Die Erfindung des Bösen

Die Welt als eine Schlacht zwischen Licht und Finsternis zu interpretieren — und sich selbst stets der Seite des Guten zuzurechnen —, ist ein Werkzeug der Macht.

Viele Lügen werden zurzeit aufgedeckt. Was lange im Verborgenen wirkte, kommt ans Licht. Meist wird das Licht als gut bewertet und die Dunkelheit als böse. In einem unerbittlichen Kampf stehen sich helle und dunkle Mächte gegenüber und ringen um den Sieg. Diese Sichtweise befeuert das Spiel der Zerstörung, das seit Jahrtausenden auf der Erde gespielt wird. Stets stehen sich zwei Mächte gegenüber, von denen eine immer die Siegerin und die andere die Verliererin sein muss, so als wäre auf dem Planeten nicht für alle Platz. Die Vorstellung von einem Bösen auf der jeweils anderen Seite sorgt dafür, die Maschinerie der Kriege am Laufen zu halten.

Die Herkunft des Wortes böse ist nicht eindeutig geklärt. Ursprünglich bedeutet es schlecht, schlimm, schädlich, gering, wertlos, schwach, aber auch geschwollen, aufgeblasen (1). Böse — das sind die anderen. Es gibt wohl kaum jemanden, der sich selbst so bezeichnen würde. Auch dann, wenn wir uns schlecht fühlen, so wissen wir doch, dass wir nicht eigentlich schlecht sind, sondern so geworden sind. Wer käme beim Anblick eines Neugeborenen auf die Idee, dass es böse ist?

Wenn wir jemanden als böse bezeichnen, unterscheiden wir nicht zwischen Tat und Täter. Wir brennen dem anderen gewissermaßen das Attribut in die Haut und rechtfertigen damit jede Art von Gewalt gegen ihn. Damit stellen wir uns sozusagen selbst einen Freifahrtschein für seine Bestrafung und Vernichtung aus. Unterdrückung, Ausbeutung, Verfolgung, Ermordung — würde es sie geben, wenn wir uns nicht gegenseitig immer wieder als Unmenschen bezeichnen würden? Der Schritt zum Nichtmenschen ist nicht weit. Etwas ist so schlecht, dass wir es ausmerzen dürfen, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.

Indem wir andere Lebewesen als böse bezeichnen, schließen wir das aus, was uns als Menschen ausmacht: unsere Fähigkeit zum Mitgefühl.

Anstatt das Höchste in uns zu nähren, fördern wir das Niedrigste in uns: Härte, Unnachgiebigkeit, Überheblichkeit, Hochmut, Bereitschaft zur Gewalt. Von den „bösen“ Viren zu den „bösen“ Russen: Jeder Art von Krieg wird so der Weg geebnet.

Stigmatisiert

„Das Böse an sich existiert nicht. Es gibt nur noch nicht transformierte Energie.“ So steht es in „Die Antwort der Engel“ von Gitta Mallasz. Das Buch ist während des Zweiten Weltkrieges als Channeling entstanden. Vier Freunde, drei von ihnen jüdischer Abstammung, trafen sich regelmäßig zum Austausch zu den brennenden Fragen des Lebens, als eine von ihnen plötzlich ausrief: „Passt auf, jetzt spreche nicht mehr ich“ (2).

Von dem, der spricht, kommt die Aussage, dass das, was wir als das Böse bezeichnen, in Wirklichkeit eine Energie ist, die noch nicht in unser Bewusstsein gerückt ist, noch nicht integriert, noch nicht von uns verarbeitet. Als böse bezeichnen wir das, was wir noch nicht kennen, was uns fremd ist, was wir nicht sehen wollen, das, was im Dunkeln verborgen ist. Entsprechend wird die Dunkelheit mit dem Bösen assoziiert und vergessen, dass Dunkelheit auch Schutz bedeutet und die Grundlage für die Entstehung des Lebens ist.

So hat sich bei vielen der Gedanke durchgesetzt, Licht sei gut und Dunkelheit schlecht. Bereits in vorchristlicher Zeit kam in den abendländischen Kulturen die Idee auf, das Licht und die Sonne dem Männlichen zuzuordnen und die Dunkelheit und den Mond dem Weiblichen. Mit dem Monotheismus wurde die Vorstellung verfestigt, der Mann sei das starke Geschlecht und die Frau ihm unterlegen, der Mann gewissermaßen gut und die Frau so schlecht, dass es geradezu zum guten Ton gehört, sie zu bevormunden und zu unterdrücken.

