Die Einheit des Lebens
Wir müssen erkennen, wie subtil und zugleich brutal das System uns formt — und aus dem Spiel aussteigen. Exklusivabdruck aus „Reise in die Freiheit“.
Wenn ein Mensch zwei Jahre ohne Geld durch die Wildnis Frankreichs und Spaniens wandert und sich überwiegend von Früchten, Nüssen und Kräutern ernährt, erlebt er nicht nur viele Abenteuer und Entbehrungen, sondern erfährt eine tiefe innere Transformation, die ihn letztlich zu einem erfüllten Leben führt. Matthias Langwasser tat genau dies und schildert seine Erkenntnisse in seinem neuesten Bestseller, der eine Inspiration für alle ist, die sich nach einem freien, ungebundenen Leben sehnen. Er zeigt, wie eng unser persönliches Leben und Empfinden in die Politik und das System verstrickt sind, in dem wir leben, und wie wir uns aus seinen Fängen befreien können.
Ich wandere durch die Alpes-Maritimes. Es ist ein heißer Tag, keine Wolke ist am hellblauen Himmel zu erkennen, die Sonne brennt unbarmherzig. Hier oben in den Bergen ist fast kein Grün mehr zu sehen, das Gras ist verbrannt, und nur zähe Pflanzen, die wenig Wasser brauchen, können überleben. Von weitem habe ich einen hohen Gipfel gesehen, den ich erreichen möchte, um die Aussicht über das Gebirgsmassiv zu genießen. Mein Pfad endet abrupt vor einer steilen, etwa zehn Meter hohen Felswand. Ich lasse erschöpft meinen Rucksack auf den Waldboden fallen, um zu erkunden, wie ich weiterkommen kann. Nirgendwo finde ich jedoch einen Pfad zur Bergspitze.
Was mache ich jetzt? Seit Stunden bin ich immer bergauf gewandert, nur um jetzt herauszufinden, dass es offenbar der falsche Weg war. In mir sehe ich den Gipfel ganz deutlich vor mir. Soll ich wieder umkehren und den ganzen Weg zurücklaufen? Diese Vorstellung gefällt mir ganz und gar nicht. Ein weiterer Gedanke kommt mir in den Sinn: Ich könnte an der Felswand ohne Rucksack hochklettern. Allerdings habe ich keine Kletterhilfen dabei. Was wäre, wenn ich abstürzen würde? Das ist mir allerdings noch nie passiert, deswegen schenke ich diesem Gedanken keine weitere Beachtung. „Wer nichts wagt, der nicht gewinnt“, denke ich und mache mich daran, die fast senkrechte Felswand zu erklimmen. Meine Sandalen ziehe ich aus, damit meine Füße besseren Halt finden.
Ich freue mich über ein kleines Abenteuer und fühle mich wie ein echter Bergsteiger, der dabei ist, den Mount Everest zu besiegen. Stück für Stück arbeite ich mich vorwärts. Jeden Felsvorsprung muss ich erst testen, ob er auch stabil ist, bevor ich meinen Körper daran hänge. Auch meine Zehen krallen sich an jedem vorstehenden Stein fest, während sich zuerst eine Hand einen neuen Halt sucht, um einen anderen Fuß nachzuziehen. So arbeite ich mich mühsam nach oben. Manchmal hänge ich eine gefühlte Ewigkeit in einer Position fest, während ich fieberhaft überlege, welchen Zug ich als nächstes wage. Eine einzige falsche Bewegung kann dazu führen, dass ich abstürze. Niemand würde mich hier finden — ich versuche, diesen Gedanken nicht weiter zuzulassen. Ich vermeide auch, in die Tiefe zu schauen, um keine Angst zu bekommen.
Mittlerweile bin ich klatschnass geschwitzt. Etwa in der Mitte der Felswand sehe ich keine Möglichkeit mehr, weiter nach oben zu kommen. Inzwischen verfluche ich meine Schnapsidee und meine Leichtsinnigkeit. Warum musste ich so eine gefährliche Aktion starten, obwohl ich noch nicht mal schwindelfrei bin? Manchmal wird mir meine Dickköpfigkeit zum Verhängnis ... Ich lasse diesen Gedanken sofort los, da ich gut fünf Meter über dem Waldboden meine vollständige Konzentration dafür brauche, zu überleben. In meiner Verzweiflung bitte ich Gott darum, mir die nächsten Schritte zu zeigen.
