Die Einheit der Gegensätze
Die von Karl Marx entwickelte Dialektik ist heute aktueller denn je.
Heute ist Marx‘ 200. Geburtstag. Er wird im Internet als „einer der meistgelesenen Autoren der Weltgeschichte und nach Luther als der wirkmächtigste Deutsche“ bezeichnet. Wie kam es dazu und inwiefern ist das für die aktuellen Versuche, den Kapitalismus und die von ihm ausgehenden Gefahren zu überwinden, noch wichtig? Wie können Ausgrenzung, Selbstgerechtigkeit und Einengungen im Denken und Handeln überwunden werden?
Eine Erklärung für die Bedeutung von Karl Marx als wegweisender Philosoph, politischer Aufklärer und Kritiker brachte Lenin in die Worte: Er bezeichnete ihn als den genialen „Vollender der drei geistigen Hauptströmungen des 19. Jahrhunderts in den drei fortgeschrittensten Ländern der Menschheit: der klassischen deutschen Philosophie, der klassischen englischen politischen Ökonomie und des französischen Sozialismus in Verbindung mit den französischen revolutionären Lehren überhaupt“ kennzeichnete (1).
Was die deutsche Philosophie angeht, war eine der Quellen für Marx‘ Theorie-Entwicklung die Auseinandersetzung mit Hegel, hier zentral mit der Hegelschen Dialektik.
Dabei stieß er auf die der Analyse der Wirklichkeit entgegenstehende Rezeption Hegels in der seinerzeit herrschenden Klasse und ihren Vertretern in der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts:
„Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, dass er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewusster Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muss sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken. In ihrer mystifizierten Form ward die Dialektik deutsche Mode, weil sie das Bestehende zu verklären schien. In ihrer rationellen Gestalt ist sie dem Bürgertum und seinen doktrinären Wortführern ein Ärgernis und ein Gräuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordene Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffasst, sich durch nichts imponieren lässt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist“ (2).
Marx meinte mit dem Bild des Umstülpens der Hegelschen Philosophie vom Kopf auf die Füße den Bezug der auf den Weltgeist bezogenen Lehre auf die materiell gegebene Realität. Hegels Fortschrittsglaube verdichtete sich im Bild, dass die Geschichte der Prozess der Rückkehr des Weltgeistes, des Geistes der jeweiligen Zeit zu sich selbst sei.
Der gesamte Weltprozessist nach Hegel Selbstentfaltung des Geistes. Die Philosophie hat dieses denkend zu betrachten. Die Selbstentfaltung erfolgt nach dialektischem Gesetz in drei Entwicklungsstufen. Sie bestimmen den Aufbau der Philosophie (3).
Marx beobachtete, dass „die unpersönliche Vernunft der Hegel’schen Philosophie außer sich weder einen Boden hat, auf den sie sich stellen kann, noch ein Objekt, dem sie sich entgegenstellen kann, noch ein Subjekt, mit dem sie sich verbinden kann...“ (4).
Durch Marx‘ Analyse der materiell gegebenen Prozesse des Stoffwechsels der Menschheit mit der sie umgebenden Natur fand er den Boden, der es ermöglichte, die Hegelsche Dialektik mit einem Subjekt in Verbindung zu bringen.
Die Haltung, mit der er auf dieser Basis seine Erfahrungen und Beobachtungen, seine Erkenntnisse und Schlussfolgerungen systematisierte, war durch Hegel inspiriert:
„Um griechisch zu sprechen, haben wir These, Antithese und Synthese. Für die, welche die Hegel’sche Sprache nicht kennen, lassen wir die Weihungsformel folgen: Affirmation, Negation, Negation der Negation. Das nennt man reden. Es ist zwar kein Hebräisch ...; aber es ist die Sprache dieser reinen, vom Individuum getrennten Vernunft. An Stelle des gewöhnlichen Individuums mit seiner gewöhnlichen Art zu reden und zu denken, haben wir lediglich diese gewöhnliche Art an sich, ohne das Individuum. (…)
Einmal dahin gelangt, sich als These zu setzen, spaltet sich diese These, indem sie sich selbst entgegenstellt, in zwei widersprechende Gedanken, in Positiv und Negativ, in Ja und Nein.
Der Kampf dieser beiden gegensätzlichen (...) Elemente bildet die dialektische Bewegung. Das Ja wird Nein, das Nein wird Ja, das Ja wird gleichzeitig Ja und Nein, das Nein wird gleichzeitig Nein und Ja; auf diese Weise halten sich die Gegensätze die Waage, neutralisieren sich, heben sie sich auf.
Die Verschmelzung dieser beiden widersprechenden Gedanken bildet einen neuen Gedanken, die Synthese derselben. Dieser neue Gedanke spaltet sich wiederum in zwei widersprechende Gedanken, die ihrerseits wiederum eine neue Synthese bilden. Aus dieser Zeugungsarbeit erwächst eine Gruppe von Gedanken...“ (5).
Die von Marx weiterentwickelte Theorie und Haltung bei der Verarbeitung von Erfahrungen lenkt die Aufmerksamkeit der Wahrnehmenden darauf, dass sie die Realität als einen Prozess verstehen können – was ihr am ehesten gerecht wird –, der sich aus Gegensätzen speist.
