Die EU-Diktatur
Der Umgang Brüssels mit Viktor Orbán ist ein Paradebeispiel für das Versagen der Politik.
Aufgezwungene Ideale kommen grundsätzlich nicht gut an. Im Fall von Ungarn hätte man wissen können, dass dies erst recht nicht funktioniert. „Die Geschichte wiederholt sich“ und „aus der Geschichte lernt man nicht“ — diese beiden Sätze werden durch die Realität immer wieder bestätigt. Warum? Die gleichen Fehler wiederholen sich: Immer wieder ist zuerst die Empörung und dann das Gejammer groß. Der Umgang Brüssels mit Viktor Orbán ist ein Paradebeispiel dafür.
von Diana Johnston
CNN hat neulich ein Paradox entdeckt. Wie ist es möglich, fragte sich der Sender, dass Viktor Orbán, als vom Westen gefeierter Anführer der liberalen Opposition, 1989 den Abzug der sowjetischen Streikträfte aus Ungarn forderte und sich nun als Ministerpräsident auf eine Kumpanei mit Wladimir Putin einlässt?
Aus dem gleichen Grund, Dummerjan.
Orbán wollte damals, dass sein Land unabhängig ist, und das will er auch jetzt.
Im Jahr 1989 war Ungarn ein Satellitenstaat der Sowjetunion. Egal, was die Ungarn selbst wollten, sie mussten den Vorgaben aus Moskau folgen und der kommunistischen Ideologie die Stange halten.
Werte? Welche Werte?
Heute wird Ungarn befohlen, Vorgaben aus Brüssel zu folgen und der Ideologie der EU die Stange zu halten, die als „unsere gemeinsamen Werte“ bekannt ist.
Aber was genau sind diese „gemeinsamen Werte“?
Vor nicht allzu langer Zeit beschwor der „Westen“, das heißt Amerika und Europa, seine Treue zu den „christlichen Werten“. Diese Werte rührten aus der westlichen Verurteilung der Sowjetunion.
Das ist nicht mehr angesagt. Heute ist einer der Gründe, warum Viktor Orbán als Bedrohung unserer europäischen Werte angesehen wird, tatsächlich sein Verweis auf das ungarische Konzept „des christlichen Charakters Europas, der Rolle von Nationen und Kulturen“. Das Wiederaufleben des Christentums in Ungarn — genauso wie in Russland — wird im Westen äußert misstrauisch beäugt.
Es ist also klar — Christentum ist nicht länger ein „westlicher Wert“. Was aber ist an seine Stelle getreten? Das dürfte klar sein: „Unsere gemeinsamen Werte“ sind heute im Wesentlichen Demokratie und freie Wahlen.
Und wieder dasselbe Spiel. Orbán wurde neulich mit einem erdrutschartigen Sieg wiedergewählt, und der führende Liberale der EU, Guy Verhofstadt, nannte das „einen Wählerauftrag zum Abbau der Demokratie in Ungarn“.
Da Wahlen zum „Abbau der Demokratie führen“ können, können sie nicht die Quintessenz „unserer gemeinsamen Werte“ sein. Menschen können falsch wählen. Das heißt dann “Populismus” und ist schlecht.
Die echten, geltenden gemeinsamen Werte der Europäischen Union sind in ihren Verträgen festgehalten: die vier Freiheiten. Nein, nicht die Meinungsfreiheit, denn in vielen Mitgliedstaaten gelten Gesetze gegen „Hetze im Netz“, die sehr viel abdecken, da sie sehr breit ausgelegt werden können. Nein, die vier verbindlichen Freiheiten der EU sind die des freien Güter-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehrs in der gesamten Union. Offene Grenzen. Das ist die Quintessenz der Europäischen Union, das Dogma des Freien Marktes.
