Die Expertokratie
Wo die Medizin regiert, gibt es keine parlamentarischen und auch sonst keine Debatten mehr.
Es gibt ein Buch von Jason Brennan, 2017 auf Deutsch erschienen, das ziemlich genau das fordert, was gerade geschieht. Eine Epistokratie, bitte. Die Herrschaft der Wissenden. Lasst die Experten nur machen, weil wir alle ohnehin nicht viel von der Welt verstehen. Dann wird dieser elende Streit der Ideen ein Ende haben — und alles wird endlich gut.
Dieses Buch war ein Bestseller und wurde vermutlich auch in den Staatskanzleien und Verwaltungen gelesen, die jetzt Ärzte in den Rang von politischen Göttern erheben und auf Daten und Kurven verweisen, wenn sie den Menschen fast alles nehmen, worauf unser Leben baut.
Von Risiken und Nebenwirkungen hat Jason Brennan geschwiegen. Er musste davon schweigen, weil der Sachbuchmarkt eine steile These verlangt, gerade in den USA, und einen Titel, der zum Kauf anregt. „Gegen Demokratie“, hat Ullstein in Deutschland auf das Cover geschrieben.
Ich habe mich damals darüber lustig gemacht, vor allem über den Glauben, dass wir in einer „Demokratie“ leben, weil man uns alle paar Jahre abstimmen lässt.
Jetzt könnte jeder sehen, dass das immer noch besser ist als eine Herrschaft der Experten. Konkret: besser als das „Primat der Medizin“ (Markus Söder). Man muss nur die Augen aufmachen.
In den Leitmedien sieht man: volle Unterstützung für unsere Jungs und Mädels in der Regierung. So sagt das der Sprecher im Audi Dome, wenn der FC Bayern Basketball am Rand einer Niederlage steht, ohne die Mädels natürlich. Die Zuschauer sollen dann aufstehen und so viel Krach machen, dass das Spiel doch noch kippt. Um im Bild zu bleiben: In einer parlamentarischen Demokratie gibt es Auswärtsfans. Nicht viele, wenn die größten Teams einfach fusionieren, aber immerhin.
Die Indexing-These von Lance Bennett, bestätigt in vielen Studien, sagt:
Journalisten berichten über Konflikte in der Gesellschaft, aber, und dieses große Aber schränkt das Spektrum schon in sogenannten normalen Zeiten erheblich ein, die entsprechenden Ansichten müssen in der offiziellen politischen Debatte vorkommen, im Bundestag zum Beispiel.
Was das Berlin der Parteien, der Abgeordneten und der Lobbyisten nicht diskutiert, erscheint nicht in den Medien, und was Politik oder Wirtschaft nicht vorkauen, kann der Journalist nicht verdauen.
Es ist nicht schwer, diesen Befund in die Gegenwart zu verlängern:
Wo die Medizin regiert, gibt es keine parlamentarische Debatte und damit auch keinen öffentlichen Streit um die beste Lösung, nicht einmal den gedämpften einer eingehegten Wahldemokratie.
Mehr noch: Der Journalismus dankt ab und lässt die Experten gleich selbst sprechen, Christian Drosten zum Beispiel, der mit seiner Forschungsgruppe an der Berliner Charité erst einen Corona-Test entwickelt hat und jetzt gleichzeitig zu Regierenden und Volk spricht.
Dass ihn viele Redaktionen gewähren lassen und sogar noch feiern, erinnert an das, was Uwe Krüger, Medienforscher in Leipzig, nach dem Ukraine-Desaster 2014 „Verantwortungsverschwörung“ genannt hat:
Der Journalist weiß, was gut ist und was schlecht (so ziemlich das gleiche, was die Herrschenden gut oder schlecht finden, weil alle ganz ähnlich aufgewachsen sind und zusammen studiert haben), und er glaubt, dass er Einfluss auf die Menschen hat. Also zur Solidarität aufrufen, die Tatkraft der Regierenden loben und im übrigen auf die „Fakten“ verweisen oder die Experten fragen muss.
Wenn diese Experten jedoch gegen den Mainstream schwimmen (wie zum Beispiel Wolfgang Wodarg oder Karin Mölling), dann werden sie delegitimiert und nicht mehr angehört.
Anders als Jason Brennan ging Walter Lippmann nicht davon aus, dass wir Wähler kein Interesse an der Politik haben oder dass uns gar der nötige Verstand dafür fehlt.
Lippmann wollte den Verstand manipulieren. Er wusste, dass wir auf Vorstellungen von der Welt reagieren und dass die Macht bei denen liegt, die diese Bilder produzieren.
Lippmann hat schon vor fast einhundert Jahren eine Regierung der Experten empfohlen, eine Gesellschaft, in der Sozialforscher wie er die große „Herde“ führen.
Sein Rezept, das so klingt, als sei es erst eine Woche alt:
„Der Zugang zu der wirklichen Umwelt muss begrenzt werden, ehe jemand eine Pseudoumwelt errichten kann, die er für klug oder wünschenswert hält.“
Damit weg von den Medien und hin zu unserem Glauben an die Daten, an die „Pseudoumwelt“, die Experten wie Christian Drosten bauen. Im gleichen Jahr, in dem Jason Brennan „Gegen Demokratie“ angeschrieben hat, ist bei Suhrkamp ein Buch von Steffen Mau erschienen, einem Soziologen von der Humboldt-Uni, das den Megatrend der Quantifizierung des Sozialen auf eine griffige Formel gebracht hat: „Das metrische Wir“.
