Die Eliten und wir
Wenn wir „die Eliten“ kritisieren, meinen wir dann womöglich auch uns?
Was wir in uns selbst am stärksten ablehnen, sehen wir am deutlichsten in anderen Menschen. Es ist ein Blick in den Spiegel; den unseres Selbst. Eliten zum Beispiel, als gesellschaftliche Gruppe an der Spitze von machtbasierten Gesellschaften haben „weiter unten“ einen äußerst negativ wahrgenommenen Beigeschmack. Nur ist Elitendenken nicht auf „die da oben“ beschränkt. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen und es hat eine solide Basis.
Zu Beginn ist mir die Herausstellung eines Unterschiedes wichtig, dem zwischen Elitendenken und systemischem Denken.
Das große Ganze zu betrachten, ist keinesfalls elitäres Gehabe. Es ist der sehr notwendige Blick von außen auf komplexe Strukturen und Prozesse. Durch Abstraktion werden mittels Betrachtung aus unterschiedlichen Perspektiven verschiedene Modelle erstellt und damit Teilaspekte von Systemen beschrieben. Ein Beispiel dafür ist die Beschreibung von Gesellschaften aus der Sicht von Klassen. Systemisches Denken hilft auf allen Ebenen, gute Entscheidungen zu treffen. So wie es uns auch die Kompliziertheit dieser Welt vor Augen führt.
Das systemische Denken beinhaltet den Blick auf die Vergangenheit des Systems. Es versucht, so weit wie möglich umfassend zu sein. Systemisches Denken ist Denken über den Tellerrand hinaus und hilft so, auch empathisch geprägte Entscheidungen zu fällen. Denn es schließt auch menschliche Schicksale außerhalb des Alltagshorizonts in seine Betrachtungen ein.
Systemisch zu denken ist ein Lernprozess. Die Herausforderung besteht darin, die Vielfalt eines Systems zu begreifen und sich nicht nur auf einen Aspekt zu versteifen, der uns dann nämlich zu einem Tunnelblick verführt. So sind Klassen nur EIN Aspekt, EINE Art von Betrachtung, mit der man Gesellschaften und deren Prozesse untersuchen kann. Aber natürlich ist das ein stark reduziertes Bild von Gesellschaften. Tunnelblicke blenden das Ganzheitliche aus. Was zur Separierung eines bestimmten Aspekts sinnvoll ist, wird als dann dominierende resultierende Handlungsanweisung für das ganze System zu fatalen Folgen führen.
Systemisch zu denken, hilft uns bei der Formung unseres ganz persönlichen einzigartigen Weltbildes. Es ermöglicht uns ein wahrhaft selbst verantwortetes Leben – mehr noch dessen Vorleben. So ist unsere individuelle Herangehensweise, sowohl der systemischen Betrachtung als auch der resultierenden praktischen Umsetzung, ein lebendiges Angebot für unsere Mitmenschen.
Modelle sind nicht die Realität sondern die Annäherung an einen Teil derselben. Sie sind Abstraktionen, sehr, sehr große Vereinfachungen, die helfen, Systeme zu beschreiben.
Gesellschaftssysteme sind allerdings dermaßen komplex und dynamisch, dass ihre versuchte Änderung auf Basis von Modellen regelmäßig in das Desaster führt. Genau wenn das passiert, sind sie wieder am Werk, diejenigen die sich als außergewöhnlich wissend, als einzigartig sehend, als Eliten begreifen. Das Gottgleiche meinen Eliten – unterbewusst – in sich zu haben.
Das Elitäre macht sich fest: Einerseits an der Stellung, die man für sich selbst im (hierarchisch wahrgenommenen) System sieht; andererseits an der Dominanz des eigenen Denkens und Tuns gegenüber anderen Akteuren. Das ist schlichtes Machtdenken und es ist in uns allen vorhanden. Wir sind empfänglich dafür, es ist Teil unserer Natur.
Unsere Natur hat uns jedoch etwas sehr Schönes mitgegeben: Empathie. Diese Empathie beginnt bei der Selbstempathie, bei der Reflexion des eigenen Denkens und Verhaltens. Das ist eine keineswegs triviale Auseinandersetzung mit den eigenen Emotionen, die uns aber die Gabe schenkt, mit den Emotionen Anderer konstruktiv umzugehen.