Dämonisiert

Mit dieser Vorstellung nahm die Geschichte unserer Zivilisation einen fatalen Anfang. Die, die als unser aller Urmutter gilt, hatte selbst keine Mutter. Eva wurde auf künstlichem Wege aus einer Rippe des Mannes erschaffen. Nachdem bereits Lilith, die Vorgängerin Evas, aufgrund ihres Ungehorsams aus dem Paradies verbannt und dämonisiert worden war, galt nun Eva als Verführerin zum Bösen. Sie war es, die Adam die verbotene Frucht gereicht hatte und mit der Schlange im Bunde stand (3).

Seitdem muss die Frau für ihre Tat bezahlen. Lange wurde sie wie eine Sklavin gehalten und rechtlich dem Vieh gleichgestellt. Jahrhundertelang wurden Frauen als Hexen bezeichnet und auf Scheiterhaufen verbrannt. Mit ihrer Erniedrigung und Dämonisierung wurde auch die Natur zunehmend als böse wahrgenommen. Böse Frauen, böse Wilde, böse Wölfe, böse Mikroben: Was sich das Patriarchat zu unterwerfen suchte, wurde zunächst als böse bezeichnet.

Bis heute zerlegt die aus der Inquisition hervorgegangene Wissenschaft das große und das kleine Leben in seine Einzelteile, um es zu dominieren und, wenn entsprechend Profit erwartet wird, zu zerstören.

Auch der Tod wird mit dem Bösen gleichgesetzt. Er gehört gewissermaßen nicht mehr zum Leben dazu, zu den ursprünglichen Zyklen des Werdens und Vergehens, die wir einmal geehrt und gefeiert haben. Krankheiten werden wie Feinde bekämpft. Krebszellen gelten als bösartige, hinterhältige Monster, gegen die mit schärfster Munition geschossen werden muss.

Selbst gemacht

An allen Fronten wird Angst geschürt, so lange, bis wir uns alles gefallen lassen und uns selbst zu Versuchskaninchen degradieren. Der Urwald, die Dunkelheit, die Frau, die wilden Tiere, Krankheit und Tod — unzählige Monster hat die Angst davor erschaffen. Ihre Namen sind Legion: Lilith, Satan, Luzifer, Ahriman und all die Namen, die die Generatoren der künstlichen Intelligenz heute produzieren, um uns immer tiefer in die Zersplitterung zu treiben.

So wie kein Fernsehsender ohne Mord und Totschlag auskommt, kommt kaum eine Erzählung ohne einen Bösewicht aus, der uns gleichzeitig das Fürchten lehrt und uns aufwertet. Denn wir sind die Guten in der Geschichte. Wir sind tolerant. Wir sind solidarisch. Wir sind woke. Wir sind aufgewacht. Wir haben den Durchblick. Wir sind die Retter. Wir können andere belehren und, je nachdem, mit Waffen oder mit Liebe beschießen.

Während wir uns selbst ins rechte Licht rücken, wird in einer sich immer stärker spaltenden Welt das, was anders ist als wir, immer weiter in den Schatten gedrängt.

Immer heftiger tobt der Krieg gegen das Böse. Immer aufgeblasener wird das Ego, das Bild, das wir von uns selbst haben und nach außen projizieren. Schaut her, wie gut ich bin! Das Ego braucht das Böse, denn es lebt von der Trennung. Es kennt die Verbindung nicht, die Einheit, die Gemeinschaft und Kooperation. In seinem Bestreben, uns aufzuwerten, erfindet es immer neue Bösewichte, an denen es sich abarbeiten und beweisen kann, wie wichtig es ist.

Herausforderung

Es mag Kräfte im Universum geben, die wirklich gefährlich sein können, verborgene Mächte, die große Zerstörung herbeiführen können. Ohne Zweifel existieren sie, die Bestrebungen, sich das Lebendige untertan zu machen und das Natürliche durch das Künstliche zu ersetzen. Es gibt sie, die Zauberlehrlinge, die mit dem Leben spielen, die Profiteure, die nur daran denken, ihre eigene Macht zu vergrößern. Doch diese Kräfte als böse zu bezeichnen, ist eine Erfindung des Egos, des bindungslosen Teils in uns, der uns hart und selbstgerecht macht.

