Die Evolution des Sozialismus

Wenn die Linke noch eine Zukunft haben will, sollte sie nicht nur Tagespolitik machen, sondern auch ihre theoretischen Grundlagen überprüfen.

Die Linke heute steht im Schatten vermeintlich spannenderer Parteien, die die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Obwohl ihre Themen für viele Menschen relevant sind, wirken die Protagonisten blass. Tagespolitisches Kleinklein, Identitätspolitik, Angepasstheit neben Resten einer eher aufgesetzt wirkenden Revolutionsromantik prägen ihr Erscheinungsbild. Doch was ist, kann noch werden. Auch der Sozialismus ist ein Projekt in Entwicklung. Die Wende 1989 war keine Revolution, aber trotzdem ein Fortschritt. Trotz aller Unvollkommenheit früherer Versuche, müssen neue gewagt werden. Will die Linke Politik entscheidend mitgestalten, muss sie mit der Evolution des Bewusstseins in der Gegenwart Schritt halten. Dazu könnte es nützlich sein, über den Tellerrand hinaus zu anderen Wissenschaften zu schauen.

Wir leben im 30. Jahr der „Wende“ — also der Restaurierung des Kapitalismus im „ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat“. Und hier, im Rubikon, sind in letzter Zeit einige Artikel erschienen, in denen die Autoren den verschenkten Möglichkeiten der Wende nachtrauerten beziehungsweise die Aspekte der DDR beschrieben, die erhaltenswert gewesen wären.

Auch ich gehörte zu den Idealisten, die seit Biermanns Ausbürgerung 1975 auf einen Qualitätssprung innerhalb des Sozialismus hinarbeiteten. Und ich habe lange mit der Wende gehadert (1), obwohl sie mir persönlich als anerkanntem „Opfer der SED-Diktatur“ ein Hochschulstudium eingebracht hat, das mir in der DDR aus politischen Gründen verwehrt war. Doch langsam, mit einem erweiterten Blick, begreife ich, dass diese „Rolle rückwärts“ eine geschichtliche Logik hat.

Das führt mich noch lange nicht zum Lob des Kapitalismus: der Klimawandel macht mehr als deutlich, dass der militaristische und neoliberale Spätkapitalismus in den westlichen Industrienationen diesen Planeten mit zunehmender Geschwindigkeit an die Wand fährt.

Doch seltsamerweise spielt die Linke — als gesamtgesellschaftliche Bewegung — in dem Kampf ums nackte Überleben der Menschheit zumindest in Deutschland nur eine Nebenrolle. Entweder macht sie linke Identitätspolitik, kuschelt mit dem Kapital, arbeitet sich an der AfD ab oder hängt in der Klassenkampfromantik fest.

Was ich bei den verschiedenen Lagern nicht sehe — ich mag mich irren — ist eine Auseinandersetzung mit fundamentalen Axiomen linker Theorie. Also ein Nachdenken darüber, warum sich die Situation in den letzten Jahrzehnten so entwickelt hat, wie sie gerade ist — und warum die linken Theoretiker das nicht vorhergesehen haben. Dabei sollte eine wissenschaftliche Gesellschafts-Theorie ja eigentlich die Gegenwart gut analysieren und Aussagen über die Zukunft machen. Genau das war zeitweilig eine Stärke des „Historischen Materialismus“ im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Doch heute werden die großen Denker angebetet oder ignoriert, aber selten kritisch hinterfragt oder ihre Theorien weiterentwickelt.

Hinzu kommt, dass sich viele Linke innerhalb ihrer Blase bewegen — zum Beispiel indem sie ein bestimmtes Vokabular benutzen, das automatisch den Blick verengt. Kaum einer wagt den Blick nach außen. Ich nehme mir hier die Frechheit heraus, einige der Axiome zu hinterfragen und ein paar Vorschläge zu machen. Vielleicht haben sich ja schon Menschen, die klüger sind als ich, diese Gedanken gemacht und ich habe sie in der Flut der Informationen übersehen. Es wäre mir durchaus recht, wenn dieser Beitrag nichts anderes wäre als ein provokatives Aufwärmen von an anderer Stelle gut durchdachten Theorien.

Mir geht es hier vor allem um grobe Muster und Prinzipien, weshalb ich an vielen Stellen vereinfache — für eine wissenschaftliche Arbeit müsste ich sehr viel mehr ins Detail gehen. Einen ersten Vorschlag hatte ich schon in einer früheren Ausgabe des Rubikon gemacht und begründet: Marx hat Hegel nicht richtig angewendet.