Um das zu entwickeln, benötigen wir einerseits Erfahrungen, aus denen wir – auch emotional – lernen durften. Außerdem muss unser Ego es überhaupt zulassen, seine Muster ändern zu dürfen, ohne dabei sich selbst angegriffen zu fühlen. Verletzte Egos bauen einen Schutzpanzer um sich auf und lenken das eigene – durchaus auch selbst subjektiv wahrgenommene – Fehlverhalten nach außen. Das ist ein echtes Problem der Gesellschaften und vielleicht die Ursache für das grassierende Elitendenken?
Weiter oben sprach ich von Modellen. Sowohl elitäres – als auch nichtelitäres Denken nutzt Modelle.
Nichtelitäres Denken beherrscht systemisches Denken in der weiter oben beschriebenen Form. Die Ergebnisse sind offen. Die Modelle dienen als Hilfe zur prozess-, objekt- und aspektorientierten Beschreibung des Systems. Doch bilden die Modelle keinen Generalplan, keinen Algorithmus ab, der verbindlich umzusetzen ist. In einem solchen Denken ist man skeptisch, flexibel, undogmatisch.
Nichtelitäres Denken setzt jedoch voraus, dass man sich dessen bewusst ist, mehr oder weniger die Veranlagungen für das Elitäre in sich zu tragen. Dafür ist die oben angesprochene Empathie zwingend notwendig.
Das Gefühl einer Elite anzugehören hat etwas mit der Sehnsucht nach Wertschätzung zu tun. Wir brauchen Kollektive, um überleben zu können; jeder von uns. Und dabei ist es unerheblich, ob wir pathologisch sind oder nicht. Den Hang zum Psychopathischen (a1) tragen wir allesamt in uns und wir leben das auch.
Wir wollen wahrgenommen werden. Mehr noch möchten wir geliebt werden. Anerkennung über die Maßen streichelt unser Ego. Deshalb sind wir für Eliten empfänglich. Das Eintreten in eine Elite erfolgt in einer schrittweisen Vereinnahmung. Der Prozess hat etwas Rituelles an sich, der Neuling fühlt sich auserwählt, erhoben, gewürdigt. Nicht jeder wird in diesen Kreis aufgenommen, so empfindet er. Man hat sich in offenbar besonderer Weise diese neue, gehobene gesellschaftliche Stellung verdient.
Die neue Position fördert einerseits die Arroganz des Erhobenen. Doch legt sie ihm in einer auf Schuld basierten Gesellschaft auch Verpflichtungen auf. Es gibt ein verbindliches Dogma und Machtstrukturen. Die Macht wird subtil ausgeübt. Für eine große gemeinsame Sache müssen nun alle verschworen an einem Strang ziehen und auch Entscheidungen wider den eigenen ethischen Anspruch treffen. Das ist es, warum Psychopathen handlungsfähig sind. Sie schaffen sich einen Zirkel von Menschen, die sie über ihre menschlichen Eigenarten wie Opportunismus, Gier und Selbstsucht eingefangen haben und in Abhängigkeit brachten.
Letztgenannte Eigenschaften sind nicht einer bestimmten Bevölkerungsgruppe exklusiv vorbehalten, sie sind uns allen immanent. Doch glauben die meisten Menschen, diesbezüglich „rein“ zu sein. Sie überschätzen sich und sind deshalb gerade auf der psychologischen Ebene gut angreifbar. Die Selbsterkenntnis voller Schwächen zu sein, ohne sich dabei klein und minderwertig zu betrachten, ist eine der großen Herausforderungen, der wir Menschen uns stellen dürfen.
Wenn elitäres Denken eine Affinität unseres Wesens für Macht beschreibt, warum wird dann eigentlich das Treiben der Eliten „da oben“ so negativ wahrgenommen? Sind die Menschen dort besonders charakterlos, skrupellos, bestechlich und kriegslüstern? Hört man auf „die Stimme des Volkes“, ist man geneigt, an so etwas zu glauben.
Es sind jedoch unsere Erwartungshaltungen, an denen Eliten scheitern, wie sie auch an den eigenen Erwartungshaltungen scheitern müssen. Dafür schelten wir sie – und waschen uns so rein. Gesellschaften mittels Eliten zu steuern, scheint mir ein Problem an sich zu sein.
Allerdings möchten ja die meisten Menschen Eliten über sich, damit DIE sich um die Probleme der Gesellschaft kümmern mögen. Die Überhebung der Mächtigen wird getragen durch die ganz und gar nicht Ohnmächtigen. Das Ignorieren, das versuchte Abschieben der eigenen Verantwortung installiert automatisch Macht, weil es ja auch dankbar von den sich Überhebenden angenommen wird.
