Die dritte Sicht

Wir finden immer neue Corona-Varianten — halten wir stattdessen einmal nach einer neuen Variante der Menschlichkeit Ausschau.

Mit gefletschten Zähnen unter der Maske stehen sich die Menschen feindselig gegenüber. Die Spaltung der Gesellschaft hat ein bisher nie gekanntes Ausmaß erreicht. Ganz gleich, welcher Seite die jeweiligen Menschen angehören — man könnte den Eindruck gewinnen, ihnen bedeute es mehr, ihre Haltung auf Gedeih und Verderb zu verteidigen, als nach gemeinsamen Lösungen zu suchen. Dieser Zustand führt eine Gesellschaft über kurz oder lang in den Abgrund. Statt in die Tiefe sollten wir besser über unseren eigenen Schatten springen und uns die Mühe machen, uns in den jeweils anderen hineinzuversetzen. Nur so kommen wir zu einem umfassenden Verständnis, welches uns helfen kann, gesprengte Brücken wieder aufzubauen.

Menschlichkeit und Dialog

Dafür oder dagegen. Geimpft oder nicht geimpft. Solidarisch oder unsolidarisch. Korrupt oder Gut-Mensch. Querdenker oder Normaldenker. Reich oder arm. Elite oder Volk. Im Moment scheint es grundsätzlich nur zwei Meinungen zu geben, oder auch zwei Lager — das der Guten, selbstverständlich wir, und das der Bösen, selbstverständlich die anderen. Wir kennen das aus „Herr der Ringe“, wo die Guten die Guten und die Bösen die Bösen sind, dazwischen gibt es nichts. Auch in den Märchen für Erwachsene ist alles so schön einfach. Wir leben aber nicht in der Märchenwelt, sondern im Hier und Jetzt, in einer Gesellschaft, wo sich mittlerweile ein ungesundes Klima entwickelt hat, in dem Abstand, Rechthaberei und Nicht-Zuhören dominieren. Wenn man sich darüber einmal Gedanken macht, tauchen Fragen auf:

  • Wo sind die Menschen, die für den Dialog einstehen?
  • Wie oft haben wir in letzter Zeit das Wort „Mitgefühl“ gehört?
  • Wissen wir noch, dass Andersdenkende das Recht haben, anders zu denken?
  • Wo ist das, was uns ausmacht?
  • Wo ist das, was wir bisher unter „Menschlichkeit“ verstanden? Ist es verschwunden, oder nur unsichtbar geworden?

Versuchen wir doch einmal, von der heutzutage üblichen Rechthaberei, Über- oder Untertreibung, von Schuldzuweisungen, Verschwörungstheorien, Verweigerungsvorwürfen, Unfähigkeitsbescheinigungen und so weiter ebenso abzurücken wie von Endzeit-Visionen oder simpler Panikverbreitung. Versuchen wir uns eine Sichtweise vorzustellen, die auf Menschlichkeit, Verständigung, Weisheit und Mitgefühl beruht. Fällt das schwer? Schließlich sind es doch genau diese Eigenschaften, welche uns erst zu Menschen werden lassen.

Es geht darum, einen Schritt zurückzutreten. Egal, welcher Meinung jemand ist, einfach ein wenig Abstand zur eigenen Position zu nehmen und im Anderen zuerst den Menschen zu sehen, nicht das, was er darstellt oder vertritt.

Die „Anderen“ sind nämlich Mütter, Väter, Töchter, Brüder, Lastwagenfahrer und -fahrerinnen, Krankenpfleger und -pflegerinnen, Brotverkäufer und -verkäuferinnen, Informatiker und Informatikerinnen, Künstler und Künstlerinnen. Menschen genau wie wir alle.

Wir alle sind Menschen mit Gaben und Fehlern, wir alle sind Teil einer globalen Menschheitsfamilie. Wir sind gleich und doch verschieden. Wir alle wünschen das Beste für unsere Kinder. Wir haben das gleiche Ziel, nämlich glücklich, gesund und in Frieden zu leben. Wir sitzen alle im selben Boot, ob uns das nun passt oder nicht, und wenn es untergeht, dann gehen wir alle unter. Wer sich das einmal bewusst macht, dem oder der dürfte es nicht schwerfallen, für einen Moment die eigene Meinung nicht für die einzig richtige zu halten.