Über mir entdecke ich auf einmal einen schmalen Spalt, der mir vorher nicht aufgefallen war. „Mein Gebet wurde erhört“, denke ich und strecke vorsichtig meine rechte Hand in seine Richtung. Plötzlich rutscht mein linker Fuß von der Felswand ab. Im gleichen Moment greife ich in den Spalt und kann so gerade noch verhindern, dass ich hinunterfalle. Ein großer Schock durchfährt meinen ganzen Körper. Mittlerweile bluten meine Hände und Füße. Aus dem Abenteuer ist ein Alptraum geworden. Alles tut mir weh, mein Rücken ist verkrampft. Ich bin im Überlebensmodus. Ich fühle, dass ich in dieser Situation meinen Körperinstinkten die Kontrolle überlassen muss. Während ich verzweifelt versuche, einen Weg nach oben zu finden, bemühe ich mich, nicht in Panik zu verfallen.
Ich kann diese Position nicht mehr länger halten, weil meine Arme beginnen, schwächer zu werden. Jetzt brauche ich wirklich ein Wunder. Meine einzige Chance ist, so schnell wie möglich nach oben zu kommen, da mich meine Kräfte langsam verlassen. Ich schwinge mich hoch, um einen Busch zu ergreifen, der in der Wand wächst. Sofort wird mir klar, dass es ein Dornenbusch ist, in dessen Ast meine Hand fest hineingegriffen hat. Der Schmerz geht mir durch Mark und Bein, ich darf aber auf keinen Fall wieder loslassen. So beiße ich meine Zähne zusammen und versuche, mich weiter Stück für Stück nach oben zu bringen.
Ich bete die ganze Zeit im Stillen: „Bitte, Gott, hilf mir!“ Während meine Füße Halt suchen, sehe ich etwa zwei Meter über mir Grassoden, an deren Unterseite sich Erde befindet. Es ist das Ende der Felswand! Ein Adrenalinstoß durchfährt meinen Körper. Mit einem letzten Energieschub gelingt es mir, auch noch die letzten Meter zu überwinden und mich über die Grassoden auf den Erdboden zu ziehen. Dort bleibe ich bewegungslos und schwer atmend auf dem Rücken liegen. Alles dreht sich um mich. Erschöpft und dankbar fühle ich das Laub unter meinem schmerzenden Körper. Ich habe es geschafft und überlebt! Ich danke Gott und allen meinen Schutzengeln für ihre Hilfe, denn ohne sie hätte ich dieses Abenteuer sicherlich nicht überstanden.
Nach einer langen Weile setze ich mich auf und sehe mich um. Vor mir liegt tatsächlich der Gipfel, der aus aufeinandergetürmten Felsbrocken besteht und zum Glück deutlich leichter zu erklettern ist. Es sind nur noch ungefähr 50 Meter, die vor mir liegen. Ich versuche, die Dornen aus meinen Händen und Füßen zu entfernen, was weiteres Bluten nach sich zieht. Dennoch überwiegt meine Erleichterung, noch einmal davongekommen zu sein.
Auf allen Vieren klettere ich in Windeseile den Gipfel nach ganz oben. Es bietet sich mir ein atemberaubendes Panorama. In der Ferne erblicke ich Gebirgsketten, die von Wolkenfeldern umgeben sind. Ich kann ausgedehnte Wälder erkennen und unberührte Natur, soweit mein Auge reicht. Zwei Adler ziehen ihre Kreise und stoßen ab und zu einen lauten Schrei aus. Ich stehe auf, breite meine Arme aus und danke dem Leben für alle Geschenke, die es mir bisher gemacht hat. Es ist ein erhabenes Gefühl, ganz allein auf diesem Gipfel mitten in den Alpes- Maritimes zu stehen, fernab jeglicher Zivilisation und anderer Menschen. Erschöpft und zufrieden ziehe ich meine kurze Hose und mein Top aus und lege mich nackt auf den großen, von der Sonne durchwärmten Felsen.