Nicht die Arbeiterklasse ist das revolutionäre Subjekt der Zukunft, sondern die mittellosen Intellektuellen (2).

Beim Rückblick auf die Geschichte wird man feststellen, dass die meisten klugen Köpfe der linken Bewegung keine Arbeiter waren. Damit meine ich jetzt nicht die Märtyrer wie Sacco und Vanzetti oder Thälmann und auch nicht die kommunistischen Machthaber à la Stalin, Mao oder Ulbricht. Sondern die führenden Theoretiker der linken Bewegung: Marx, Engels, Luxemburg, Liebknecht, Lenin, Trotzki, Che Guevara, die Gebrüder Castro, Gramsci, Bloch, Lukács, die Theoretiker der Frankfurter Schule bis hin zu Žižek und Chomsky — die Reihe ließe sich lange fortsetzen. Sie alle waren Intellektuelle aus groß- oder kleinbürgerlichen Elternhäusern.

Unübersehbare Dissonanz

Und die andere Seite: 1989 haben sich die als „revolutionär“ apostrophierten Arbeiter und Bauern in den meisten osteuropäischen Staaten dafür entschieden, den Sozialismus nach 40 Jahren abzuschaffen und sich statt dessen freiwillig wieder unter die Knute des Großkapitals begeben. 40 Jahre Volkseigentum — in der Sowjetunion sogar über 70 Jahre — haben also nicht gereicht, den „sozialistischen Menschen“ zu erschaffen.

Diese Selbstentscheidung der Völker — von denen die meisten nicht das Glück hatten, dass ihnen mit Wiedervereinigung und D-Mark gewinkt wurde — kann kaum Zufall sein. Vor allem aber widerlegt es den von Marx angenommenen Automatismus, der sich in dem kommunistischen Mantra „Das Sein bestimmt das Bewusstsein!“ ausdrückt. Nach dieser Logik wären die oben genannten Theoretiker Menschen mit dem „falschen“ Sein, die das „richtige“ Bewusstsein hatten, und die Völker, die 1989 so bereitwillig den Sozialismus aufgaben, sind demnach Menschen mit dem „richtigen“ Sein, die das „falsche“ Bewusstsein hatten. Die Dissonanz ist unübersehbar. Das heißt nicht, dass die Produktionsverhältnisse keinen Einfluss auf das Klassen-Bewusstsein hätten. Aber vermutlich spielen noch ganz andere Faktoren eine Rolle.

So neu ist dieser Gedanke nicht, auch nicht innerhalb der linken Diskussion: Schon der bis heute von der Linken weitgehend ignorierte Wilhelm Reich bezweifelte den Automatismus des „Klassenbewusstseins“. In seinem Buch „Die Massenpsychologie des Faschismus“ aus 1933 wunderte er sich darüber, dass die angeblich von Natur aus revolutionären Arbeiter in Massen die NSDAP wählten. Er schlussfolgerte daraus, dass es noch andere Aspekte geben müsse, die auf das Bewusstsein wirken, und machte — an dieser Stelle ganz Freudianer — eine repressive Sexualmoral dafür verantwortlich.

Außerdem wirft die „Wende“ erneut die Fragen auf: Was ist eigentlich Sozialismus? Was hatte Marx damit genau gemeint? Wenn man sich mit seinem historischen Materialismus beschäftigt, meint er mit Kommunismus — als der vollendeten Utopie — eine nachkapitalistische Gesellschaft. Die Betonung liegt hier auf „nach“. Also eine Gesellschaft am Ende der Geschichte, wofür der Kapitalismus durch Entwicklung der Produktivkräfte und Verschärfung der Widersprüche den Boden bereiten müsse.

Sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart konnte man erleben, dass soziale Strömungen oder auch nationale Befreiungsbewegungen in Entwicklungsländern, die noch lange keine kapitalistischen im engeren Sinne des Wortes sind, linkes Vokabular zur Rechtfertigung ihres Aufbegehrens benutzten und ihre Formen des „Sozialismus“ installierten, zuletzt in verschiedenen Staaten Südamerikas. Und hätte Marx sein „Kommunistisches Manifest“ deutlich früher geschrieben, wäre es vermutlich auch zur Rechtfertigung der Sklavenaufstände unter Spartakus oder der Bauernkriege herangezogen worden. Das ist durchaus legitim.