Offene Grenzen über alles
Das Problem mit den offenen Grenzen besteht darin, dass unklar ist, wo sie enden sollen. Oder sie enden eben gar nicht. Als Angela Merkel ankündigte, dass hunderttausende Flüchtlinge in Deutschland willkommen waren, wurde diese Ankündigung von allen möglichen Migranten als Einladung aufgefasst, die nun nach Europa strömten.
Die einseitige deutsche Entscheidung galt automatisch für die gesamte EU mit ihren fehlenden internen Grenzkontrollen. Angesichts des deutschen Einflusses wurden offene Grenzen zu einem wesentlichen „gemeinsamen europäischen Wert“, und die Willkommenskultur gegenüber Migranten zur Quintessenz der Menschenrechte.
Sehr unterschiedliche ideologische und praktische Überlegungen tragen zur Idealisierung des Konzepts der offenen Grenzen bei. Dazu gehören beispielsweise:
- Wirtschaftsliberale behaupten, dass Europa wegen der Überalterung junge Migranten als Arbeitskräfte braucht, um die Renten der pensionierten Arbeiter zu bezahlen.
- Viele jüdische Aktivisten fühlen sich von nationalen Mehrheiten bedroht und fühlen sich in einer aus ethnischen Minderheiten zusammengesetzten Gesellschaft sicherer.
- Etwas diskreter befürworten einige Unternehmer Masseneinwanderung, weil wachsender Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt die Löhne drückt.
- Viele künstlerisch veranlagte Menschen glauben, dass ethnische Vielfalt kreativer und spaßiger ist.
- Einige anarchistische oder trotzkistische Sekten glauben, dass der entwurzelte Migrant das „revolutionäre Subjekt“ ist, nachdem ihnen das westliche Proletariat als solches abhanden gekommen ist.
- Viele Europäer übernehmen die Vorstellung, dass Nationalstaaten der Grund für Kriege sind, und schlussfolgern, dass jedes Mittel zu deren Vernichtung recht ist.
- Internationale Finanzinvestoren wollen naturgemäß alle Hürden für ihre Investitionen beseitigen und werben für offene Grenzen als die Zukunft.
- Es gibt sogar einige mächtige Verschwörer, die „Vielfalt“ als Grundlage des teile-und-herrsche sehen, da dadurch Solidarität nach ethnischer Zugehörigkeit zersplittert wird.
- Es gibt gute Menschen, die allen Menschen in Not helfen wollen.
Gefühl der Bedrohung
Diese unterschiedlichen, ja sich widersprechenden Beweggründe, sind aber auch zusammengenommen in keinem Land mehrheitsfähig. Vor allem nicht in Ungarn.
Man sollte beachten, dass Ungarn ein kleines mitteleuropäisches Land mit weniger als 10 Millionen Einwohnern ist, das nie Kolonialmacht war und daher keine historisch bedingten Beziehungen zu Völkern in Afrika and Asien hat, im Gegensatz zu Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden oder Belgien. Als einer der Verlierer des Ersten Weltkrieges trat Ungarn einen Großteil seines Territoriums an seine Nachbarn ab, vor allem an Rumänien.
Die außergewöhnliche und komplizierte ungarische Sprache würde durch Masseneinwanderung ernsthaft in Bedrängnis geraten. Man kann sicherlich davon ausgehen, dass die Mehrheit der Ungarn tendenziell an ihrer nationalen Identität festhält und glaubt, durch massive Einwanderung aus sehr unterschiedlichen Kulturkreisen würde sie bedroht. Mag sein, dass das nicht sehr nett ist, und wie alles, kann sich das auch ändern. Momentan jedenfalls bestimmt das ihr Wahlverhalten.