Erst jetzt fällt alle Anspannung von mir ab. Ich lasse alles los, was vorher war und was mich bis zu diesem Zeitpunkt beschäftigt hat. Ich kann fühlen, wie ein zarter Energiestrom durch meinen Körper fließt. Gleichzeitig nehme ich ein gleichmäßiges Pulsieren in mir wahr, das sich anfühlt, als ob mich jemand ganz leicht von innen massieren würde. Mehr und mehr breitet sich ein Wohlgefühl in meinem Körper aus, das ich in dieser Form noch nie erlebt habe. Beides wird immer stärker. Ich bin wach und sehe die Dinge ganz klar, als ob ein Schleier von mir weggenommen wurde. Jegliche Vorstellung von Zeit und Raum verschwindet. Es gibt nur diesen einen besonderen Moment.
Ich erkenne, wie ich konditioniert wurde, mein Leben in Zeiteinheiten einzuteilen, wie mir eingeredet wurde, dass ich schwach und ohnmächtig sei, obwohl ich in Wirklichkeit unendlich machtvoll bin.
Ich sehe, wie mir beigebracht wurde, ein System zu unterstützen, das nicht dem Leben, sondern nur dessen Machthabern dient. Wie Menschen in Abhängigkeit gebracht werden, indem sie gezwungen werden, Geld zu verdienen, weil sie sonst ihre Miete und ihre Lebensmittel nicht bezahlen können.
Wie ihnen bewusst suggeriert wird, dass man kämpfen müsse, um zu überleben. Dass es von allem zu wenig gibt: zu wenig Liebe, zu wenig Vertrauen, zu wenig Freiheit. Dass man sich schützen, kämpfen und durchsetzen müsse, um es zu etwas zu bringen. Dass man zuerst an sich denken solle. Dass diese Erde ein feindlicher Ort ist, an dem einem nichts geschenkt wird. Und die Tatsache, dass all dies eine Lüge ist, erfunden, um die Menschen in Angst und Schwäche zu halten, sodass die Mächtigen weiter regieren können. All diese Muster und Programmierungen werden mir in diesem einen, mir unendlich erscheinenden Moment bewusst.
Ich sehe eine gigantische Industrie, die davon lebt, in den Menschen durch geschickte und manipulative Werbung künstliche Scheinbedürfnisse zu erzeugen, durch die die Menschen den Kontakt zu ihrem wahren Inneren verlieren — und für die sie Geld verdienen und daher den ganzen Tag arbeiten müssen, um zu überleben oder sich scheinbare Sicherheit und Freiheit zu erkaufen.
Dabei erkennen sie nicht, dass sie Sklaven eines unmenschlichen Systems sind, das sie nicht nur unglücklich macht, sondern auch ihre Lebensgrundlagen zerstört.
Sobald Menschen damit beginnen, sich zu entspannen oder sich selbst mehr zu vertrauen, werden in ihnen gezielt neue Ängste oder neue künstliche Bedürfnisse geweckt, sodass sie im Hamsterrad bleiben.
Diejenigen, denen es trotzdem gelingt, auszusteigen oder die das System hinterfragen, werden häufig ausgegrenzt, abgelehnt und diffamiert. Oder noch Schlimmeres, denn das System ist gnadenlos.
Das Perfide daran ist, dass es sich so geschickt mit positiven Begriffen wie Freiheit, Demokratie oder sozialer Marktwirtschaft tarnt, dass die meisten gar nicht merken, wie das System wirklich funktioniert. Nur diejenigen, die das System direkt infrage stellen, indem sie sich zum Beispiel weigern, die hohen Steuern zu zahlen, bekommen deutlich zu spüren, dass sie nicht so frei sind, wie sie glauben.
Während ich diese Dinge glasklar sehen kann, spüre ich den glatten Fels unter mir. Er fühlt sich fast weich an, als ich mich an ihn schmiege. Mein Körper scheint sich in diesem Moment mit dem Stein zu verbinden, ein Teil von mir zu sein. Ich liege so geborgen auf ihm, wie ich es noch in keinem Bett erlebt habe. Mein Bewusstsein weitet sich aus. Ich bin nicht nur begrenzt auf meinen Körper, sondern bin auch Teil der Wolken, die über mir vorüberziehen. Ich erkenne, wie alles miteinander verbunden und verwoben ist.