Jeder sollte sich bewusst machen, dass wir keine Lösung finden werden, solange wir gegeneinander sind, sondern nur dann, wenn wir miteinander reden und gemeinsam einen Raum erschaffen, der genug Platz bietet, damit sich Lösungen und Alternativen entfalten können.

Auch wenn das Wort „alternativlos“ sich in gewissen Kreisen großer Beliebtheit erfreut, so wissen wir doch eines mit Bestimmtheit: Es gibt immer Alternativen. Wer das bestreitet, hat wohl noch nie ein Geschichtsbuch aufgeschlagen oder hat den Geschichtsunterricht in mentaler Abwesenheit verbracht. Die Demokratie selbst ist aus dem „alternativlosen“ Feudalismus entstanden. Für damalige Maßstäbe war der Feudalismus alternativlos. So wie jedes System, das die Macht hat und sich seinem Ende nähert, sich selbst immer als alternativlos darstellt. Danach ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zu drastischen Maßnahmen wie einen — durchaus großen — Teil der Bevölkerung aus- beziehungsweise einzusperren, weil sich dieser Teil anders verhält, anders denkt und lebt. Dafür gibt es viele Hinweise im aktuellen Diskurs, sowohl im „offiziellen“ gesellschaftlichen, als auch im sogenannten „alternativen“.

Zuerst der Mensch, dann die Meinung

Unabhängig davon, ob jemand beim Thema „Corona“ nun zu denen gehört, die es für die schlimmste sanitäre Krise seit der Pest halten, oder zu denen, die hier nur eine Grippe mit einer guten Werbekampagne sehen, jeder sollte versuchen, doch einfach mal zuerst den Menschen im anders denkenden Gegenüber zu erkennen. Auch ein bisschen Selbstzweifel an der eigenen Meinung kann nicht schaden, denn es könnte durchaus sein, dass diese nicht zu 100 Prozent richtig ist.

Wir sollten uns daran erinnern, dass Wissenschaft ohne Zweifel undenkbar wäre, ja mehr noch, dass unser Fortschritt ohne zweifelnde und fragende Wissenschaftler nicht stattgefunden hätte. Die amerikanische und französische Revolution hätten die Geschichte nicht verändert, ohne den Zweifel am Status quo, Männer würden Frauen noch heute als ihren „Besitz“ ansehen, hätte es nicht diese außergewöhnlichen Frauen gegeben, welche die Realität anzweifelten — Stichwort „alternativlos“ —, und dass diese Frauen auch von Selbstzweifeln befallen wurden, ist selbstredend.

Um es noch klarer auszudrücken: Sich selbst nicht zu hinterfragen, anderen die Meinung zu verbieten und unsere Mitmenschen zu „entmenschlichen“, indem wir sie zu abstrakten Konzepten reduzieren wie Eliten, Querdenker, Impffanatiker und so weiter, hat einen Namen — Fundamentalismus, Fanatismus, Talibanismus, Faschismus … In diesen Systemen ist kein Platz für Menschlichkeit, und es gibt nur eine Meinung, die des Stärkeren. Wollen wir wirklich so sein?

Warum dieser Lärm? Warum benehmen wir uns wie Kleinkinder im Sandkasten, anstatt Verantwortung zu übernehmen?

Dafür sollten wir uns eine grundlegende Frage stellen. Was macht uns überhaupt zu Menschen? Ist es die Güte, die Würde, das Mitgefühl — oder der Hass, der Neid, die Gier?

Wollen wir weiterhin darauf beharren, Recht zu haben, anderen vorwerfen, was sie falsch machen, oder wollen wir endlich anfangen, gemeinsam Lösungen zu finden?

