Die europäische Unsicherheitsordnung

Der Plan, Deutschland unter den „atomaren Schutzschirm“ Frankreichs zu stellen, könnte uns erst recht zur Zielscheibe machen.

Erleichterung in Deutschlands TV-Studios und Redaktionsstuben: In der Ukraine wird „nicht am ersten Tag schon der Frieden ausbrechen“, wie es der Journalist Elmar Theveßen charmant ausdrückte. So kann Europa den lieb gewordenen Krieg weiter wohlwollend begleiten und mit Geld sowie Waffen befeuern. Was kriegsaffine Politiker wie Anton Hofreiter jedoch nicht sehen: Deutschland könnte unversehens von der Zuschauerbank aufgescheucht werden und ins Zentrum des Geschehens rücken. Stimmen aus den USA deuten an, dass unser „Verbündeter“ sich ein Schlachtfeld Europa sehr wohl vorstellen kann, während er selbst dabei ist, sich vornehm zurückzuziehen. Sogleich ertönt angesichts des unberechenbaren Donald Trump der Ruf nach einer „eigenen“ Atombombe. Konkret könnte dies zum gegenwärtigen Zeitpunkt bedeuten, dass Deutschland unter den atomaren Schutzschirm Frankreichs kriecht. Der Denkfehler dabei ist: Atomwaffen auf deutschem Boden wären nicht unbedingt Garanten für die Sicherheit, sie würden im Fall eines Krieges unweigerlich russische Raketen „anlocken“.

Überlagert von den filmreifen Szenen aus dem Weißen Haus — „Das wird großartiges Fernsehen“, Donald J. Trump (1) — und bedingt durch die allgemeine analytische Unfähigkeit der Massenmedien wird im europäischen Raum völlig übersehen, was der zentrale Inhalt der von der neuen US-Regierung eingeleiteten Gespräche mit Russland ist. Man kann Donald Trump und seinem Vizepräsidenten James David Vance nicht den Vorwurf machen, sie hätten den ukrainischen Präsidenten Selenskyj auflaufen lassen. Fest steht — und Selenskyj scheint dies nicht zu begreifen —, dass die Ukraine für die USA niemals eine Priorität war, auch wenn die zum Glück im Orkus der Geschichte verschwundene Regierung unter Joe Biden und Anthony Blinken einen gegenteiligen Anschein erweckte. Ziel der vorigen Regierung der USA war ein groß angelegter Krieg gegen Russland, mit der EU als gesamteuropäischer eiserner Faust, die die russischen Weichteile — die dicht besiedelten europäischen Regionen — penetrieren sollte.

Diese Tatsache mag noch heute vor allem den naiven europäischen Betrachter überraschen und verstören, aber diese Politik wurde von Joseph Biden öffentlich dargelegt:

„Wir werden weiterhin mit unseren Verbündeten in Europa fest zusammenstehen und eine unmissverständliche Botschaft senden: dass wir jeden Zentimeter des NATO-Territoriums verteidigen werden, jeden einzelnen Zentimeter — mit der vereinten, galvanisierten NATO. Eine Bewegung — deswegen habe ich über 12.000 amerikanische Truppen an die Grenzen zu Russland verlegt. Lettland, Estland, Litauen, Rumänien et cetera. Wenn sie (Russland, Anmerkung des Verfassers) sich einmal rühren — garantiert, wir werden antworten, und dann haben wir den Dritten Weltkrieg. Aber wir haben eine heilige Verpflichtung dem NATO-Territorium gegenüber, eine heilige Verpflichtung, Artikel 5 (des NATO-Vertrags, Anmerkung des Verfassers), und wir werden nicht (…) Auch wenn wir den Dritten Weltkrieg nicht in der Ukraine führen werden, wird Putins Krieg gegen die Ukraine niemals ein Sieg sein. Die Demokraten befinden sich im Aufwind, in diesem Moment unseres Treffens; wir stellen uns auf, wir vereinen die Welt auf der Seite des Friedens und der Sicherheit. Wir zeigen Stärke und werden niemals zurückweichen, aber sehen Sie: Die Idee, die Idee, dass wir offensive Ausrüstung entsenden und Flugzeuge, Panzer, Züge mit amerikanischen Piloten und amerikanischer Besatzung schicken: Egal was Sie alle sagen — das nennt man den Dritten Weltkrieg“ (2) (Übersetzung durch den Verfasser).