Trotzdem bleiben die Fragen: Ist das, was daraus erwächst, dann Sozialismus im Marx´schen Sinne? Und wenn nicht — könnte genau das der Grund für das wiederholte Scheitern sozialistischer Versuche im Kräftemessen mit dem kapitalistischen System sein? Beispielsweise wenn dieser Versuch auf einem Level der gesellschaftlichen Entwicklung geschieht, der weit unter dem des entwickelten, westlichen Industriekapitalismus liegt und deshalb weder technologisch, noch politisch, noch militärisch eine Chance hat?

In meiner Kindheit wiesen die Staatsbürgerkundelehrer ganz stolz darauf hin, dass zwei der größten Länder der Erde — China und die Sowjetunion — direkt aus dem Feudalismus asiatischer Prägung in den Sozialismus gesprungen seien, dass sie den Kapitalismus also eigentlich übersprungen hätten.

Was, wenn das gar nicht stimmt? Wenn das überhaupt keine sozialistischen Gesellschaften im Marx´schen Sinne waren, weil sie eben nicht nach dem Kapitalismus entstanden, sondern nur Formen eines sozial gerechten Feudalismus waren? Sozusagen „Sozialfeudalismus“? Wenn wir diese Hypothese akzeptieren, würde das bedeuten, dass in der Folge des 2. Weltkrieges dieser Sozialfeudalismus von der UdSSR in den gesamten Ostblock exportiert wurde. Für die agrarischen Staaten des Balkans war das vermutlich ein gesellschaftlicher Fortschritt. Für die weiterentwickelten Länder wie Ostdeutschland und Tschechien kam es eher einer Re-Feudalisierung gleich, da hier vor dem 2. Weltkrieg schon eine bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft existiert hatte.

Wenn man zusätzlich zur Marx´schen Reihenfolge annimmt, dass keine Entwicklungsebene ausgelassen werden kann, müsste man also die massenhafte Entscheidung der sozialfeudalistischen Ostblockländer für ihren Anschluss an den europäischen Kapitalismus um 1990 als einen geschichtlichen Fortschritt betrachten, so sehr es die Aktivisten, die einen „richtigen“ Sozialismus wollten, damals frustriert haben mag.

Bloßer Herrschaftsaustausch

Auch der Feudalismus-Gedanke ist nicht wirklich neu: Rudolf Bahro beschrieb 1977 in „Die Alternative“ den Sozialismus in der Sowjetunion als einen Weg aus der asiatischen Produktionsweise in die Industriegesellschaft, der den feudalen Zentralismus aufnimmt und den Zar/Kaiser durch den allmächtigen Generalsekretär der kommunistischen Partei ersetzt. Dieses Thema wurde durch Rolf Henrich in „Der vormundschaftliche Staat“ fortgeführt, ein Buch, das maßgeblich das Neue Forum legitimierte und die Wende vorbereitete. Es ist mir nicht bekannt, inwieweit diese beiden Bücher Eingang in die allgemeine linke Diskussion gefunden haben. Obwohl sie es wert wären, hört man nicht mehr viel von ihnen.

Bis jetzt habe ich mich im Bereich des linken gesellschaftspolitischen Diskurses bewegt und eigentlich nichts Neues gesagt — außer Bekanntes vielleicht provokativ neu zu benennen. Jetzt möchte ich den Blick gerne um eine psychologische, eine anthropologische und eine eher soziologische Perspektive erweitern, die im politischen Denken oft ignoriert wird: Marx hat im historischen Materialismus die Entwicklung der Produktivkräfte über verschiedene qualitative Ebenen beschrieben.

Von Piaget (3) stammt eine der wichtigsten Theorien zur Individualentwicklung: die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten. Diese Theorie ist weltweit Konsens und wird in jedem Pädagogik-Studium gelehrt.

Jean Gebser (4) hat in Parallelität zum Marx´schen Modell mit „Ursprung und Gegenwart“ eine Entwicklung der Weltsichten — also des kollektiven Bewusstseins — über verschiedene Bewusstseinsschichten beschrieben, die hier als Benennungshilfe für einzelne Ebenen dienen soll. Diese Theorie wird von dem von Clare W. Graves entwickelten Ebenenmodell des individuellen und kollektiven Bewusstseins, das sich an der Werte-Entwicklung orientiert (5), inhaltlich weitgehend bestätigt.

Da es an circa 60.000 Erwachsenen weltweit evaluiert wurde, ist es empirisch gut abgesichert und hat in seiner komprimierten Form als „Spiral Dynamics“, SD, inzwischen eine gewisse Bekanntheit. Dieses Modell ist insofern interessant, als es noch einmal etwas deutlicher als Abraham Maslow mit seiner Bedürfnispyramide klar macht, wonach die Menschen auf jeder Ebene streben, was sozusagen ihr Lebenssinn ist.