Denn diese Kräfte tun vor allem eins: Sie fordern uns heraus. Und? Wie verhältst du dich jetzt? Lässt du dich verführen? Bleibst du in deiner Mitte? Sie versuchen, uns aus der Balance zu schubsen, und bringen sozusagen die Schaukel der Evolution in Schwung. Doch auch sie sind, wie alles, ein Teil der Einheit, des großen Ganzen, aus dem nichts herausfallen kann. Alles liegt in Gottes Hand. Auch das, was wir als böse bezeichnen. Mag es sich von der Quelle abwenden, mag es Wege gehen, die dem Ganzen schaden, doch es gehört dazu.

Der allumfassenden Kraft, die alles umfängt, steht kein Widersacher entgegen. Wäre sie sonst allumfassend? Wäre die Liebe dieser Kraft sonst bedingungslos, wenn sie einen Teil nicht integrieren würde? Wo wären die Grenzen? Was dürfte ein Mensch tun, um noch „drinnen“ zu bleiben? Wir sind es, die Gott in einen Erbsenzähler verwandelt haben, einen Weltraumgendarmen, der die Bösen bestraft und die Guten belohnt. Denn wir haben einen Gott ohne Göttin erfunden, der alles aus dem Gleichgewicht gebracht hat.

Verdreht

Wir haben dafür gesorgt, dass sich die Pole verschoben haben. Wir haben aus einer Welt, in der sich die Gegensätze ergänzten und gegenseitig befruchteten, eine sterile Welt gemacht, in der Frieden mit Krieg und Liebe mit Gewalt herbeigeführt werden soll. Wir haben uns verführen lassen, in die Irre leiten, in den Wahnsinn treiben. Wir haben viele Fehler gemacht. Nicht, weil wir böse sind, sondern weil wir uns haben täuschen lassen.

Wir sind der Illusion der Trennung anheimgefallen. Wir haben die große Mutter verraten, die alle ihre Kinder liebt. Die Frau haben wir dem Manne untertan gemacht, die Natur zu einer Bedrohung und die Erde zu einer Ressource.

Die Schlange, ursprünglich als Weltenschöpferin verehrt, haben wir zur Inkarnation des Bösen gemacht und den Apfel, Symbol des Lebens, zu einem Zeichen der Sünde. Einen alleinigen Vatergott haben wir ins Firmament erhoben, der die patriarchalen Machtstrukturen von oben absichert.

Die Glaubenskriege, die Eroberungen, die globale Zerstörung — das alles ist ebenso menschengemacht wie die Bezeichnung derer als böse, die das Funktionieren der patriarchalen Machtpyramiden stören. Wir haben es uns leicht gemacht. Was wir in uns nicht haben wollten, haben wir auf andere projiziert. Sündenböcke haben wir zur Schlachtbank geführt und gejubelt, wenn das Beil fiel. Missioniert haben wir, um andere von unserem irren Glauben zu überzeugen. Unsere Wissenschaft haben wir in die Schlacht geführt und in den Dienst der Politik gestellt.

Die allumfassende, liebende Kraft haben wir mit Füßen getreten. Angst und Mangel haben wir erzeugt, um einander zu erniedrigen und gefügig zu machen. Wir sind zu Verbrechern geworden, zu Dieben, Mördern, Lügnern, Vergewaltigern, Kinderschändern, Tyrannen. Hartherzig sind wir geworden gegenüber all dem Leid, was wir verursacht haben. Wir halten es für normal, dass es Kriege gibt, und glauben, es sei vernünftig zu denken, der Mensch solle am besten so schnell wie möglich wieder von der Erde verschwinden.

Die Schleier fallen

Wir sind verrückt geworden. Wir haben uns komplett aus dem Gleichgewicht bringen lassen und sind aus unserer Mitte herausgefallen. Doch böse sind wir nicht, so wie keine Krebszelle bösartig ist. Wir sind krank. Sehr krank. Weit über die Hälfte der Menschen in Deutschland litt bereits im Jahr 2020 an mindestens einer chronischen Erkrankung (4). Die Selbstmordrate steigt. Wir haben uns komplett geirrt. Das anzuerkennen, ist die Herausforderung, vor der wir jetzt stehen. Je mehr wir uns weigern, umso mehr werden die Ereignisse hochkochen, um es uns zu zeigen.

Doch keine Teufel werden vor uns tanzen, keine Hölle wird sich auftun als die, die wir selber immer wieder erschaffen. Wir werden das vor Augen geführt bekommen, was wir bisher nicht sehen wollten. Das ist unsere Apokalypse: unsere Weigerung hinzuschauen. Die Dämonen sind nichts weiter als die Illusionen, die wir ins Leben gerufen haben, die Lügen, Verdrehungen und Verzerrungen, die die Wahrheit verbergen.