Die Wipfel der Tannenbäume bewegen sich im Wind. Jeder einzelne Zweig, jede Nadel der Bäume ist Teil eines vollkommenen Musters, das einem ebenso vollkommenen Plan folgt. Ich erkenne, dass das natürliche Leben perfekt ist, dass diese Welt hier perfekt ist, genauso wie ich. Es gibt keine Trennung zwischen mir, meinem Körper und der Natur. So wie das Pulsieren meines Körpers atmet auch die Erde. Es ist ein ewiges Ein- und Ausatmen, ein ewiges Zusammen- und Auseinanderziehen. Alles ist genau so, wie es sein sollte. Nichts fehlt. Unendliches Wohlgefühl durchströmt meinen Körper. Ich habe keine Ziele, keine Bedürfnisse und keine Aufgabe. Es gibt keine Vergangenheit und keine Zukunft. Es ist einfach nur vollkommen, jetzt da zu sein.
Ich erlebe die Farben intensiver als sonst. Auch die Felsen und Bäume wirken schärfer und lebendiger. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich bunte Formen, die sich stetig verändern. Selbst die Felsen bewegen sich. In mir bildet sich ein Satz: Ich bin die Wahrheit. Ich erkenne und sehe die Welt, so wie sie wirklich ist. Die Schleier der Illusion sind von mir abgefallen. Mir wird bewusst, wie sehr ich bisher die Welt durch die Brille meiner Konditionierungen wahrgenommen habe. Nun sehe ich eine Welt voller Magie und Schönheit.
Wir wurden darauf konditioniert, wie Blinde zu sein, die sich mitten im Paradies befinden und es trotzdem nicht sehen.
Ein erwachter Mensch ist so glücklich, einfach da zu sein, dass er nichts anderes braucht.
Warum sollte er dieses Glück gegen materiellen Konsum tauschen? Es wäre ein wahrhaft schlechtes Geschäft für ihn. Die wirklich wichtigen Dinge kann man nicht kaufen.
Auch mein Herz weitet sich. Ich fühle meine Liebe für mich, für diesen wundervollen Menschen, der sich auf den Weg gemacht hat, um seine Bestimmung zu finden. Ich fühle meine Liebe zu meiner Mutter, meinem Vater und meinen Geschwistern. Ich fühle die liebevolle Verbundenheit zu allen Menschen, denen ich in meinem Leben begegnet bin. Ich fühle die Liebe zu der Natur, zu unserer Mutter Erde, die uns bedingungslos liebt, ganz gleich, ob wir sie achten oder nicht. Und ich fühle Liebe und Dankbarkeit für den Schöpfer, der dies alles geschaffen hat.
Es beginnt zu dämmern. Ich weiß, dass es unmöglich ist, die steile Felswand wieder nach unten zu klettern. Meine Intuition sagt mir, dass ich auch zu meinem Rucksack komme, wenn ich mir einen anderen Pfad auf der Rückseite des Berges suche. Erholt beginne ich langsam den Abstieg. Ohne mir Gedanken darüber zu machen, weiß ich, welchen Pfad ich nehmen muss, um gefahrlos dorthin zu gelangen, wo mein gefährlicher Aufstieg begann. Wie von einer unsichtbaren Macht geleitet, bewegt sich mein Körper von allein in die richtige Richtung, sodass ich noch vor Dunkelheit dort ankomme.
Es gibt eine Instanz jenseits meines Verstandes, die mich auf vollkommene Weise führt. Sie kennt meinen Weg und weiß genau, was für mich das Richtige ist. Dieses Erlebnis der Einheit wird für immer in meinem Herzen sein. Ich werde mich erinnern, wie das Leben in Wirklichkeit ist. Auch wenn ich nicht immer in dieser Energie sein kann, so wird sie doch in mir bleiben und mich daran erinnern, was wesentlich ist. Es gibt in unserer Welt eine Tür, die hinter dem Schleier der Illusion liegt. Wir alle haben die Möglichkeit, diese Tür zu suchen und zu erkennen, dass das Paradies jetzt schon da ist, ja dass es sogar in uns liegt.