Die erstaunlichen Aussagen Bidens stammen vom 13. März 2022, der Ukrainekrieg war noch keinen Monat alt. Das Statement folgt einer eigentümlichen Logik: Die „demokratischen“ Länder — also die NATO-Staaten — hätten sich zu einer „galvanisierten“ Einheit verschmolzen und Biden habe über 12.000 US-Soldaten an die russische Grenze verlegt. Dies sei der Weg zu „Frieden und Sicherheit“. Die „heilige Verpflichtung“ — die Beistandsklausel in Artikel 5 des NATO-Vertrags, die übrigens bloß zu Konsultationen, also Gesprächen verpflichtet (3) — könnte zum Dritten Weltkrieg führen, den Biden aber nicht in der Ukraine führen will.

Die einzig logische Schlussfolgerung aus diesen wirren Ausführungen ist, dass der Dritte Weltkrieg nach Bidens Vorstellungen auf europäischem NATO-Territorium geführt werden sollte.

Ich zitiere hier den ehemaligen US-Präsidenten, um die Denkweise klar zu machen, die nach wie vor in den Institutionen der EU die vorherrschende ist und darüber hinaus in den meisten nationalen Regierungen der EU-Staaten. In Deutschland wird in absehbarer Zeit Friedrich Merz zum nächsten Bundeskanzler gewählt; der französische Präsident Emmanuel Macron wirkt schon seit längerer Zeit wie ein verzweifelter Kettenhund, der möglichst laut bellt, weil die Zähne zum Beißen nicht taugen. Die EU-Regierungen haben sich in den letzten drei Jahren durch eine in der Geschichte einmalige Inkompetenz ausgezeichnet. Man kann diesen eigenartigen Denkstil mit den Worten „Krieg führen wollen, ihn aber nicht führen können“ umschreiben; paradigmatisch dafür steht die Aussage des vom Paulus zum Saulus gewandelten Anton Hofreiter: „Waffen, Waffen und nochmal Waffen.“ Derselbe Anton Hofreiter bezeichnete kürzlich in einem Interview die Partei Alternative für Deutschland (AfD) als „Truppe von Landesverrätern“, da sie der Handlanger Putins und Trumps sei (4). Bei Landesverrat handelt es sich um eine Straftat:

„Wer ein Staatsgeheimnis
1. einer fremden Macht oder einem ihrer Mittelsmänner mitteilt oder
2. sonst an einen Unbefugten gelangen lässt oder öffentlich bekannt macht, um die Bundesrepublik Deutschland zu benachteiligen oder eine fremde Macht zu begünstigen, und dadurch die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland herbeiführt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft“ (5).

Dass eine solche Aussage heute keinen Skandal mehr erzeugt, zeigt an, wie tief der politische Diskurs in Deutschland gesunken ist. Hofreiter fordert gleich darauf ein AfD-Verbot und die Erklärung einer nationalen Notlage, um die Schuldenbremse auszusetzen, damit massiv aufgerüstet werden kann. Dies sei notwendig, um für „Frieden“ zu sorgen, ebenso wie die „Unterstützung“ der Ukraine, die ebenfalls massiv ausgebaut werden soll. Politiker wie Hofreiter begreifen nicht, dass die „russische Bedrohung“ von Anfang an ein Narrativ der USA war, um die europäischen Länder in den Krieg mit Russland zu treiben. Bis heute gibt es keine einzige Aussage Wladimir Putins, in der er irgendeinen NATO-Staat bedroht hätte. Der Landesverrat droht in Deutschland von ganz anderer Seite.