Hinter den Schleiern, die jetzt fallen, steht niemand, um uns zu bestrafen, niemand, der Rache an uns nehmen will. Der Schmerz, den wir empfinden, rührt von unserem eigenen Widerstand, die Wahrheit anzuerkennen: Alles ist eins. Alles ist Liebe.

Das Paradies ist nicht irgendein ferner Ort auf einem anderen Stern. Es liegt direkt hier vor unseren Augen. Jeden Tag wird es uns von unserer Mutter Erde geschenkt. Jeden Tag zertrampeln wir es aufs Neue.

Wenn wir uns dafür öffnen, dann kommen wir hinein. Wer um Einlass bittet, dem wird aufgetan. Jeder, der es wünscht, wird von der Einheit warm umfangen. Hierfür müssen wir uns nicht anstrengen. Wir müssen nichts beweisen und nichts rechtfertigen. Wir müssen nicht den Retter für andere spielen und versuchen, für Gerechtigkeit zu sorgen. Alles, was wir zu tun haben ist, das, was wir als das Böse bezeichnen, zu integrieren und in uns zu transformieren.

Integriert

Akzeptieren wir, dass wir auch das sein können, was wir nicht sein wollen. Jeder von uns kann aggressiv sein, ungerecht, egoistisch, kleinlich, hochmütig, eitel, ungeduldig, unachtsam, berechnend, kontrollierend, eifersüchtig, neidisch, maßlos, unehrlich, hart. Wer glaubt, diese Eigenschaften nicht auch in sich zu tragen, der projiziert sie auf andere und schafft damit ein Ungleichgewicht, das viel Unheil anrichten kann.

Wer seine Lilith nicht integriert, die abgewiesene ungebändigte Kraft, die in jedem von uns pulsiert, so der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz, trägt dazu bei, dass es immer mehr Gewalt in der Welt gibt, immer mehr Unrecht, immer mehr Kriege, immer mehr Zerstörung (5). Erst wir das in uns annehmen, was wir nicht sein wollen, finden wir in ein Gleichgewicht, aus dem heraus wir schöpferisch tätig werden können.

Wenn die Welt heute so wenig dem gleicht, was fast alle von uns wollen, dann liegt es auch daran, dass so viele von uns noch abweisend und ausschließend wirken und das Verbindende nicht fördern. Scheinheiligkeit ist nicht schöpferisch. Die Voraussetzung dafür, die uns angeborene Schöpferkraft freizulegen, ist Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Transparenz. Nicht als Besserwisser stehen wir da, die anderen eine Lektion erteilen, sondern so, wie wir wirklich sind.

Keine Spielchen, kein Sich-in-Szene-setzen, kein Theater, sondern Echtheit. Das ist jetzt gefragt. Denn nur, wenn wir uns nicht mehr verstecken, werden wir frei. Schöpferkraft braucht Freiheit — die Freiheit, anzuerkennen, dass wir das eine und das andere sind. Ein Mensch, der seine Dämonen integriert hat, weiß, dass er gemein sein kann. Nur mit diesem Wissen hat er die Wahl, es nicht zu sein. Nur so kann er das Werkzeug nutzen, das ihm von Anfang an mitgegeben wurde: seinen freien Willen.

Frei

Der freie Wille, aus dem heraus sich die Schöpferkraft ergibt, braucht keine Dressur, sondern die Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten: Ich kann jetzt einem anderen Lebewesen Schaden zufügen. Doch ich entscheide mich dafür, es nicht zu tun. Diese Freiheit erlangen wir nur, wenn wir uns erlauben, auch das zu sein, was uns nicht schmeichelt. Nur so nähren wir die Liebe, die allumfassende Kraft, die alles zusammenhält. Sie kann nur in Freiheit gedeihen und nicht mit Unterdrückung, Manipulation und missionarischem Eifer.

Freiheit und Liebe — diese beiden gehören untrennbar zusammen. Kontrolle hat hier nichts zu suchen. Hier gibt es keine Garantien, keine Sicherheit außer der, dass wir auch dann dazugehören, wenn wir ganz tief fallen und uns von der Quelle abgewendet haben.

Wir sind deshalb nicht böse. Wir haben bestimmte Erfahrungen machen wollen. Wir wollten etwas ausprobieren. Es gehört zum Menschsein dazu, herumzuexperimentieren. Doch manchmal geht es schief und wir setzen das Labor in Brand. Dann bleibt uns einzusehen, dass wir Fehler gemacht haben. Fehler kann man korrigieren.