Es ist wie ein tieferer Leitfaden, der sich natürlich auch auf die Gestaltung der Gesellschaft auswirkt. Ken Wilber hat verschiedene Entwicklungstheorien — unter anderem die vier oben genannten — zu einer Metatheorie der Evolution zusammengefasst. Darauf genauer einzugehen, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. In diesem Zusammenhang sind fünf Regeln aus der Wilberschen Zusammenfassung wichtig:

  1. Evolution geschieht über qualitativ deutlich voneinander unterscheidbare Ebenen, zum Beispiel Gesellschaftsformationen wie Urgesellschaft, Stammesgesellschaft, Gartenbaugesellschaft, Agrar-Feudalismus, et cetera.
  2. Evolution hat eine Richtung: vom Einfachen zum Komplexen. Jede neue Ebene ist komplexer als die vorherige, schließt diese aber mit ein. So wird es auch in der Informationsgesellschaft noch Landwirtschaft, Handwerk und Industrie geben.
  3. Die Ebenen sowohl der individuellen als auch der gesellschaftlichen Entwicklung müssen nacheinander erklommen und können nicht übersprungen werden. Beispielsweise kann man Integralrechnung nicht betreiben, ohne vorher das kleine Einmaleins gelernt zu haben. Sie brauchen für ihre Konsolidierung eine angemessene Zeit.
  4. Die erwachsenen Individuen einer Gesellschaft befinden sich nicht alle auf der gleichen Bewusstseinsebene — es gibt Unterschiede in Form einer Gauß´schen Normalverteilung. Vereinfacht: wenig Dumme, viele Mittelschlaue und wenig ganz Schlaue, was sich mit Intelligenztests sofort nachweisen lässt.
  5. Die Gesamtheit der Entwicklungsebenen aller erwachsenen Individuen ergibt das Durchschnittsbewusstsein der jeweiligen Gesellschaft.

Nachfolgend stelle ich die vier Entwicklungstheorien vereinfacht in einer Tabelle dar, wobei jeweils eine Zeile die gleiche Ebene in verschiedenen Lebensbereichen darstellt. Allerdings beschreiben einige dieser Theorien die verschiedenen Ebenen wesentlich ausführlicher, so dass ich hier nur jeweils ein bis zwei Schlüsselbegriffe aufführen kann. Dabei verhalten sich die verschiedenen Bereiche co-evolutiv zueinander: Ein Entwicklungssprung in einem Bereich zieht früher oder später Entwicklungen in den anderen Bereichen nach sich.

Ich gehe davon aus, dass wir uns am Übergang vom Industriekapitalismus zur Informationsgesellschaft befinden und setze sie in ihrer politischen Struktur mit einer zukünftigen, sozialismusähnlichen Gesellschaft gleich. Das ergibt sich einfach daraus, dass jede Stufe der Produktivkräfte ihre eigene politische Organisation entwickelt und ein Überleben der Erde als Biotop in einer auf Ausbeutung und Konkurrenz gegründeten Gesellschaft, wie sie der derzeitige Kapitalismus aufgrund seiner Werteebene „Erfolg“ repräsentiert, immer unwahrscheinlicher wird.

Vielleicht gibt es auf einer der beiden Seiten oder auf beiden noch Zwischenstufen, vielleicht werden sie anders heißen und in verschiedenen Details wird diese Ebene sicher von Marx´s Idealvorstellung abweichen — egal: Es geht ums Prinzip! Und da andere Gesellschaftsformationen Jahrhunderte gebraucht haben, um sich zu entwickeln, dürfen wir hier wenigstens einige Jahrzehnte ansetzen.

Da Evolution eine grundlegende Eigenschaft dieses Universums ist, müssen wir außerdem davon ausgehen, dass nach den hier aufgelisteten Ebenen weitere entstehen werden, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen können, so dass die Tabelle nach oben offen ist. Bitte lesen Sie die Tabelle von unten nach oben:

Bild

Quelle: Freudenreich

Man kann die vier unteren Ebenen zur Vereinfachung auch zur Prämoderne zusammenfassen. Die sich seit der Renaissance entwickelnde rational-industrielle Kultur wäre dann die Moderne und das, was seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts aufkeimt, die Postmoderne. Letztere bestimmt zwar schon oft den öffentlichen Diskurs in der westlichen Welt, die Macht in Politik und Wirtschaft liegt aber bis heute in den Händen der Vertreter der Moderne.

