Die eurasische Brücke brennt
Der Russlandexperte Alexander Rahr beklagt, dass die deutsch-russische Freundschaft in Scherben liegt, und warnt vor den Gefahren der westlichen Hochnäsigkeit.
Osteuropa-Historiker, Politikberater und Publizist — das und noch mehr ist Alexander Rahr. Er gilt als exzellenter Kenner Russlands. In seinem jüngsten Buch stellt er russische „Deutschland-Kenner“ und ihre Sichtweisen vor. Er weist zudem auf ein zutiefst gestörtes Verhältnis zwischen den beiden Ländern zum Zeitpunkt der Niederschrift seines Werkes hin. Daraus wurde inzwischen Feindschaft. Die schlimmsten Befürchtungen des Experten sind eingetreten.
Dieses Buch ist „ein Schrei des Verzweifelten“, schreibt der Osteuropa-Historiker Alexander Rahr in der Einleitung zu seinem 2021 erschienenen Werk mit dem Titel „Anmaßung. Wie Deutschland sein Ansehen bei den Russen verspielt“. Der langjährige Berater der Bundesregierung fleht die Leser in Deutschland und Russland an: „Rettet die deutsch-russischen Beziehungen!“ Seitdem ist die Abschottung zwischen den beiden Ländern nahezu wasserdicht.
Rahr ist in einer russischen Emigrantenfamilie in Westdeutschland aufgewachsen. Er blickt nach eigenen Angaben auf über 300 Reisen nach Russland seit dem Berliner Mauerfall zurück und auf viele Jahre Arbeit im „Petersburger Dialog“, im Deutsch-Russischen Forum, im Russland-Eurasien-Zentrum der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, bei Radio Free Europe und als Berater des größten russischen Unternehmens, Gazprom.
Tiefe Entfremdung
„Der Autor untersucht in sieben Beispielen, was in den Menschen, was in der Politik und Wirtschaft, was bei Verantwortlichen und einfachen Leuten in Russland vorgeht“, schrieb der Moskauer Korrespondent Nikolaj Jolkin von Sputnik News Agency (SNA) im März 2021 nach dem Erscheinen des Buches in Deutschland. „Kurzum: Was und wie denken sie über Deutschland und die Deutschen?“ Der von der Europäischen Union inzwischen verbotene deutschsprachige Ableger SNA des international tätigen Nachrichtenportals Sputnik gehört zusammen mit dem Fernsehkanal Russia Today (RT) zum staatlichen russischen Medienunternehmen Rossija Sewodnja.
Der Politologe Rahr, auch Träger des Bundesverdienstkreuzes und des Freundschaftsordens Russlands, kommt zu dem verheerenden Schluss im Buch: „Deutschland ist für die Russen nicht mehr die Lieblingsnation in Europa.“ Er gibt wieder, was für die Meinungsforscherin Jewgenija (der Autor gibt den Nachnamen nicht an) der klare Grund ist: „Je transatlantischer das deutsche Volk wird, umso tiefer ist die Entfremdung von Russland.“
„Provokant und emotional geschrieben geht es hier um eine Zäsur in den deutsch-russischen Beziehungen“, schrieb Jolkin ein halbes Jahr später, nach der Buchvorstellung der russischen Ausgabe in Moskau.
Westliche Fehler
Rahr hat sein Buch auf Russisch mit dem Titel „Verblendung. Wie Europa Russland verliert“ im November 2021 in Moskau präsentiert. Der Russlandexperte selbst ist keineswegs verblendet. Er ist davon überzeugt, dass „Russland, seitdem Peter der Große vor über 300 Jahren das sogenannte Fenster nach Europa aufschlug, für den Westen ein Fremdkörper geblieben ist“. Der Autor sagte:
„Im Grunde sind Ost- und Westeuropa seit dem Großen Schisma 1054 voneinander getrennt. Der Westen versuchte stets Russland zu zivilisieren. Russland ließ sich vom Westen nicht belehren.“
Das sogenannte Große Kirchenschisma vom Jahre 1054 ist der historische Fixpunkt für die Trennung des Christentums in eine orthodoxe Kirche im Osten und eine katholische Kirche im Westen.