Es droht Frieden auszubrechen

Der ZDF-Studioleiter in Washington, Elmar Theveßen — Mitglied der transatlantischen „Atlantik-Brücke“ —, kommentierte am 16. Januar 2025 in der Talkshow „Maybrit Illner“ die kommende Präsidentschaft Donald Trumps. Es lohnt, sich den Dialog zwischen Illner und Theveßen zu vergegenwärtigen:

Illner: „Wir müssen an Elmar Theveßen gleich zwei Fragen loswerden. Zum einen: Glaubt unser Washington-Korrespondent, dass Donald Trump tatsächlich die Weis-, die Weitsicht besitzen wird, zu verstehen, dass die Ukraine siegen muss, und dass er über die Köpfe der Ukraine hinweg – das ist auch nicht schlau – entscheiden sollte? Fragezeichen, erste Frage.

Theveßen: „Also dann zur ersten Frage. Die gute Nachricht ist: Es wird nicht am ersten Tag schon der Frieden ausbrechen in dieser Region. Donald Trump hat selber gesagt, er rechnet vielleicht mit sechs Monaten; der Keith Kellog, den (Wolfgang) Ischinger vorhin erwähnt hat, (hat) von hundert Tagen gesprochen, die man sich gibt, um das Problem zu lösen. Das ist erst mal die gute Nachricht, das heißt, auch in den ersten Tagen und Wochen werden nicht einfach die Militärhilfen sofort eingestellt, zum Beispiel die Lieferung von Geheimdienstinformationen, die die ukrainische Armee braucht, um eben die Ziele auch zu finden und dann zu bekämpfen. Weil man eben eine Position der Stärke ja braucht, um in Verhandlungen zu gehen“ (6).

Maybrit Illner fragt sich, ob Donald Trumps „Weitsicht“ ausreicht, um zu verstehen, „dass die Ukraine siegen muss“.

Elmar Theveßen spricht, ohne rot zu werden, von der „guten Nachricht“, dass „nicht am ersten Tag schon der Frieden ausbrechen“ (sic!) wird. Es scheint für die deutschen Massenmedien nichts Wichtigeres zu geben, als den Krieg in der Ukraine möglichst lange am Laufen zu halten.

Derartige „Weitsicht“ führt über kurz oder lang zu einem Krieg der Europäischen Union gegen Russland. Bereits jetzt ist von einer „Koalition der Willigen“ die Rede — eine Neuauflage des unsäglichen Ausdrucks, mit dem die USA ihre Verbündeten während des völkerrechtswidrigen Irakkriegs (2003) bezeichneten. Angeführt wird diese neue „Koalition“ wenig überraschend von Großbritannien und Frankreich — den beiden einzigen europäischen Nuklearmächten.

Was nicht verstanden wird, ist, dass die Gespräche zwischen den USA und Russland in erster Linie die nukleare Sicherheit thematisieren. Der „Strategic Arms Reduction Treaty“ (Vertrag zur Verringerung strategischer Waffen, New START), der die Zahl der sogenannten strategischen Kernwaffen der beiden größten Atommächte begrenzt, droht Anfang 2026 auszulaufen. Man wird gewiss in den nächsten Wochen davon hören, dass Gespräche über eine Verlängerung des Vertrags begonnen haben. Die strategischen Atomwaffen sind jene mit enorm großer Sprengkraft, die im Atomkrieg gegen belebte Ziele — Großstädte — eingesetzt werden. Sie sind das Kernelement der nuklearen Abschreckung, die darin besteht, jedem atomaren Angreifer die vollständige Vernichtung seines Landes und seiner Einwohner zu garantieren. Die Chefin des russischen Staatssenders Russia Today, Margarita Simonjan, hat diese Tatsache einmal mit den Worten ausgedrückt, dass Russland das einzige Land sei, das „die USA in einer Stunde zerstören kann“ (7).