Vermutlich ist es mit dem obigen Schema nicht schwer nachzuvollziehen, dass sich viele Völker des Ostens und Südens auf verschiedenen meist prämodernen Entwicklungsebenen befinden — auch wenn durch den Kolonialismus der westlichen Industrienationen fast überall ein moderner kapitalistischer Überbau existiert.

Nun stellen Sie sich vor, dass diese Völker beginnen, sich gegen die Ausbeutung durch ihre Kolonialmacht beziehungsweise ihre kleine kapitalistische Oberschicht zu wehren. Sollen die Menschen mit ihrem Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit warten, bis irgendwann in ferner Zukunft ihre Nachfahren in einer entwickelten modernen Industriegesellschaft leben? Natürlich nicht! Also werden sie entweder durch Wahlen oder bewaffnete Aufstände eine Veränderung erzwingen. Doch wie wollen beispielsweise bäuerliche Indios mit einem magischen Weltbild eine moderne oder gar postmoderne Gesellschaft kreieren, wenn sie in der Entwicklung ihrer Produktivkräfte sowie durch Analphabetentum noch mehrere Ebenen vom „richtigen“ Sozialismus à la Marx entfernt sind? (7)

Ein Vorschlag könnte lauten, dass sie es so gut machen, wie es auf ihrer Ebene gerade geht, indem sie sozialistische Elemente wie die Grundversorgung mit Lebensmitteln, kostenlose Schulbildung und medizinische Versorgung in ihre gewachsene kulturelle und ökonomische Struktur einbauen.

Vorhin haben wir am Beispiel Russland und China dasselbe für feudale Gesellschaften angenommen. Ein aktuelles Beispiel für diesen sozial gerechten Feudalismus in Reinkultur ist Nordkorea.

China, dass in den vergangenen 50 Jahren einen gewaltigen Entwicklungssprung gemacht hat, versucht aktuell den modernen Industriekapitalismus mit sozialen Elementen zu kombinieren, hängt aber politisch und kulturell mit einem Bein immer noch in der Prämoderne. Das hieße, dass auf jeder Entwicklungsebene so etwas wie ein „kleiner“ Sozialismus möglich wäre, also die Ebene so sozial verträglich wie möglich zu gestalten, auch wenn ihre Tiefenstruktur vorerst noch prämodern bleibt, da sie weiterhin von den Werten und kognitiven Möglichkeiten — also dem Durchschnittsbewusstsein — der jeweiligen Gesellschaft geprägt ist und es einige Generationen bis zur nächsten Ebene braucht.

Soziale Experimente

Jede Produktivebene könnte demnach entweder als sozial eher gerechte oder ungerechte Gesellschaft existieren. Damit werden die vielen unterschiedlichen Erscheinungsformen sich „sozialistisch“ nennender sozialer Experimente überall auf der Welt verständlich, die oft noch Meilen vom Ideal einer freien, gerechten, hochproduktiven, postmodernen Gesellschaft entfernt sind, wie Marx sich seinen Kommunismus erträumte.

Wenn wir diese qualitativen Unterschiede akzeptieren, müssen wir uns nicht mehr darüber wundern, dass die Menschen in der Selbstverwaltung im kurdischen Rojava oder die Indios in Venezuela oder die Chinesen jeweils ganz andere Vorstellungen vom Sozialismus haben als wir. Das gilt auch deshalb, weil das Verständnis linker Theorien auf jeder Ebene durch die unterschiedlichen kognitiven Potenziale eine völlig andere ist: Marx, dessen Theorie zwischen Moderne und Postmoderne anzusetzen wäre, ist sogar vielen post-modernen Intellektuellen zu kompliziert — wie sollen erst Menschen mit prämodernem Bewusstsein damit klarkommen?

Damit wird auch deutlich, dass wir die Maßstäbe einer westlichen Gesellschaft, wo die meisten erwachsenen Menschen formal-reflexiv denken können und der öffentliche Diskurs schon vom postmodernen Bewusstsein beeinflusst ist, nicht einfach auf Staaten anwenden können, die in ihrer Entwicklung auf einer prämodernen Stufe stehen und wo viele Menschen die Welt vielleicht noch symbolisch, repräsentativ oder konkret-operational verstehen — Menschen, die teilweise gerade so lesen und schreiben können, auf primitivste Art den Boden bearbeiten und die außerdem in prämodernen Glaubenssystemen und mittelalterlichen Traditionen stecken.

Wir müssen uns nicht mehr darüber streiten, welcher Sozialismus nun der richtige ist, sondern können die Unvollkommenheiten der einzelnen Versuche mit ihrer Entwicklungsebene erklären und ihrer eigenen Entwicklungsdynamik überlassen.