Kein Einwanderungsland
Kürzlich haben sie gar deutlich und massiv Viktor Orbán wiedergewählt, und sie unterstützen offensichtlich seine Ablehnung einer unkontrollierten Einwanderung. Das hat die Suche nach sich einschleichenden diktatorischen Zügen seiner Regierung ausgelöst. In Folge dessen unternimmt die EU Schritte, um Ungarn seine politischen Rechte zu entziehen. Am 14. September machte Viktor Orbán seine Haltung in einer Rede vor dem Europäischen Parlament — einem Durchwinkorgan — in Straßburg klar:
„Seien wir ehrlich. Sie wollen Ungarn und seine Menschen verurteilen, die entschieden haben, dass sie kein Einwanderungsland sein wollen. Bei allem Respekt weise ich mit aller Entschiedenheit die Drohungen der pro-Einwanderungskräfte zurück, ihre Erpressungsversuche gegenüber Ungarn und seinem Volk, die alle auf Lügen basieren. Ich möchte Sie mit allem Respekt informieren, dass, was auch immer Sie entscheiden, Ungarn illegale Einwanderung stoppen und seine Grenzen verteidigen wird, wenn nötig, auch gegen Sie.“
Das löste Empörung aus.
Gefahr für die internationale Ordnung
Der frühere belgische Ministerpräsident Guy Verhofstadt, Vorsitzender der Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa im Europäischen Parlament und leidenschaftlicher europäischer Föderalist, antwortete darauf wütend, dass „wir nicht zulassen können, dass rechtspopulistische Regierungen demokratische Staaten Europas in die Einflusssphäre Wladimir Putins ziehen!“
In einem Tweet an seine Kollegen im Europäischen Parlament warnte Verhofstadt: „Wir führen einen existenziellen Kampf um das Überleben des Europäischen Projekts. … Zur Rettung Europas müssen wir ihn aufhalten!“
CNN veröffentlichte zustimmend einen Beitrag von Verhofstadt, der Ungarn als eine „Gefahr für die internationale Ordnung“ beschreibt.
„In den kommenden Wochen und Monaten müssen die internationale Gemeinschaft — und vor allem die Vereinigten Staaten — unsere Warnung beherzigen und handeln: die ungarische Regierung ist eine Gefahr für die auf Regeln basierende internationale Ordnung,“ schrieb er.
„Die europäischen Staaten und die USA haben eine moralische Verpflichtung einzugreifen,“ fuhr Verhofstadt fort. „Wir können nicht dabei zusehen, wie populistische, rechtsgerichtete Regierungen europäische Staaten in die Einflusssphäre Wladimir Putins ziehen und die internationalen Nachkriegsnormen untergraben.“
Dann der Ruf nach Sanktionen: „Regierungen, die einen autoritären Weg einschlagen, müssen politische und finanzielle Kosten auferlegt werden, und zivilgesellschaftliche Organisationen müssen unterstützt werden…“
Zum Schluss meinte Verhofstadt: „Das liegt nicht im Interesse der Völker Amerikas und Europas. Wir müssen ihn stoppen — jetzt.”
Verhofstadts Appell an Amerika, den ungarischen Ministerpräsidenten zu „stoppen“, erinnert sehr stark an den Aufruf kommunistischer Hardliner an Breschnew im Jahr 1968, Panzer in die reformorientierte Tschechoslowakei zu schicken.
Aber dieser Aufruf zu einer Intervention war nicht an Präsident Trump gerichtet, der bei den Transatlatikern genauso in Ungnade gefallen ist wie Orbán, sondern eher an die Kräfte des Tiefen Staates, die nach Überzeugung des Belgiers weiterhin in Washington an der Macht sind.
Am Anfang seines Beitrages bei CNN zollte Verhofstadt dem „verstorbenen, großartigen John McCain, der Orbán einst als einen ‚Faschisten im Bett mit Putin‘ bezeichnete…“, Anerkennung. Jenem John McCain, der als Leiter der republikanischen Abteilung der National Endowment for Democracy (NED) um die Welt reiste und Dissidenten-Gruppen als Teil der Vorbereitungen auf eine US-Intervention finanzierte und diese dazu ermutigte, sich gegen ihre jeweilige Regierung aufzulehnen. Senator McCain, wo sind Sie nur, jetzt, wo wir Sie für einen kleinen Regime-Change in Budapest brauchen?