Donald Trump scheint dies verstanden zu haben, und in den europäischen NATO-Staaten dämmert die Erkenntnis, dass der berühmte „Article Five“ des NATO-Vertrags bloß Makulatur ist. Würden die USA die vollständige Zerstörung ihres Landes in Kauf nehmen, um Nordmazedonien oder Montenegro zu verteidigen? Teil der russisch-amerikanischen Gespräche werden ohne Zweifel auch die in europäischen Ländern stationierten amerikanischen Nuklearwaffen sein — sogenannte taktische Atomwaffen, mit geringerer Sprengkraft, zum Einsatz gegen Kriegsziele auf dem Schlachtfeld. Diese Bomben lagern in Deutschland in Büchel oder Nörvenich (8); darüber hinaus befinden sich US-amerikanische Atomwaffen in Belgien, den Niederlanden, Italien und der Türkei.

Im Kriegsfall sind es deutsche, belgische, niederländische, italienische und türkische Piloten, die diese Bomben zum Ziel fliegen und abwerfen werden. Diese Art militärischer „Arbeitsteilung“ wird euphemistisch als „nukleare Teilhabe“ bezeichnet. Die wenigsten Deutschen dürften wissen, dass russische Atomraketen auf Büchel und Nörvenich gerichtet sind. Im Sinne der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wäre es, diese Waffen unverzüglich abzuziehen. Das Gegenteil ist bislang jedoch der Fall: Die Wasserstoffbomben vom Typ B-61 sind erst kürzlich modernisiert worden (9) und die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik ruft gar eine „nukleare Zeitenwende“ aus. Der Autor Karl-Heinz Kamp plädiert in der Analyse für „Maßnahmen zur Verbesserung der nuklearen Abschreckungskapazitäten der NATO“.

Darunter versteht er eine Erhöhung der Anzahl amerikanischer Kernwaffen in Europa sowie eine Stationierung von Kernwaffen in den ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes, sprich: in Polen und dem Baltikum, in Rumänien, Ungarn, Tschechien, der Slowakei und selbstverständlich auch in Ostdeutschland (10). Begründet werden diese halsbrecherischen Forderungen apodiktisch mit dem — natürlich völlig unprovozierten — Krieg Russlands gegen die Ukraine. Derselbe Karl-Heinz Kamp hat bereits im Jahr 2024 für eine verstärkte öffentliche Diskussion über Kernwaffen in Deutschland geworben — eine an sich sehr richtige Forderung — und dabei folgenden interessanten Satz fallen lassen:

„Kernwaffen haben als Machtwährung sogar erheblich an Bedeutung gewonnen, weil sie die russische Aggression absichern und verhindern, dass westliche Staaten, über die Lieferung von Waffen hinaus, an der Seite der Ukraine in den Krieg eintreten“ (11).

Mit anderen Worten: In einen konventionellen Krieg gegen Russland wäre die NATO längst an der Seite der Ukraine eingetreten. Die Ungeheuerlichkeit dieser Aussage bestätigt die Notwendigkeit des russischen Kernwaffenarsenals aus Selbstschutzgründen eklatant. Wir haben es also den russischen Atomwaffen zu verdanken, dass wir uns noch nicht im Krieg befinden.

Die geplante Stationierung von US-amerikanischen Tomahawk-Marschflugkörpern auf deutschem Boden ist gewiss ebenfalls Gegenstand des russisch-amerikanischen Gedankenaustauschs. Diese ist nicht vom deutschen Parlament genehmigt und bezieht sich explizit auf konventionelle, also nichtnukleare Systeme. Jedoch ist der Marschflugkörper sehr wohl technisch dazu in der Lage, nukleare Sprengköpfe zu tragen. Das weiß auch Kamp, der bis 2023 Berater im Bundesministerium der Verteidigung war. Er schreibt:

„Perspektivisch kann der Tomahawk auch mit einem W80-Nuklearsprengkopf ausgestattet werden. Einen entsprechenden Beschluss in der NATO vorausgesetzt, könnten diese Waffen vergleichsweise rasch in den europäischen Mitgliedsländern stationiert werden, die sich zu einem solchen Schritt bereit erklären. Die Vorteile eines solchen Schrittes lägen darin, dass die Tomahawks über mobile Startrampen verfügen und keine festen Ziele bieten. (…) Auch würde so ein deutliches Signal an Russland gesendet werden und die Allianz zeigen, dass sie sich nicht von Moskaus nuklearen Drohungen beeindrucken lässt. (…) Die Nachteile lägen vor allem im politischen Bereich, da eine solche Stationierungsentscheidung öffentliche Proteste in den Stationierungsländern nach sich ziehen könnte. Bemerkenswert war allerdings, dass die deutsche Entscheidung zur Stationierung der konventionellen Tomahawks kaum breite öffentliche Reaktionen ausgelöst hatte“ (12).