Selbst die Diskussion, besser sein zu wollen, als der Kapitalismus, wird damit hinfällig: Eine postmoderne Gesellschaft auf dem technologischen Niveau des heutigen Industriekapitalismus, verbunden mit sozialer Gerechtigkeit, bräuchte den Vergleich nicht zu scheuen und würde ganz sicher nicht freiwillig von ihren Völkern aufgegeben. Auch die Auseinandersetzung zwischen Rosa Luxemburg, die einen demokratischen Sozialismus propagierte, und Lenin, der auf eine absolutistische Parteibürokratie setzte — und die in dem berühmten Luxemburg-Satz „Freiheit ist immer auch die Freiheit der Andersdenkenden!“ gipfelte — ist aus dieser Perspektive nicht mehr das Aufeinandertreffen subjektiver Meinungen, sondern wird als Ausdruck verschiedener Entwicklungsebenen verstehbar.

Mithilfe dieser differenzierten Perspektive lassen sich auch verschiedene andere Phänomene verstehen. In Berücksichtigung der Ebenen sind Menschen wie Assad, Gaddafi und Hussein dann möglicherweise nichts anderes als das, was die Kaiser und Könige im europäischen Mittelalter waren: feudale Einzelherrscher, die versuchten, verschiedene Stämme, Kulturen und Religionen zu Nationalstaaten zusammenzuschmieden.

Und so leicht man ihnen aus unserer westlichen post-modernen Perspektive gerne vorwirft, sie wären „Diktatoren“ — unsere feudalen Könige und Kaiser waren weder demokratisch noch zimperlich — muss man doch auch sehen, welchen Modernisierungsschub sie für die Bevölkerung in ihren Ländern ermöglicht haben, indem sie sozialistische Elemente in ihre Feudalherrschaft mit hinein nahmen: Religionsfreiheit, Bildung — auch für Frauen, medizinische Versorgung, et cetera. Zumindest darin waren beziehungsweise sind sie unseren Königen und den islamischen Monarchien, die sie umgeben, weit voraus!

Wenn keine Ebene übersprungen werden kann, wird auch der Unsinn deutlich, im Zuge von „Nation Building“ Stammesgesellschaften wie in Afghanistan und ähnlichen Ländern eine bürgerliche Demokratie aufzuzwingen: Das orientiert sich an dem, was der Westen für richtig hält, aber nicht an dem, was diese Länder brauchen — nämlich den Schritt zur nächst höheren Ebene — und kann deshalb niemals funktionieren. Aus diesem Grunde werden Demokratien in diesen Ländern aus westlicher Sicht fast immer Scheindemokratien (8) sein.

Doch ist es vermutlich für den einfachen Menschen weniger wichtig, wie sein politisches System heißt, als was es für ihn tut. Und die einzige Maßnahme, die wirklich hilft, das Durchschnittsbewusstsein eines Volkes auf die nächste Ebene zu heben, ist Bildung. Wenn der „Ersten“ Welt also wirklich an der Entwicklung der „Zweiten“ und „Dritten“ Welt liegt, sollte sie in diese Länder lieber Lehrer statt Soldaten und Wirtschaftsberatern schicken.

Zum tieferen Verständnis mag helfen, dass Spiral Dynamics bei seinen Bewusstseinsebenen von zwei Aspekten ausgeht, einem inneren und einem äußeren — man könnte sie auch Inhalt und Form nennen. Ein ökologisches Gewissen ist zum Beispiel eine Errungenschaft der Postmoderne, wie sie sich seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts in den westlichen Industrienationen entwickelt — und bitte verwechseln Sie dieses nicht mit der magisch-animistischen Ehrfurcht der Naturvölker vor ihren Ahnen im Tier- und Pflanzenreich (9). Fundamentalismus dagegen ist eine psychische Tiefenstruktur der mythisch-feudalistischen Ebene, die sich gesellschaftlich unter anderem in dogmatischen Offenbarungsreligionen ausdrückt, wofür der Katholizismus ein gutes Beispiel ist.

Wenn ein Mensch versucht, anderen Menschen seine ökologischen Ideale auf fundamentalistische Weise nahe zu bringen, ist er selbst ein Vertreter der Prämoderne, auch wenn der Inhalt seiner Reden und die Gruppe, die er möglicherweise vertritt, postmodern sind. Wenn er sich auf logische Argumente für und gegen seine Meinung einlassen kann, ist er modern-rationalistisch. Und wenn er gar das Eigenrecht anderer Lebewesen akzeptiert und die verschiedenen Aspekte in einem komplexen, relativistisch-systemischen Denkgebäude gegeneinander austarieren kann — nur dann kann er sich selbst postmodern-pluralistisch nennen. Das Gleiche gilt natürlich für alle möglichen anderen Ansichten, Ideologien und Religionen.