Soros, Liebling des Westens
Im Westen ist Orbáns Ruf als Diktator zweifelsohne mit seinem intensiven Konflikt mit dem in Ungarn geborenen George Soros verbunden, dessen Open Society Foundation alle Arten von Initiativen finanziert, um seinen Traum von einer Gesellschaft ohne Grenzen zu verwirklichen — vor allem in Osteuropa. Soros‘ Tätigkeiten können als privatisierte US-Außenpolitik angesehen werden, ebenso wie die von McCain, die so unschuldig als „regierungsunabhängig“ daherkommen.
Eine von Soros‘ Initiativen ist die in Budapest ansässige Central European University (CEU), deren Rektor Michael Ignatieff ist, ein Anwalt der Open Society. Vor kurzem wurde in Ungarn eine Steuer von 25 Prozent auf Gelder eingeführt, die Nichtregierungsorganisationen für Programme verwenden, die „direkt oder indirekt Einwanderung fördern wollen“, was die CEU unmittelbar betrifft. Das ist Teil eines jüngst verabschiedeten Pakets von Maßnahmen gegen Einwanderung, die als „Stop Soros“-Gesetz bekannt sind.
Die ungarischen Maßnahmen gegen Soros‘ Einmischung werden im Westen natürlich als eine grobe Verletzung von Menschenrechten angeprangert, während in den Vereinigten Staaten Staatsanwälte fieberhaft nach den geringsten Anzeichen russischer Einmischung oder nach russischen Agenten suchen.
Ein anderer Schlag gegen die auf Regeln basierende internationale Ordnung war die Ankündigung aus der Kanzlei des Ministerpräsidenten, die Regierung werde die Finanzierung von Kursen in Gender Studies an den Universitäten einstellen, und zwar, weil sie „wissenschaftlich nicht begründet werden können“ und zu wenige Studenten anzögen, sodass sie sich nicht lohnten. Wegen der privaten Finanzierung konnte die CEU das eigene Gender Studies-Programm fortsetzen, zeigte sich aber „erstaunt“ und nannte die Maßnahmen „völlig unbegründet und beispiellos“.
Die EU, ein neoliberales Konstrukt
Wie die Sowjetunion ist die Europäische Union nicht nur ein undemokratischer, institutioneller Konstrukt, in dem für ein bestimmtes Wirtschaftssystem geworben wird. Es ist auch das Vehikel einer bestimmten Ideologie und eines planetarischen Projekts. Beide basieren auf einem Dogma, was gut für die Welt ist: im ersten Fall der Kommunismus, im zweiten Fall die „Offenheit“.
Auf unterschiedliche Weise fordern beide von den Völkern Werte ein, die diese möglicherweise gar nicht teilen: erzwungene Gleichheit, erzwungene Großzügigkeit. All das mag schön klingen, aber solche Ideale verkommen zu Mitteln der Manipulation. Aufgezwungene Ideale stoßen bei den Menschen irgendwann auf sture Ablehnung.
Es gibt etwa gleich viele Gründe, für oder gegen Einwanderung zu sein. Die Idee der Demokratie bestand darin, mit Hilfe freier Diskussionen zwischen Idealen abzuwägen und konkrete Interessen auszusortieren und schließlich per Handzeichen zu entscheiden — eine faktenbasierte Abstimmung. Das liberale autoritäre Zentrum, vertreten durch Verhofstadt, versucht den Bürgern seine Werte, Ziele, sogar seine Version der Fakten aufzuzwingen, die als „Populisten“ gebrandmarkt werden, wenn sie widersprechen.
Im Kommunismus wurden Dissidenten als „Volksfeinde“ bezeichnet. Für liberale Globalisten sind sie „Populisten“ — also das Volk. Wenn den Menschen ständig erzählt wird, dass sie die Wahl haben zwischen der Linken, die für Masseneinwanderung eintritt, und der Rechten, die sie ablehnt, ist ein Rechtsruck nicht aufzuhalten.