Es war keine deutsche, sondern eine amerikanische Entscheidung. Auf diese Nichtreaktion der Bevölkerung, so die implizite Aussage Kamps, lässt sich aufbauen, wenn die Tomahawks nuklear bestückt werden.

Macron — eine Gefahr für die europäische Sicherheit?

Die sich überschlagenden Ereignisse, die von der US-Regierung ausgehen, lassen die EU-Eliten in Panik verfallen. Dabei rückt Frankreich als einzige Nuklearmacht der Europäischen Union ins Zentrum des auch deutschen Interesses — Friedrich Merz sprach bereits mit Emmanuel Macron über die Möglichkeit einer Ausdehnung des französischen „nuklearen Schutzschirms“ auf deutsches Bundesgebiet (13). Für Frankreich ist die Motivation zu solchen Gesprächen in der Wunschvorstellung eines Staates alter Größe zu finden — in Polynesien besitzt Frankreich schließlich noch Überseegebiete, die neokolonialen Praktiken in Westafrika dagegen scheitern zunehmend. Macron: ein Mann, der die große Geste schätzt, für diese jedoch selbst nicht das Format mitbringt. Er war der Erste, der von Truppenentsendungen in die Ukraine sprach, nun bereits vor einem Jahr (14) und wartet jetzt zusammen mit dem britischen Premierminister Keir Starmer mit vollends absurden Vorschlägen auf:

„Wenige Tage vor einem EU-Sondergipfel schlagen der britische Premierminister Keir Starmer und der französische Präsident Emmanuel Macron eine einmonatige Waffenruhe in der Ukraine als Schritt zu einem möglichen Friedensabkommen vor. Ihr Friedensplan sieht als erste Deeskalationsmaßnahme eine ‚Waffenruhe in der Luft, auf See und im Bereich der Energieinfrastruktur‘ vor, wie Macron der französischen Zeitung Le Figaro sagte. (…) Bei der von Macron und Starmer vorgeschlagenen Waffenruhe wären die Bodenkämpfe an der Front in der Ostukraine offenbar zunächst nicht betroffen“ (15).

Beim Russen dürften solche Vorschläge Schnappatmung auslösen. Wesentlich bedrohlicher aus nicht allein deutscher Sicht wäre eine Verlegung französischer Atomwaffen auf deutsches und europäisches Staatsgebiet. Wenn es auch in absehbarer Zeit unwahrscheinlich erscheint, dass die Amerikaner ihre Nuklearwaffen aus Deutschland und den übrigen europäischen Ländern abziehen, so ist es doch unter einem Präsidenten Trump schwerer denn je, „nie“ zu sagen. Ein Kanzler Merz, der bereits dafür bekannt ist, eigene Positionen keine 24 Stunden beizubehalten, könnte sich durch eine unverbindliche Zusage Macrons veranlasst sehen, unter dem vermeintlichen atomaren Schutz Frankreichs der Ukraine endlich den lang ersehnten Taurus-Marschflugkörper zu liefern.

Charles de Gaulle entschied sich Ende der 1950er-Jahre sehr bewusst für einen „französischen Sonderweg“, indem er den Aufbau einer nationalen Nuklearstreitmacht befahl (16). Bis heute sind die französischen Atomwaffen nicht Teil der nuklearen Abschreckung der NATO. In einer aufgrund der beginnenden Corona-Pandemie unbeachtet gebliebenen Rede vom 7. Februar 2020 konstatierte Emmanuel Macron einen sicherheitspolitischen Paradigmenwechsel, bedingt durch technologische Disruptionen. Bereits damals sprach er davon, dass „Europa“ — also die Europäische Union — sich von den USA unabhängiger machen müsste, heißt: massiv in die eigene Aufrüstung investieren. Der wesentliche Unterschied zur heutigen französischen Position ist, dass Macron sich damals noch für einen Dialog und vertrauensbildende Maßnahmen mit Russland ausgesprochen hatte (17). 2020 hieß es noch:

„Frankreich bedroht niemanden. Wir wollen Frieden — soliden, anhaltenden Frieden. In keinem Fall haben wir ein expansionistisches Ziel“ (18).