Wahl zwischen zwei Möglichkeiten

Wer jemals in der DDR die Plakate gesehen hat: „Die Lehre von Marx, Engels und Lenin ist allmächtig, weil sie wahr ist!“, weiß, wie es sich anfühlt, wenn eine eigentlich rational-wissenschaftliche Theorie als nicht hinterfragbare mythische Offenbarungsreligion verkauft wird.

Damit wird auch erklärbar, warum die Umwälzungen 1989 nicht zu einer postmodernen Zivilgesellschaft führten: die kleine Gruppe pluralistischer Intellektueller, die jahrelang auf einen Qualitätssprung des real existierenden Sozialismus hingearbeitet hatte, war gleichfalls in der Illusion gefangen, dass sich das Durchschnittsbewusstsein in der DDR mindestens auf der Ebene der rationalen Moderne befand.

Dabei war sich die Masse der Ostdeutschen gerade erst der geistigen Enge der sozialfeudalistischen Doktrin bewusst geworden und hatte aufgrund der herrschenden Produktionsverhältnisse zwei Möglichkeiten: entweder weiter in dem prämodernen, aber sozial relativ gerechten System zu verharren, oder einen Entwicklungsschritt auf die nächste, rationale Ebene zu machen: in die moderne, kapitalistische Industriegesellschaft mit all ihren längst sichtbaren Nachteilen.

Denn leider gab es zu diesem Zeitpunkt — und gibt es bis heute — nirgendwo auf dieser Welt eine moderne und sozial gerechte Industriegesellschaft, die genügend Attraktivität gehabt hätte, um als Alternative zu dienen. Möglicherweise schafft es China — als derzeitiger evolutionärer Hotspot — in den nächsten Jahrzehnten, sein feudales Erbe zu integrieren und auch auf politischer Ebene in der Moderne anzukommen.

Als letztes lassen Sie mich bitte noch darauf hinweisen, dass auch die politischen Parteien Deutschlands nicht einfach nebeneinander stehen, sondern gleichfalls die verschiedenen Ebenen repräsentieren — manchmal durchaus mit unterschiedlichen Adressatengruppen. Damit ziehen sie vor allem die Menschen an, die sich in ihrer Entwicklung selbst auf der jeweiligen Ebene befinden.

Nicht umsonst schreibt man Nazis eine gewisse geistige Schlichtheit zu oder gibt es das Sprichwort: „Kaum sagt man mal ein kluges Wort, schon denken alle, man sei ein Kommunist!“. Sie werden in einer rechtsradikalen Partei viele Menschen mit geringer Bildung finden und bei Parteien wie den Grünen, Linken und Piraten kaum Menschen ohne Hoch-Schulabschluss. Deshalb kann man die Parteien ungefähr nach Ebenen ordnen: die radikalen wie NPD und Republikaner auf der heroischen, die Konservativen wie AfD und CSU auf der mythischen — beide tendieren manchmal auch noch zu heroisch, die neoliberalen Parteien wie CDU, FDP und auch SPD und Grüne (10) bedienen die Moderne, und Linke und Piraten verorte ich schwerpunktmäßig in der Postmoderne.

Die Einteilung in Links und Rechts ist völlig irreführend, weil sie nicht die Bewusstseinsebene der Mitglieder und Wähler berücksichtigt, sondern eine gewisse Beliebigkeit vortäuscht. Aber aus der Abfolge der Entwicklungsebenen betrachtet ist der rechte Rand der untere und der linke Rand der obere, mit einem starken Bauch von Mittelschlauen in der Mitte — das ist einfachste Statistik!

Daraus ergibt sich auch eine der Pathologien der quantitativen bürgerlichen Demokratie: solange nicht anerkannt wird, dass es qualitativ unterschiedliche Bewusstseinsebenen gibt, wird ein Land immer vom geistigen Durchschnitt regiert — niemals von den Intelligentesten! Unter anderem deshalb hat auch eine moderne Wirtschaft, die nur den eigenen Aufwand gegen den eigenen Gewinn rechnen kann, mehr politisches Gewicht als eine postmoderne Wissenschaft, die fähig ist, die Auswirkungen wirtschaftlicher Entscheidungen auf das gesamte Erd-System zu betrachten.