Im Verlauf dieses Prozesses gibt es nicht-lineare Entwicklungsschübe, die „qualitative Sprünge" genannt werden, etwa wenn aus einem Weizenkorn eine neue Pflanze wird. Dabei wird der vorherige Zustand aufgelöst, was seine Negation bedeutet. Das kann auch im Prozess der quantitativen Zu- oder Abnahme von Zusammensetzungen geschehen, so zum Beispiel, wenn der berühmte Tropfen ein Fass zum Überlaufen bringt, so wenn man Wasser jeden Tag um ein Prozent erwärmt, was knapp hundert Tage einigermaßen stabil gehen mag, dann aber nicht mehr.
Mit dem analytischen Instrumentarium der auf die Füße gestellten Dialektik sind wir Menschen in der Lage, alle Erfahrungen im Prozess des Lebens rückhaltlos und ohne Scheuklappen wahrzunehmen und unsere Erkenntnisse weiter zu denken, Zusammenhänge und die Entwicklungslogik eines Prozesses und seiner Eingebundenheiten zu erkennen.
Lenin schrieb dazu „Marx’ Philosophie ist der vollendete philosophische Materialismus, der der Menschheit – insbesondere der Arbeiterklasse – mächtige Mittel der Erkenntnis gegeben hat" (6).
Ob er vollendet ist, sei hier eine offene Frage. Marx schrieb seiner Tochter Jenny ins Poesiealbum „An allem ist zu zweifeln" (7).
Man kann sich nun allerdings fragen, warum die, die sich auf die Theorie und Herangehensweise von Karl Marx beziehen und bezogen haben, aus diesen mächtigen Mitteln der Erkenntnis nicht mehr gemacht haben.
Nun, dass in der Sowjetunion mit Stalin ein Staatschef auf Lenin folgte, der von Lenin als ,zu grob‘ bezeichnet worden war, erklärt dies nicht alleine. Lenin schrieb:
„Genosse Stalin hat, nachdem er Generalsekretär geworden ist, eine unermessliche Macht in seinen Händen konzentriert, und ich bin nicht überzeugt, dass er es immer verstehen wird, von dieser Macht vorsichtig genug Gebrauch zu machen. (...) Stalin ist zu grob, und dieser Mangel, der in unserer Mitte und im Verkehr zwischen uns Kommunisten durchaus erträglich ist, kann in der Funktion des Generalsekretärs nicht geduldet werden..." (8).
Auf Stalin folgte die lange Periode bis zum Ende des Kalten Krieges. Man kann sich allerdings wundern, dass die UdSSR, die 1945 bis hinter Moskau nach dem Nazi-Prinzip der verbrannten Erde ruinös zerstört war, und die im Verlauf des zweiten Weltkrieges 27 Millionen Tote zu beklagen hatte, überhaupt so lange hat mithalten und überleben können. Sie wurde auch durch das Wettrüsten des weltumspannenden Imperialismus im Wettstreit der Systeme totgerüstet.
Doch verloren die realsozialistischen Länder und die Kräfte, die sich auf sie bezogen, auch an Politikfähigkeit, weil sie die Dialektik an einem neuralgischen Punkt nicht zu Ende gedacht haben: Wenn man die Realität als einen Prozess erkennt, der sich aus Gegensätzen speist, dann kann man das nur dann wirklich erfassen, wenn man sich selbst auch als Element dieser Realität wahrnimmt.
Der Dialog des Menschen mit sich selbst, die Frage, was könnte gegen meine Über-Zeugungen sprechen, dieser kritische Selbstbezug macht die Erkenntnis erst umfassend wirksam. Es gab Phasen und Elemente kritischer Selbstreflexion, in der DDR wurde etwa der Film "Spur der Steine" gedreht, dann aber in die Schubladen verbannt (9).
Die eigenen Widersprüche nicht wahrhaben wollen ist eine Gefahr, vor der Marx vermutlich warnen wollte, als er sagte "Wenn das Marxismus ist – ich bin kein Marxist" (10).
Die Ausblendung der Dialektik im Selbstreflektieren ist eine Gefahr, die im Streit um Querfront und um die Friedensbewegung zu fatalen Verhärtungen geführt hat.
Die alternativen Spektren werden nur dadurch die erforderliche Attraktivität und Stärke gewinnen können, dass sie keine Scheuklappen, Voreingenommenheiten und Selbstgewissheiten leben, sondern im Sinne der Dialektik offen für den Diskurs sind — das Ganze entsprechend der Vision der Linken auf der Basis des Zieles, dass der Mensch kein entrechtetes Wesen mehr sein darf.
Quellen und Anmerkungen:
(1) http://www.praxisphilosophie.de/lenin_karlmarx.pdf
(2) K. Marx, Kapital I, MEW 23, 27f.
(3) http://www.theologie-examen.de: Hegel – Grundrisse seiner Philosophie
(4) K. Marx, Elend der Philosophie, MEW 4, 127ff.
(5) ebenda
(6) https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1913/03/quellen.htm
(7) http://www.vaeternotruf.de/karl-marx.htm
(8) https://www.planet-wissen.de/geschichte/diktatoren/stalin_der_rote_diktator/
(9) https://www.kino.de/film/spur-der-steine-1966/
(10) http://www.dearchiv.de/php/dok.php?archiv=mew&brett=MEW035&fn=386-390.35&menu=mewinh