Die Ernsthaftigkeitsfalle
Die jüngsten Grundrechtsdemonstrationen wirkten auf viele Beobachter „zu heiter“ — zu Unrecht, es wird Zeit, die Lebensfreude ernst zu nehmen.
Im Rahmen der „Woche der Demokratie“ fanden in Berlin am 30. Juli und am 1. August 2022 zwei große Demonstrationen statt, die von den Mehrheitsmeinungsmachern weitestgehend ignoriert wurden. Damit beschränkte sich deren Außenwirkung auf die lokale Präsenz, wo sie in Wohn- und ebenso in Einkaufsstraßen durchaus Beachtung fanden. Auch als Jubiläumsveranstaltung der großen Augustdemonstrationen des Jahres 2020 gedacht, blieben sie bezüglich der Teilnehmerzahl weit hinter diesen zurück, was Teile der Demokratiebewegung scharf kritisierten. Diese übersehen dabei die historische Größe des Kampfes und dass das Gefühl der Machtlosigkeit durch fortgesetzte Entrechtung über die letzten zweieinhalb Jahre auch zu Ermüdungserscheinungen geführt hat. Dagegen war in Berlin eine Freude zu spüren, als die Menschen erkannt haben, wie viele andere ohne merkliche Ermüdung beim Protestieren weiterhin Lebensfreude ausstrahlten. Genau dies kam aber bei einem Teil der meist nur medial Zuschauenden gar nicht gut an.
„Was in Berlin los war, hat nach den ersten Bildern mit Polonaise und dergleichen mein Radar völlig unterflogen“, so eine Widerständlerin. „Ihr wollt vom Mainstream nicht mehr diffamiert werden? Dann hört auf, peinlich zu sein. Das, was ihr da macht, ist nicht anschlussfähig“, so eine andere Stimme.
Diese Art von Kritik kennt man sonst eher von der Gegenseite: Ein paar Szenen werden zusammengeschnitten, um dann in einer spöttisch lächelnden, verhöhnenden Art vor allem eins zu tun: sich über die Demonstrierenden zu erheben. Damit wird man aber weder den Teilnehmenden noch der Veranstaltung gerecht. Denn diese hat ihre wichtigste Aufgabe erfüllt und die Menschen in ihrem Widerstand gegen eine menschenfeindliche Politik be- und gestärkt.
Zudem war der Protest thematisch vielfältig und dennoch rund und zielgerichtet, weil man erkannt hat, dass es zwischen allen Forderungen eine Verbindung gibt: den gesamtgesellschaftlichen Missstand, mit den Machtstrukturen darin und dahinter. Der Wille, daran grundlegend etwas verändern zu wollen, war erkennbar.
Neben den Bannern, Schildern und Sprechchören wurde durch Singen und Tanzen Lebensfreude verbreitet. Man kann durchaus der Ansicht sein, dass die Musik dabei zum Teil Feingefühl und Tiefgang vermissen ließ, wobei es stets im Auge des Betrachters liegt, wie viel er da erkennen will. Kann dies aber ein Grund sein, die ganze Veranstaltung ebenso sehr zu verachten, wie es der Mainstream tut oder tappt man dabei nicht in eine Falle?
Denn den Kritikern der Veranstaltung am ärgsten zuwider ist die Lebensfreude, die, wie oberflächlich auch immer vermittelt und verbreitet, so doch keine bloße Inszenierung, sondern spürbar echt war. Dies verträgt sich so gar nicht mit der Vorstellung vom Politischen — mit ihrer Vorstellung vom Politischen. Dort geht es ja schließlich um die wichtigsten Dinge im menschlichen Zusammenleben, um Dinge die nicht zuletzt auch über Leben und Tod entscheiden, was man doch gar nicht ernst genug nehmen könne.
Entgegnen kann man dieser Einstellung zunächst, dass auch ein noch so ernsthaftes Gebaren den Kampf um eine Sache nicht „anschlussfähiger“ macht, sondern eher die Gefahr birgt, einer Verbitterung anheim zu fallen. Auch ist ein solches Verhalten weder Voraussetzung noch der Garant für einen politischen Erfolg. Zudem ist es die Attitüde beim Aufteilen von Macht und damit Zeichen einer Politik, die die Macht usurpiert, anstatt sich ihr zu widersetzen.
Als 2021 ein Demonstrant am 1. August in einer „polizeilichen Maßnahme“ sein Leben verlor, wurde in der Folgewoche eine Demonstration als Schweigemarsch angemeldet. Diese endete dann aber doch mit einem Lied, dem Lied „Tanz um Dein Leben“ und es wurde getanzt — auch Polonaise. Ich stand bewegt dazwischen — ohne zu tanzen.
Auch hier steht der Vorwurf im Raum, dass man durch solche Bilder das aufgebaute negative Außenbild verstärkt, zeigen sie doch vermeintlich das Fehlen von Empathie. Doch diejenigen irren, wenn sie glauben, nur Bilder produzieren zu können, die nicht in ein schlechtes Licht gerückt werden können. Dabei leisten sie auch noch einer Täter-Opfer-Umkehr Vorschub, indem sie den Menschen, die durch Erzählungen abgewertet werden, selbst die Schuld für ihre Abwertung geben, anstatt den Rahmenerzählern.
Der Vorwurf an die Tanzenden ist auch inhaltlich falsch, weil es eine würdevolle Totenfeier war; nicht zuletzt wegen des lebensfrohen Gemüts des Verstorbenen. Dieser Umgang mit dem Tod ist ein wesentlicher Teil des Reichtums unserer Bewegung. Zunächst verhindert er, dass ein Märtyrerkult betrieben oder wie nach dem Tod von Benno Ohnesorg eine „Bewegung 1. August“ gegründet wird. Vor allem aber ist er eben kein Ausfluss der Oberflächlichkeit, sondern entspringt der Erkenntnis, dass der falsche Umgang mit dem Tod ein ganz zentrales Problem unserer Gesellschaft ist, aus dem nicht zuletzt auch der ganze Coronakult seine Kraft schöpft. Falsch deshalb, weil der Versuch, den Tod aus dem Leben zu verbannen, in einer Dialektik wider Willen dem Leben selbst das Antlitz des Todes verleiht.
Tanzende Comicfiguren haben in einer Politik der Ernsthaftigkeit keinen Platz; dort sind sie „nicht anschlussfähig“. Bei uns führen sie durchs Programm einer Abschlusskundgebung, auf der Reden mit tiefgehenden Analysen ebenso einen Platz haben, wie Musik von Friedensbewegten und auch eine in der Tradition von Joseph Beuys stehende soziale Plastik: die durchgeführte Abstimmung über einen 5-Punkte-Plan.
Auch jener wurde seinerzeit für sein Kunst- und Politikverständnis verlacht. Sollen sie uns verlachen.
Aber während sie sich in ihrer Ernsthaftigkeit lächerlich machen, nehmen wir die Lebensfreude ebenso ernst wie unsere politischen Forderungen.
Unsere Umwälzung wird deshalb eine wesentliche und umfassende sein, weil wir uns den Frohsinn dabei bewahren.
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