Auch wenn Parteien ihren Schwerpunkt auf einer Ebene haben, gibt es doch eine gewisse Spreizung bei ihren Mitgliedern von prämodern bis postmodern durch die oben erwähnte Inkongruenz von Inhalt und Form. Für die Linke als Partei heißt das zum Beispiel: Der Schwarze Block benutzt linke Parolen, um seine heroische Form = Gewalt zu rechtfertigen. Außerdem gibt es noch orthodoxe Altgenossen, die dem feudalen DDR-Sozialismus hinterhertrauern, es gibt rationale Klassenkämpfer und pluralistische Globalisten. Alle wollen vermutlich eine bessere Welt, reden aber aneinander vorbei, weil ihnen nicht bewusst ist, dass sie die gleichen Themen auf verschiedenen Bewusstseinsebenen betrachten. Das führt dann möglicherweise zu persönlichen Fehden, die auch noch der Sache im Ganzen schaden.

Soweit ein paar subjektive Gedanken und Vorschläge als kleine Denkanstöße zur weiteren Evolution des kollektiven Bewusstseins.


Quellen undAnmerkungen:

(1) Wenn ich heute mal in nostalgischen Gefühlen zu versinken drohe, gehe ich schnell in die Gaststätte „Kollektiv“ in Leipzig und lese die dort ausgestellten Zeitungsausschnitte aus der DDR-Presse. Diese geballte geistige Borniertheit heilt mich immer ganz schnell von rückwärtsgewandten Sehnsüchten.
(2) https://www.rubikon.news/artikel/intellektuelle-aller-lander-vereinigt-euch/
Dieser Artikel soll übrigens auf keinen Fall Marx-Bashing sein: Ich bin immer wieder erstaunt über sein Wissen, seinen Fleiß und seine Weitsicht und habe größte Hochachtung vor ihm. Mir hilft nur die Gnade der späten Geburt und die Weiterentwicklung und öffentliche Zugänglichkeit des Wissens, dass ich heute Dinge sehen kann, die zu sehen zu seiner Zeit unmöglich war.
(3) https://de.wikipedia.org/wiki/Jean_Piaget
(4) https://de.wikipedia.org/wiki/Jean_Gebser
(5) https://www.sein-und-wirken.ch/spiraldynamics
(6) Wilber an verschiedenen Orten, zum Beispiel „Eine kurze Geschichte des Kósmos“, „Integrale Psychologie“, et cetera. Eine Kurzeinführung in die Integrale Theorie gibt es hier:
http://www.integrale-psychotherapie.de/Resources/Weinreich_Integrale_Grundlagen.pdf
(7) Um hier nicht in den Verdacht der „Ebenenarroganz“ zu geraten: Jeder Mensch und jede Gesellschaft hat ein gleiches Recht zu leben! Aber nicht alle sind gleich weit entwickelt. Das ist ein logisch und empirisch nachweisbarer Fakt. Es gibt bestimmte postmoderne Kreise, die evolutionäre Hierarchien grundsätzlich ablehnen und ihnen mit dem Schlachtruf der „Gleichwertigkeit“ begegnen. Allerdings halten diese Kreise sich in ihrer Toleranz — unausgesprochen und unreflektiert — für weiter entwickelt und besser als intolerante Nazis — und führen damit ihr Argument der „Gleichwertigkeit“ ad absurdum.
(8) Die Pathologie der bürgerlichen Demokratie aus integraler Perspektive zu beschreiben wäre ein eigenes Thema.
(9) Es gibt innerhalb der Linken einen Hang zur Rousseauschen Romantik des „edlen Wilden“, die nicht wahrhaben will, dass beispielsweise Machismus keine lokale Folklore ist, sondern ein typischer Ausdruck auf wenig komplexen Bewusstseinsebenen.
(10) Die Grünen sind als postmoderne Partei gestartet, haben aber mit dem Sieg der Realos über die Fundis das meiste davon verloren, sind also eine Ebene zurückgerutscht. Die CDU war ursprünglich eine eher mythische Partei, die von Angela Merkel in die Moderne geführt wurde — die Lücke füllt jetzt die AfD. Wenn man die Geschichte der CDU in ihrer prämodernen Phase betrachtet, wird man feststellen, dass sie viele Nazis in wichtigen Positionen und als Mitglieder hatten — das ist also nicht nur ein Phänomen der AfD. Auch die SPD hat noch einige Verhaftungen im prämodernen Bewusstsein. Das Schema ist also sehr vereinfacht.