Mischa, der standhafte Patriot mit Wahlheimat Deutschland, benennt im Buch den Fehler:
„Seit der Öffnung Russlands gegenüber Europa vor 300 Jahren gab es in der russischen Elite und Gesellschaft stets einen nicht unbedeutenden Anteil an Liberalen, die eine geistige und politische Verankerung ihres Landes im Westen wünschten und dafür kämpften. Im heutigen Russland liegt dieser Bevölkerungsanteil schätzungsweise bei 15 Prozent. Demgegenüber unterstützen 80 Prozent der russischen Bevölkerung einen politischen Kurs der nationalen Interessen. Der Fehler Deutschlands und des Westens ist stets gewesen, auf die einflussarme pro-westliche Minderheit zu setzen und den Großteil der Bevölkerung und deren Ansichten zu ignorieren.“
Autor Rahr betont die Bedeutung Deutschlands und Russlands für die europäische Stabilität:
„Wenn ihre strategischen Wechselbeziehungen normal sind, wenn sie einander brauchen und was zusammen unternehmen, etwa die Sicherheitsfragen erörtern, dann kann man auch von einer europäischen Stabilität sprechen. Stecken die deutsch-russischen Beziehungen in einer Krise, leidet ganz Europa darunter.“
Verlorene Hoffnungen
Rahr stellte bei der Buchvorstellung in Moskau fest, dass die Bundesrepublik nach dem Mauerfall in der Auffassung der Russen einen besonderen Platz eingenommen habe.
„Es war für sie das beliebteste Land von allen, so seltsam es klingen mag, im Hinblick darauf, dass die Erinnerung an den Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion noch nicht erloschen war. Russen waren bereit, zu dem wiedervereinigten Deutschland pragmatische Beziehungen aufzubauen. Deutsche waren für sie zuverlässige Partner, von denen man vieles lernen konnte. Für die Russen wurde Deutschland sogar zu einer Stütze bei der Anbahnung freundschaftlicher Beziehungen zu ganz Europa.“
Heute leben sechs Millionen russischsprechende Menschen in Deutschland, drei Millionen von ihnen sind als Aussiedler oder jüdische Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion in den letzten 30 Jahren nach Deutschland eingewandert.
Für Menschen aus Russland ist die Bundesrepublik seit Anfang der 1990er Jahre ein beliebtes Reiseziel. Dagegen hätten kaum Bundesbürger Urlaub in Russland gemacht, bedauert im Buch Jewgenija, die Meinungsforscherin.
„Ständiges Gelabere“
„Die völlig unterschiedlichen Sichtweisen auf den Tschetschenien-Krieg waren der Grund dafür, dass die romantische Phase der freundschaftlichen Beziehungen zwischen Russland und Deutschland nach zehn Jahren verflog und sich beide Seiten in immer heftigere Konflikte verwickelten.“
Das stellt der Diplomat Volodja fest. Damit habe Putin den islamistischen Extremismus im Nordkaukasus besiegt. Diesen Extremismus hätten die Deutschen zum Unabhängigkeitskampf deklariert, kritisiert er, und fährt fort:
„Zunächst fragten wir Russen uns allen Ernstes, warum die Deutschen diese Fragen der Menschenrechte und der liberalen Werte so stark in den Vordergrund rücken. Ehrlich gesagt, verstanden wir das nicht. Verfolgten die Deutschen eine verschleiernde Taktik — über Menschenrechte zu reden, um versteckte Interessen zu kaschieren? Hatte das ständige Gelabere über liberale Werte, die Deutschland angeblich besitze und Russland nicht, nur das Ziel, Russland moralisch unter Druck zu setzen, zu isolieren, um Russland im Nachhinein außenpolitische Bedingungen zu diktieren?“
Offene Tür
Laut Rahr hatte die Bundesrepublik Glück mit einem russischen Staatschef, der ein besonderes Verhältnis zu Deutschland entwickelt habe. Als Autor des Buches „Wladimir Putin — Der ,Deutsche‘ im Kreml“ schätzt er ein:
„Putin hat Deutschland nicht nur liebgewonnen, sondern hat sich gern mit ihm befasst. Nach seinem Machtantritt hat er auf Deutschland gesetzt: Einigt man sich mit Deutschland, wird es allen in Europa gut gehen.“
Putin wollte den Aussöhnungsgedanken zwischen Deutschen und Russen auf eine solide Grundlage stellen, erklärt Volodja. So wurde im September 2000 der „Petersburger Dialog“ ins Leben gerufen.
