstrebt, muss diese Frage beantworten.
Auch fällt die Zurückhaltung vieler Palästinafreunde in der Bekämpfung des Imperialismus auf. Sie erklären in der Regel: Man könne nicht alles unternehmen, sondern man konzentriere sich eben auf ein Thema.
Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass NATO und Israel kürzlich einen Vertrag zur engeren Zusammenarbeit im Rüstungsbereich unterzeichneten. Israelische Firmen können nun an Ausschreibungen der NATO teilnehmen. Die NATO steht also auf der Seite des Staates Israel und daher gegen die Interessen, Wünsche und Rechte der Palästinenser. Dennoch kenne ich in Deutschland keine Solidaritätsvereinigung mit Palästina, die den Austritt Deutschlands aus der NATO fordert. Mir ist auch keine Vereinigung bekannt, die eine BDS-Kampagne gegen die USA verlangt, obwohl die USA eine erhebliche Verantwortung für das Elend in Palästina tragen und die weltweiten Verbrechen der USA unvergleichbar größer sind als jene des zionistischen Staates.
Die Weigerung, gegen dem Imperialismus zu kämpfen, kennzeichnet die heutige Palästinabewegung in westlichen Staaten.
Der Kampf für eine gerechte, friedliche und nachhaltige Lösung in Palästina/Israel kann nur durch die Schwächung des imperialistischen Lagers gefördert werden, auch in Deutschland. Wer in Deutschland für Palästina kämpft, soll sich daher auch gegen die Kriegspolitik der Bundesregierung, für die sofortige Schließung aller Einrichtungen der Imperialmächte in Deutschland, für den Austritt Deutschlands aus der NATO und für gute Beziehungen mit Russland einsetzen. Der Feind sitzt hier im eigenen Land. Wir wählen und finanzieren ihn. Da gibt es reichlich zu tun.