Die drei Hälften meines Lebens

Die Erinnerung an Missbrauchserfahrungen in einem Kinderheim wirft seelische Schatten, die mitunter weit ins Erwachsenenalter hineinreichen.

„Warum bist du bloß so empfindlich?“ Auf politisch motivierte Gewalt, etwa auf den Entzug von Rechten oder auf Kriegshandlungen, reagieren Menschen sehr unterschiedlich. Manche sehen kein Problem und können Berichte darüber aus den Medien sehr leicht wegstecken. Sie nehmen weder das Bombardement von Gaza noch Missstände in Deutschland besonders tragisch. Andere nehmen schon die Zeitungsnachrichten sehr schwer, obwohl sie persönlich gar nicht von dem betroffen sind, was berichtet wird. Wie kommt es zu solch unterschiedlichen Reaktionsweisen? „Empfindliche“ Menschen fühlen sich häufig bewusst oder unbewusst an selbst erlebte, traumatische Situationen erinnert. Der Autor fühlt sich besonders durch Unrecht und Situationen des Ausgeliefertseins „getriggert“. Die Gründe hierfür liegen vermutlich in seiner Kindheit und in früher Gewalterfahrung in einem Kinderheim. Dieser ehrliche Bericht macht Mut, in der eigenen Vergangenheit nach Ursachen vom seelischen Leiden zu suchen und durch Bewusstwerdung einer Heilung näherzukommen.

In der Autobiografie handelt die erste Station von der Heimschule in Korntal, in die ich 1961 gesteckt wurde. Der Dokumentarfilm „Die Kinder aus Korntal“ handelt von Heimen der pietistischen Brüdergemeinde, in denen ab den 1950er Jahren Kinder physisch, psychisch misshandelt und sexuell missbraucht wurden. Bei einem Kinobesuch 2024 bin ich zufällig auf diesen Zusammenhang gestoßen. Reiner Zufall?

Ich traf mich im Kino „Mal sehn“ mit einem Freund, den ich seit über 40 Jahren kenne. Das war auch der Grund, ihm meine „Autobiografie“ zu schenken, die ungefähr 90 Jahre Geschichte abdeckt, womit ein Rätsel bereits jetzt gelöst werden kann. Ich beginne mit dem Leben meiner Großmutter, die 1925 ein Kind zur Welt gebracht hatte, das Ergebnis einer Vergewaltigung war. Sie wurde als Zimmermädchen von einem Geschäftsmann sexuell missbraucht. Knapp 30 Jahre später sollte es mein Vater werden.

Auf dem Tisch lag das Programm des Kinos aus. Ich überflog es und blieb dann an einem Filmtitel hängen, der mich schlagartig 60 Jahre zurückkatapultierte:

„Die Kinder aus Korntal.“

Ich stockte, denn „Korntal“ sagte mir sofort etwas. Es war das erste Kinderheim, in das ich 1961/62 gesteckt wurde. Ich wischte diesen Zusammenhang sofort weg. Es wird sicherlich nicht mein „Korntal“ sein. Wer weiß schon, wie viele Korntals es gibt. Ich las weiter:

„Korntal, eine beschauliche Kleinstadt in Baden-Württemberg …“

Ich schluckte: Das ist doch mein Korntal. Diese Kleinstadt ist nicht weit weg von Waiblingen, wo meine Großeltern gelebt hatten, als mein Bruder und ich dort von unseren flüchtenden Eltern abgeliefert wurden. Ich las weiter:

Korntal …wird zum Schauplatz eines der größten Missbrauchsskandale der Evangelischen Kirche in Deutschland. Ab den 1950er Jahren wurden in den dortigen Heimen …

Ich spürte Beklemmung in mir aufsteigen. Ich bemühte mich um Distanz. Es soll sich um Heime der pietistischen Brüdergemeinde handeln, wo Zwangsarbeit, sexualisierte Gewalt und körperliche Züchtigung stattgefunden hatten. Der Dokumentarfilm aus dem Jahr 2023 handelt davon.

Ich legte das aufkommende Gefühl und das Programm zur Seite. Ich war sicherlich nicht in einem Heim der pietistischen Brüdergemeinde. Es war sicherlich ein anderes Heim, in das mich meine überforderten Adoptiv-Großeltern steckten und etwa ein Jahr später wieder herausnahmen.

Doch das Wort Korntal in Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch frisst sich durch die vorhandenen Erinnerungsfetzen. Sie krallen sich fest, um sich gegen das Übergangen-werden zu wehren.