Welche Welt wir schaffen und unseren Kinder hinterlassen, liegt in unserer Hand. Es kann eine Welt sein, in der wir miteinander reden und Probleme gemeinsam lösen. Es kann auch eine sein, in der wir uns bekämpfen und mit Gewalt unsere Meinung unter dem Deckmantel der Gesundheit, der Freiheit oder anderer Ideale durchdrücken. Erstere Option geht nur, wenn wir Offenheit gegenüber anderen praktizieren und das auch unseren Kindern weitergeben.

Geschichte lehrt uns eine wichtige Lektion, nämlich dass Krisen Möglichkeiten eröffnen.

Dank der Krisen haben wir uns zu dem entwickelt, was wir heute sind. Und so könnten wir auch diese Krise nutzen.

Schauen wir uns in diesem Zusammenhang einmal die gute alte „Normalität“ an, zu der wir schnellstmöglich wieder zurückkehren wollen. Jeden Tag verhungern 35.000 Menschen, während an den Börsen mit Lebensmitteln spekuliert wird und wir circa ein Drittel unseres Essens wegwerfen. Unser Fortschritt ist auf der Zerstörung des Planeten gebaut. Wir weigern uns vehement, die geschichtlich bewiesene Tatsache anzuerkennen, dass Macht korrumpiert und dass die Mächtigen eine Klasse für sich bilden, die ihre eigenen Interessen verfolgt, nicht die des Volkes.

Jemanden als Verschwörungstheoretiker zu beschimpfen, weil er auf die Zusammenhänge zwischen Politik und Geld hinweist, ist vollkommen absurd, denn Politik geht immer einher mit dem „großen“ Geld. Genauso absurd ist es, die westliche Demokratie als ein Monopoly darzustellen, wo irgendwelche grauen Eminenzen alles planen.

Angst ist das Virus

Also lassen wir den alltäglichen Lärm mal für eine Zeit in den Hintergrund treten, und überlegen uns, warum wir uns wie streitende Kinder im Sandkasten benehmen. Was steckt dahinter? Was treibt uns dazu, nicht mehr miteinander zu reden?

Es ist die Angst.

Angst erklärt perfekt unser Verhalten in Zeiten Coronas. Sie ist das eigentliche Virus.

Angst ist im Moment scheinbar überall. Die einen haben Angst vor dem Virus. Das ist ohne Zweifel zu verstehen, denn Sars-Cov-2 ist ein potenziell tödliches Virus, und wir sollten den Menschen, die an Covid-19 erkrankten, unser tiefes Mitgefühl entgegenbringen, so wie jedem Menschen, der leidet. Die anderen haben Angst vor einem digitalen Überwachungsstaat. Auch das ist begründet, denn in China ist er schon Realität, und China hat schließlich die Maßstäbe für die Pandemie-Bekämpfung gesetzt. Und schließlich die, die Angst vor der Armut haben. Diese Angst ist ebenfalls nachvollziehbar, denn die Maßnahmen haben verheerende ökonomische Auswirkungen und Millionen in die extreme Armut getrieben, während einige wenige Gewinne erzielen wie nie zuvor. Doch das ist ein anderes Thema.

Das Problem mit der Angst ist, dass sie paralysiert, wir können in einem angstvollen Zustand nicht mehr klar denken und treffen Entscheidungen aus der Emotion heraus. Das aber ist keine Grundlage für vernünftige Politik. Besonders schlimm ist aber, dass Angst uns Dinge tun lässt, die wir unter normalen Umständen nie tun würden, die wir sogar zutiefst verachten. „Angst essen Seele auf“, der Titel des Fassbinder-Films passt hier genau ins Bild.

Haben wir nicht schon genug Elend gesehen? Müssen wir noch mehr Elend erzeugen, indem wir uns weigern, anderen einfach zuzuhören?

Jede Angst hat ihre Gründe, und somit ist auch jeder teilweise im Recht. Dies sollte unsere Ausgangsposition sein, um Lösungen zu finden. Wenn wir den Anderen als Menschen bejahen, als eine fundamentale Basis für die Kommunikation, dann öffnen wir einen weiten Raum. Jeder Mensch hat das Recht Mensch zu sein, es ist sein Geburtsrecht, und sein Privileg. Seine Verantwortung ist es, Menschlichkeit zu erschaffen, wo immer es möglich ist.