Fünf Jahre später heißt es: „Man wolle Frieden in der Ukraine, aber nicht um jeden Preis, warnte Macron. Er hob hervor, dass Sicherheitsgarantien essenziell seien“ (19).

Mit der Ankündigung der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vom 4. März 2025, 800 Milliarden Euro für die gemeinsame Aufrüstung „mobilisieren“ zu wollen (20), scheinen Macrons Ideen fünf Jahre nach seiner Rede auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein. Darum sollte darauf hingewiesen werden, dass der französische Präsident im Februar 2020 keineswegs davon sprach, seine souveräne Entscheidungsgewalt über die eigenen Nuklearwaffen mit irgendjemand anderem zu teilen:

„Dieser Wunsch nach nationaler Souveränität ist absolut nicht unvereinbar mit unserem Wunsch, die europäischen Kapazitäten zu stärken. Er ist sogar eine essenzielle Vorbedingung. Kooperation wird am besten erreicht, wenn man sich souverän entscheiden kann, zu kooperieren.

Die Verteidigung, eine Grundlage aller politischer Akteure, ist das Herzstück unserer Souveränität. Unsere Strategie der Verteidigung ist daher in erster Linie durch die Fähigkeit definiert, unsere Bürger zu schützen und zur europäischen Sicherheit und zum Frieden beizutragen, genauso wie in dessen Umgebung. Aber sie ist nicht darauf beschränkt. Sie muss genauso die Fähigkeit sichern, unsere souveränen Interessen überall auf der Welt zu verteidigen, angesichts unserer Überseegebiete und der großen Ausdehnung unserer Partnerschaften“ (21) (Übersetzung durch den Verfasser).

Nach wie vor vertritt Präsident Macron hier die Position, Frankreich sei eine Weltmacht. Ein Friedrich Merz würde sich auf Zusicherungen aus Frankreich, im Ernstfall nukleare Vergeltung zu üben, verlassen. Er sollte Macrons Reden lesen.

„Unsere Nuklearstreitkräfte haben einen abschreckenden Effekt in sich selbst, besonders in Europa. Sie stärken die Sicherheit Europas durch ihre reine Existenz und sie haben in diesem Sinne eine wirklich europäische Dimension.

Zu diesem Punkt: Unser unabhängiger Entscheidungsprozess (über den Einsatz von Nuklearwaffen, Anmerkung des Verfassers) ist vollständig vereinbar mit unserer unverbrüchlichen Solidarität mit unseren europäischen Partnern. Unser Bekenntnis zu ihrer Sicherheit und ihrer Verteidigung ist der natürliche Ausdruck unserer immer stärkeren Soldidarität. Um es klar zu machen: Frankreichs lebenswichtige Interessen haben heute eine europäische Dimension.

In diesem Geiste wünsche ich mir, einen strategischen Dialog mit denjenigen unserer europäischen Partner zu entwickeln, die bereit dafür sind — über die Rolle, die Frankreichs nukleare Abschreckung in unserer kollektiven Sicherheit spielt.

Europäische Partner, die gewillt sind, diesen Weg zu gehen, können in die Übungen der französischen Abschreckungskräfte eingebunden werden. Dieser strategische Dialog und Austausch wird auf natürliche Weise dazu beitragen, eine wahre strategische Kultur unter den Europäern zu entwickeln“ (Übersetzung durch den Verfasser) (22).