Machtausübung impliziert – so meine Sicht – einen Hang zum Größenwahnsinn. Einzelne oder Gruppen von Menschen glauben ernsthaft und in guter Absicht, komplexe Gesellschaften steuern zu können. Und die Masse der Menschen glaubt genauso ernsthaft, dass es ein realistischer Anspruch ist, „gute Eliten“ einfordern zu können. Sie meinen, „Versager“ müssten ersetzt werden durch „gute“ Machtmenschen.
Offensichtlich verliefen die letzten Jahrtausende menschlicher Zivilisation so, dass sich die Gesellschaftssysteme vorrangig auf der Basis psychologischer Muster organisierten. Diese psychologischen Merkmale der Spezies Mensch erlaubten ihm zwar geradezu atemberaubende technische Entwicklungen. Bei all dieser Technisierung scheint es mir aber so, dass durch seine Affinität zur Einordnung in Machthierarchien die Hülle Mensch so dünn ist, wie sie es bereits vor tausenden von Jahren war.
Denn die große Kunst der Reflexion, der positiv-kritischen Betrachtung des eigenen Denkens und Handelns, sie gibt es zwar und wir leben sie auch. Doch sind wir trotzdem viel näher dran an den Verhaltensmustern unserer tierischen Vorfahren. Ist Reflexion zu anstrengend?
Diese Frage stellt sich mir ernsthaft. Empathie ist genug in uns und wir leben sie ganz natürlich. Unsere natürliche Empathie wird, weil sie so zuverlässig auf Trigger anspricht, andererseits auch unentwegt missbraucht. Sie wird missbraucht durch Menschen, deren Empathie wiederum missbraucht wird. Eine ellenlange Kette, die möglicherweise an Menschen endet, die ohne Empathie sind und so die Empathie anderer skrupellos für ihren Egoismus nutzen.
Solch empathielose Menschen sind sehr sicher Teil von Eliten. Sie organisieren die Eliten, führen sie und sind – wie eine Spinne im Netz – unentwegt dabei, die Kontrolle über ihre Opfer zu erhalten. Ihre Opfer – Objekte ihrer Selbstverwirklichung – sind all Jene, die das Wesen des Empathielosen nicht erfasst haben, die in der Elitenschicht (auf welcher Ebene auch immer) und die, welche glauben, Führung durch Eliten zu benötigen.
Machen wir uns es nicht zu einfach und orten Eliten mitsamt ihren Denkmustern nicht nur an der Spitze der Gesellschaften. In unterschiedlich ausgeprägter Form finden wir das Phänomen in allen Schichten. Wir finden es besonders ausgeprägt unter anderem in der gesellschaftlichen Opposition, welche die politische Führung angreift und den eigenen alternativlosen Weg versucht, mit allen realistisch erscheinenden Mitteln durchzusetzen. In der Regel sind das Machtmittel. Neue „bessere“ Eliten versuchen die etablierten Eliten zu entmachten, um ihrerseits einen – selbstredend guten – Generalplan umzusetzen.
So wie die etablierten Eliten ihren Gegnern moralische Verkommenheit unterstellen, tun das die an die Macht strebenden Eliten ebenfalls. Im Machtkampf nutzen beide – aus der eigenen Sicht mit ethischer Legitimation – die Bevölkerung (die Nichteliten) als Manövriermasse.
So werden die Nichteliten angehalten, die jeweiligen Eliten zu tragen. Statt selbst aktiv, vor allem geistig aktiv zu werden, schließen sie sich einer neuen attraktiven Ideologie an, welche die Beseitigung des Unrechts auf dieser Welt verspricht.
Eliten vereinnahmen. Sie nehmen für sich in Anspruch, im Namen der Masse sprechen zu dürfen. Das kann man auch als eine Art Entmündigung verstehen. Eine Entmündigung, die die Menschen allerdings auch akzeptieren. Ja, vielleicht sogar von ihnen gewünscht wird? Wo möchten Sie stehen: bei den Eliten, den von Eliten Geführten oder bei keinen von Beiden?
Ja, das ist die Frage: Wo glauben Sie, ihren Platz im Elitensystem zu sehen?
Oder geht es gar ohne Eliten?
Wo und wann benötigen wir Eliten? Benötigen wir sie überhaupt? Meine Antwort darauf enthalte ich Ihnen vor.
Bleiben Sie bitte schön aufmerksam.