Eine kleine Übung des Mitgefühls

Der Autor möchte jede Leserin, jeden Leser einladen, eine kleine Übung zu machen. Sie dauert nicht lange! Stellen Sie sich einen Menschen vor, der genau das Gegenteil von dem verkörpert, was Sie glauben, was richtig und gut sei. Sie mögen ihn verurteilen, verteufeln, ja sogar hassen, das ist für die Übung vollkommen egal. Und nehmen wir als Beispiel die Corona-Maßnahmen. Wenn Sie denken, dass die Maßnahmen richtig sind, dann stellen Sie sich jemanden vor, der dagegen ist. Genauso andersherum, wenn Sie gegen diese Maßnahmen sind, dann stellen Sie sich jemanden vor, der diese befürwortet. Wenn jemand gegen Impfungen ist, sollte er sich einen Impfbefürworter vorstellen und so weiter. Das sind zwei Beispiele aus der Aktualität, doch die Übung funktioniert auch in anderen Bereichen.

Es geht bei der Übung nicht um richtig oder falsch, sondern nur darum, sich in den anderen hineinzuversetzen.

Gut, jetzt stellen Sie sich vor, Sie wären der oder die Andere, Sie hätten sein oder ihr Leben gelebt, die Genetik, hätten Seine beziehungsweise ihre Eltern gehabt, die Umgebung, in denen er oder sie aufgewachsen ist, die Freuden und Leiden, Verluste und Gewinne, einfach alles, was diesen Menschen ausmacht.

Dann würden Sie logischerweise so sein wie er oder sie, einfach ein Mensch, ein Kind seiner Umstände, genauso so wie Sie jetzt in Ihrem Leben. Das ist Mitgefühl. Das bedeutet, den anderen zu verstehen.

Dabei geht es nicht um Rechtfertigung, sondern nur darum, zu verstehen, dass wir alle Menschenkinder sind, die im Grunde dasselbe wollen. Sie brauchen dabei Ihre Meinung nicht aufzugeben oder ein Alles-Versteher werden, es soll nur eine gesunde Basis entstehen, um miteinander zu sprechen, von Mensch zu Mensch, und nicht von Impfbefürworter zu Impfgegner, Querdenker zu Normaldenker, Kapitalist zu Sozialist, Verschwörungstheoretiker zu Main Stream-Gläubigem.

Es ist äußerst wichtig, dass wir wieder anfangen, miteinander zu reden und einander ruhig zuzuhören, denn nur so schaffen wir es, aus dieser Krise gestärkt und mit mehr Menschlichkeit hervorzugehen.

Und wenn wir das nicht tun? Tendenziell sieht es so aus, dass wir weiterhin China kopieren. Was das für die Zukunft bedeutet, können wir uns schon jetzt in den schwärzesten Farben ausmalen. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass wir dann ein Soziales Kredit-System wie in China bekommen,. Die 2021 eingeführten G-Regelungen sind die ersten Schritte in diese Richtung.

Wir können die kommenden wichtigen Entscheidungen nicht Politikern oder Sozialen Medien wie Facebook, YouTube & Co. überlassen, abgesehen davon, dass viele mit der Situation überfordert sind. Es ist an der Zeit, dass wir als Gesellschaft auftreten und sprechen. Wir haben das Recht, die Verpflichtung und die Verantwortung, endlich den nächsten Schritt in der Gestaltung einer menschenwürdigeren Gesellschaft zu tun. Wenn nicht wir, wer dann?

Ich möchte mit einen Satz von John F. Kennedy schließen, der versinnbildlicht, dass es darum geht, unsere persönlichen Streitigkeiten zurückzustellen, um für das Wohl aller und nicht nur für das Wohl unserer Gesinnungsgenossen einzutreten:

„Don't ask what your country can do for you, but what you can do for your country.“ (Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst).


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