Die Rede ist von der „unabhängigen Entscheidung“ Frankreichs und von der „europäischen Dimension“ „französischer lebenswichtiger Interessen“. Als höchstes der Gefühle stellt Macron eine Teilnahme an „Übungen der Nuklearsteitkräfte“ in Aussicht. Wenn Friedrich Merz sich nun einbildet, ein „strategischer Dialog“ mit Frankreich über eine gemeinsame Nuklearstreitmacht für die Europäische Union habe begonnen, so geht er fehl. Frankreich wird Nordmazedonien genauso wenig mithilfe seiner „Force de frappe“ verteidigen, wie die USA es würden. Übrigens würde auch Deutschland nicht verteidigt. Während Macron sich 2020 noch stolz dafür rühmte, dass seine Nuklearraketen auf kein bestimmtes Land gerichtet seien — was bereits damals stark zu bezweifeln war —, riskiert er, falls er von seiner alten Position der französischen Souveränität über die Atomwaffen abrückt, nichts anderes als die Zerstörung seines Landes.

Die französischen Atomwaffen sind nicht in den „Nuklearschirm“ der NATO integriert. Eine Stationierung dieser Waffen in europäischen NATO-Ländern, die aktuell US-Atomwaffen beherbergen, würde das nukleare Gleichgewicht vollkommen durcheinanderbringen. Jedoch könnte man den Vorstoß Macrons auch so interpretieren, dass er auf einer schweigenden Absprache mit dem neuen Präsidenten Trump beruht. Sollte dieser es ernst meinen mit grundlegenden Verhandlungen mit Russland über eine neue gemeinsame europäische Sicherheitsarchitektur, läge früher oder später die russische Forderung nach einer Übereinkunft mit den europäischen Nuklearmächten Großbritannien und Frankreich auf dem Tisch. Wladimir Putin hat die Einbeziehung dieser beiden Akteure bereits im Jahr 2023 gefordert (23).

Auch der Verbleib der US-Atomwaffen in Europa wird dann diskutiert werden.

Sollte der völlige Zerfall der NATO nicht im Interesse der neuen US-Regierung unter Trump sein — wovon auszugehen ist —, so müsste man den nichtnuklearen europäischen NATO-Staaten eine neue Sicherheitsgarantie anbieten, die in der Realität genauso leer ist wie die erste. Diese Rolle könnte Frankreich übernehmen.

Die USA würden als Zeichen des guten Willens gegenüber Russland ihre Atomwaffen aus Europa abziehen. Die Franzosen würden im Gegenzug einige ihrer Bomber in verschiedenen — vermutlich anderen — europäischen Staaten stationieren. Für Frankreich selbst bedeutet dies in der Analyse von Scott Ritter nichts Gutes:

„Frankreich strebt nach militärischer Relevanz, die es derzeit nicht hat. Wir sehen ein Bestreben Frankreichs nach einer Art strategischer Relevanz in Europa, indem es droht, anbietet — ich weiß nicht, wie man es nennen soll —, atomwaffenfähige Flugzeuge auf deutschem Boden zu stationieren. (…) Dann würde Frankreich jetzt zum Garanten der europäischen Sicherheit in Bezug auf einen nuklearen Schutzschild werden.

Russland würde dann einfach seine nuklearen Mittelstreckenwaffen nehmen und sie fast ausschließlich auf Frankreich richten, und Frankreich müsste um Frieden bitten. Jetzt ist Frankreich in der Situation, dass es ein Atomwaffenabkommen mit Russland aushandeln muss, ohne jeglichen Einfluss gegenüber Russland“ (24).

Die übrigen russischen Mittelstreckenraketen würden auf die europäischen Staaten gerichtet, die bereit sind, unter dem neuen französischen „Schirm“ Schutz zu suchen. Die Euphemismen der nuklearen Sphäre gehören zu den beachtlichsten, die man finden kann.

Durch einen „Schutzschirm“ gerät man ins Visier der Atomraketen des Gegners. Solcherlei Schutz wünscht sich Friedrich Merz auch für Deutschland — wenn nicht vom Ami, dann vom Franzos.

Es bedarf der dringenden öffentlichen Debatte über diese elementaren nuklearstrategischen Entwicklungen der jüngsten Zeit. Ansonsten riskiert Deutschland, abermals zum Ziel von Massenvernichtungswaffen zu werden.