„Wir Russen wollten einen Dialog mit Deutschen auf Augenhöhe führen, und zwar über alle strategisch relevanten Fragen.“
Volodja erinnert:
„Während die russische Seite mit den Deutschen über Sicherheitspolitik, Wirtschaftsprojekte, die Zukunft der christlichen Kirchen, Kulturaustausch, das vorbildliche deutsche Sozialsystem, den deutschen Föderalismus als Modell für Russland und über gemeinsame historische Erfahrungen debattieren wollte, interessierte die deutsche Seite eigentlich nur ein Thema: die Unterstützung der Zivilgesellschaft und der Demokratie in Russland. So geriet der ‚Petersburger Dialog’ im Verlauf der Jahre in eine Schieflage.“
Putin halte bis zuletzt die Tür offen, erzählte Politologe Rahr im November in Moskau. Als er ihn während der jüngsten Sitzung des Diskussionsklubs „Waldai“ nach dem Schicksal des „Petersburger Dialogs“ fragte, habe der russische Präsident geantwortet: „Die Tür steht immer offen. Nur dass einige in Europa, auch in Deutschland, sie schließen wollen.“
Versnobter Blick
Heute ist die Abschottung seitens Deutschlands fast undurchlässig. In seinem Buch bedauert der Autor, dass „im Verständnis zueinander viel kaputtgemacht worden ist“. Er sieht dafür hauptsächlich die Medien verantwortlich:
„Deutsche Medien formieren ihr eigenes Russlandbild. Es erscheinen zahlreiche Bücher von Journalisten, die in Russland tätig waren. Diese geben aber nur die Sicht eines Intellektuellen wieder, der sich nicht einmal vorgenommen hat, Russland zu verstehen und zu erfahren, wie Russland tickt. Dies wirkt sich darauf aus, wie Russland auch von den deutschen Politikern wahrgenommen wird.“
Aus Sicht von Harlampi, eines Künstlers in Berlin-Charlottenburg, befragt von der Coachin Anna, „werden in den russischen Medien deutsche Persönlichkeiten niemals auf solche Weise beleidigt und dämonisiert wie russische Politiker in den deutschen Medien“.
SNA-Korrespondent Jolkin gab den Russlandexperten Rahr im November 2021 wieder:
„Die Russen möchten von den Deutschen manches lernen, es gibt aber Dinge, für die sie nicht zu gewinnen sind. Sie fühlen sich angeekelt von dem Snobismus, den zurzeit die neue Generation der deutschen Politiker an den Tag legt, von ihrer Art, alle zu schulmeistern und zurechtzuweisen, sich stets als moralisch überlegen zu positionieren. Dies kommt sowohl in der großen Politik als auch bei wirtschaftlichen Kontakten vor.“
Das Buch erschließe alle diese Probleme, so Jolkin. Rahr habe noch bei der Buchvorstellung damit gerechnet, dass es zur Berichtigung der deutsch-russischen Beziehungen beitragen wird.
Abgerissene Brücken
Gabriele Krone-Schmalz, ehemalige Moskau-Korrespondentin der ARD, hebt im Vorwort hervor: Es sei von existenzieller Bedeutung anzuerkennen, dass es nicht nur ein deutsches, ein westliches Narrativ dieser Entwicklung gibt, sondern eben auch ein russisches.
„Die angesichts des derzeitigen politischen Personals ohnehin kleine Chance, aus der verfahrenen Situation möglichst bald wieder herauszufinden, wird vollends zunichte, wenn russische Narrative hierzulande von vornherein als unberechtigt, infame Propaganda oder Lügengebäude betrachtet werden. Natürlich muss und sollte man nicht alles glauben — ganz gleich, um welchen Staat es sich handelt —, aber wir sollten zumindest zuhören und auch hören wollen, was unsere russischen Nachbarn uns zu sagen haben.“
Die Wirklichkeit einige Monate nach der Moskauer Buchvorstellung lässt keine Hoffnung darauf, dass in Deutschland „das russische Narrativ“ auf offene Ohren stößt. Rahr will den Leser wachrütteln:
„Russen und Deutsche sind historisch dazu verdammt, sich zu vertragen. Bekanntlich führte eine deutsch-russische Feindschaft zu zwei fürchterlichen Weltkriegen und ließ Europa kollabieren. Das darf nie wieder passieren.“
Die aktuellen Ereignisse scheinen ihm zu widersprechen. Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar werden jegliche Brücken zwischen Deutschland und Russland in fast allen gesellschaftlichen Bereichen abgebrochen.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst im Print-Magazin „ViER.“, Ausgabe 2/2022. Die aktuelle Ausgabe ist seit dem 12. April im gut sortierten Zeitschriftenhandel erhältlich. Online-Informationen zum Magazin gibt es hier.
Alexander Rahr: „Anmaßung — Wie Deutschland sein Ansehen bei den Russen verspielt“, Das Neue Berlin 2021