Man muss diesen Trend kennen, wenn man verstehen will, warum alle Welt gerade auf den Newsticker starrt, der die Zahl der Infizierten und der Toten im Stundentakt aktualisiert und in bunten Diagrammen oder auf noch bunteren Karten Länder oder Regionen miteinander vergleicht, die man überhaupt nicht miteinander vergleichen kann.
Heute geht nichts mehr ohne Zahlen. Was nicht in Zahlen übersetzt werden kann, existiert nicht länger. In der Sprache des Soziologen Steffen Mau:
Zahlen sind „zur Leitwährung der digitalisierten Gesellschaft geworden“.
Zahlen versprechen „Präzision, Eineindeutigkeit, Vereinfachung, Nachprüfbarkeit und Neutralität“. Zahlen sind die Antwort auf unser Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle. Zahlen haben das Bauchgefühl verdrängt, das uns sagt, was richtig ist, das Urteil, das abwägt und dabei auch um die Besonderheiten dieses einen Falles weiß, den Blick auf die Welt, der Komplexität und Ungewissheiten anerkennt.
Die Ärzte sagen uns, wie viele Menschen krank sind, wie viele davon sterben werden und was wir alles tun müssen, damit die Betten auf den Intensivstationen reichen. Wir glauben ihnen, weil wir gewöhnt sind, die Welt durch die Brille von Zahlen zu sehen. Und die Regierenden folgen ihnen, weil sie uns kennen.
Nur: Eine Zahl ist eine Zahl und nicht die Realität. Das weiß jeder Wissenschaftler, der „im Feld“ war und selbst Daten erhoben hat. Was immer wir messen, wird sozial hergestellt. Menschen legen fest, dass sie Schritte zählen, um ihre Existenz zu legitimieren, und nicht Furze oder Rülpser (sorry). Menschen legen fest, nach welchem Virus sie suchen und was passieren muss, damit sie „Gefunden!“ rufen können.
Hinter jeder Zahl steht ein Interesse, und sei es nur das eines Herstellers, der seine Geräte loswerden will. Daraus folgt immer: Es hätte auch anders sein können. Das klingt banal, ist es aber ganz offenkundig nicht. Sonst könnten wir gerade nicht beobachten, wie Zahlen alles umbauen, was wir bisher gekannt haben. Wir lernen: Zahlen sind nicht die Wirklichkeit. Sie erzeugen sie erst.
Wer Zahlen verkauft, egal ob Virologe oder Medienforscher, braucht das Vertrauen seiner Kunden. Er muss die Zweifel verwischen, die mit jeder Datenerhebung verbunden sind. Man muss kein Virologe sein (wohl aber eine gesunde Skepsis gegenüber allen Zahlen mitbringen), um diese Zweifel auszusprechen.
Was bedeutet es, dass heute 12.000 Menschen mit einem bestimmten Virus infiziert sind, morgen 15.000 und übermorgen mehr als 20.000? Haben sich tatsächlich mehr Menschen angesteckt oder wird einfach mehr gemessen, in provisorischen Zelten zum Beispiel und bei Menschen, die sonst nie und nimmer zum Arzt gegangen wären, aber jetzt gar nicht anders können bei all dem sozialen und medialen Druck?
Wann genau wird ein Test „positiv“? Genauer gefragt: Worauf haben sich die Erfinder des Tests hier geeinigt und was wäre, wenn sie sich anders entschieden hätten?
Warum sterben in einem Land 0,5 Prozent der Infizierten und in einem anderen fünf Prozent? Liegt das vielleicht daran, dass man hier eher zufällig testet und dort nur die, die ohnehin schon im Krankenhaus liegen?
Und ab wann wird man eigentlich ein Corona-Toter? Woher weiß der Arzt, was genau bei einem Menschen „mit Vorerkrankung“ zum Ende geführt hat?
Ganz unabhängig von solchen Zweifeln sind Zahlen nur dann etwas wert, wenn man sie einordnen kann. Die Wissenschaft lebt vom Vergleich.
Niemand weiß, wie viele Menschen in den vergangenen Jahren das hatten, was wir „Grippe“ nennen, und wie viele daran gestorben sind. Eine „Grippe“ war längst so normal, dass wir trotzdem zur Arbeit gegangen sind und dort vielleicht an einem Herzinfarkt gestorben sind oder bei einem Autounfall, weil wir gerade niesen mussten, als die Ampel rot wurde.
Wer noch lebt, muss sich wehren gegen die Herrschaft der Experten und der Daten, den (hoffentlich noch) gesunden Menschenverstand einschalten und fragen, was es mit uns macht, wenn wir unsere Kolleginnen und Kollegen nicht mehr sehen dürfen (weder im Büro noch abends beim Bier), wenn Vater, Mutter, Kind den ganzen Tag auf ein paar Quadratmetern zusammen sein müssen (wie sonst nur Weihnachten, wo es den meisten Familienkrach gibt) und wenn man uns die Fahrt in den Urlaub nimmt, den Ausflug, das Fitnessstudio.
Virologen können das nicht wissen. Virologen wissen auch nicht, wie ein Land wieder zurückkommt auf Los und wie all das, was jetzt an Verboten, Kontrolle und Überwachung möglich geworden ist, erst zurückgeholt und dann aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht werden kann. Dafür gibt es weder Experten noch Daten.