Es waren zwei widersprüchliche „Erinnerungen“, wobei ich dazu sagen muss, dass sie sehr wahrscheinlich nicht die meinen sind, sondern die implantierten Erzählungen meiner Oma, die ich sehr mochte. Die eine lautet, dass es meine Oma nicht mehr ausgehalten habe, mich ins Heim gesteckt zu haben, und dass ich aus diesem Grund nur ein Jahr dort verbracht hatte. Die zweite Erinnerung passt nicht ganz genau dazu: Ich hätte mich dort unerzogen benommen, hätte immer wieder Ärger gemacht, woraufhin ich aus dem Schulheim genommen werden musste.

Mir fällt nun noch eine Szene ein, die mir meine Oma erzählt hatte und der ich bisher keine Bedeutung beigemessen habe. Zu den Unbotmäßigkeiten zählte auch, dass ich auf die Straße gerannt sei, wobei ich einen Autofahrer gefährdet hätte.

Ich hielt diese Szene (im Buch) nicht fest. Jetzt bekommt sie eine andere Färbung. Warum sollte ich damals weggerannt sein? Wen habe ich damit gefährdet?

Ich dachte sehr lange über diese Widersprüchlichkeiten nicht nach, zumal ich keine wirklichen eigenen Erinnerungen, vor allem keinerlei Gefühle dazu habe.

Diese Episoden sind sehr symptomatisch, denn vieles in meiner Kindheit, in der „ersten Hälfte meines Lebens“, bewegt sich in diesem Schattenreich aus Verschweigen und unhaltbaren Erklärungen.

Als meine Eltern wegen drohender Strafverfahren ins Ausland flohen und uns beide Kinder bei den Großeltern zurückließen, wussten wir lange Zeit nicht den wahren Grund. Erst als mein Bruder nach der Schule von Mitschülern mit Steinen beworfen und als Verbrecherkind betitelt wurde, kam ein kleiner Teil der Wahrheit ans Licht. Sie waren inzwischen verhaftet worden und saßen im Gefängnis, wo sie mehrjährige Haftstrafen verbüßten.

So ging das Jahr für Jahr weiter — bis ich 17 Jahre alt war und von „zuhause“ rausgeschmissen wurde. Ab da begann meine „zweite Hälfte meines Lebens“. In dieser Phase schaute ich nicht zurück, sondern genoss das Leben, das ich in der Hand hatte, ohne wirklich zu merken, dass vieles von der Macht des davor Erlebten geprägt war.

Es dauerte lange, bis ich die Ambivalenz meiner „Freiheit“ begreifen konnte, begreifen musste. Ganz lange lebte ich das Credo, dass ich mich ohne Eltern durchs Leben geschlagen habe, sie mir also nichts anhaben konnten. Die Vorstellung, das Wissen, dass auch ihre weitgehende Abwesenheit Macht ausübt, dass meine „Gefühllosigkeit“ damit etwas zu tun hat, genau das nicht zu spüren, auszuhalten, was die Kindheit angerichtet hatte, kam erst viel später, in der „dritten Hälfte meines Lebens“.

Das ist zum einen kein Vergnügen, denn man spürt nun etwas, was man nicht unbedingt spüren will.

Als mich meine Psychoanalytikerin Anfang des 21. Jahrhunderts fragte, warum ich bei all dem Erzählten nicht weine, antwortete ich ihr unkontrolliert:

„Wenn ich anfangen würde zu weinen, würde ich nicht mehr aufhören.“

In meinen Nachträumen bin ich oft im Meer baden gegangen und konnte nicht mehr an Land zurückschwimmen. Zu stark war die Strömung, die mich ins Nichts mitriss.

Das ist die eine Seite, wenn Ereignisse und Gefühle wieder zusammenwachsen. Die andere Seite ist, dass ich heute ganz anders die Welt und mich analysieren kann. Denn nicht nur in der großen Welt regieren die „Narrative“, sondern auch in unserer kleinen eigenen Welt. Ich würde heute sogar behaupten, dass sie Komplizen sind.

Mehr denn je bin ich davon überzeugt, dass wir in unsere Vergangenheit, also in unsere Erinnerungen, vieles von dem hineinschreiben, was der Gegenwart, unserem jetzigen Tun und Nicht-Tun dient und geschuldet ist.

Das geht mir bis heute mit dem Wort „Korntal“ so. Heute kann ich mich entscheiden, ob ich diesen Schlüssel aufhebe, ob ich die passende Tür dazu finden, ob ich diese Tür überhaupt öffnen will. Ich werde diesen Schlüssel liegen lassen.

Nicht ganz.

Ich frage mich seit Jahren und darüber hinaus, warum ich auf Unterdrückung und Erniedrigung so massiv reagiere.

Es ist nicht die Gewalt, die man aus Rache, im Streit, im Affekt ausübt. Da geht es mir anders. Ich kann Rache und Vergeltung sehr gut verstehen. Ich bin voll davon.

Es geht um Gewalt, die das Ausgeliefertsein zur Voraussetzung hat. Es geht um das Ausüben von Gewalt, weil man längst in deren Hand ist.

Es geht also nicht um individuelle Gewalt, die manchmal auch aus Ohnmacht heraus geschieht.

Es geht in meiner ganzen „zweiten und dritten Hälfte meines Lebens“ vor allem um institutionelle Macht, um strukturelle Gewalt, die geschieht, weil sie es können, weil „wir“ uns nicht wehren (können).

Da schließt sich der Kreis zwischen Korntal und Gaza — ganz sicher.

Dass Schmerz und Gewalt nicht blind machen müssen, vor allem dann, wenn man den Augenblick hinter sich lässt, das (Über-)Erlebte nicht mehr persönlich nehmen muss, kann man einem Kapitel entnehmen, das im Jahr 1965 spielt — wo sich Himmel und Hölle ganz nahe waren.

Nach der Entlassung aus dem Knast fand meine Mutter eine kleine bezahlbare Mansardenwohnung in Stuttgart. Sie selbst fand eine Anstellung als Sekretärin in einer mittelständischen Firma. Wenig später holte sie meinen Bruder und mich zu sich. Es wurde eine wunderbare schöne Zeit zu dritt. Wir vermissten unseren Vater keine Sekunde, der eine anderthalb Jahre längere Haftstrafe verbüßte. Wir dachten nicht einmal an ihn. Wir genossen es, dass unsere Mutter ganz für uns da war. Sie kam spät Nachmittag von der Arbeit. Abends aßen wir zusammen und davor und danach machte sie mit uns Schulaufgaben. Ein Highlight in diesem Leben zu dritt war das gemeinsame Radio-Hörspiel, das wir im Bett zusammen verfolgten.

Unsere Mutter sorgte für mehr als die Grundversorgung und wir für die Extras. Das hatte einen durchaus einleuchtenden Grund. Meine Mutter bekam etwa 600 Mark Lohn und ich etwa 100 Mark. Diese verdiente ich mir im Stuttgarter Staatstheater im Kinderchor. Als mein Bruder ebenfalls im Kinderchor einstieg, hatten wir also genug Geld, um unsere Mutter auszuführen. So gehörte es zu unserem festlichen Ritual, dass wir unsere Mutter einmal im Monat zum „Chinesen“ einluden. Damals war alleine die Tatsache, dass es ein chinesisches Restaurant gab, eine Sensation — abgesehen von dem Essen mit den vielen Schälchen, das ganz nahe an 1000 und eine Nacht heranreichte.

Ich selbst leistete mir immer wieder den Besuch im Kinderkino, das nachmittags angeboten wurde.

Der Matrose

Er trug einen marineblauen Seemannsanzug mit weißem Kragen und eine Matrosenmütze. Genauso, wie sich ein Kind mit zwölf Jahren einen echten Matrosen vorstellt.

Ich lernte ihn im Kino kennen, in einer Nachmittagsvorstellung, als er mich ansprach. Er habe für ein paar Tage Urlaub an Land und wisse noch nicht, wo er übernachten könne.

Seine Aufmerksamkeit, sein Interesse an mir ließ mich nicht los. Ich nahm ihn mit nach Hause. Für ihn hatte ich allen Platz der Welt. Er blieb kostbare Tage in meinem Leben — bis heute.

Jeden Tag rannte ich mit Herzrasen aus der Schule, um keine Minute zu versäumen, mit ihm zusammen zu sein, gemocht zu werden.

Wir hatten zwei Messer dabei, um im Wald Pfeil und Bogen zu schnitzen.

„Kann ich mal Dein Messer haben? Meins ist zu stumpf.“

„Na klar.“

Der Matrose schnitzte an dem Pfeil. Ich schaute ihm zu und genoss es, dass jemand ganz für mich da ist.

„Hast Du keine Angst?“

„Was meinst Du damit?“

„Na ja, ich habe jetzt Dein Messer!“

Ich verstand seine Frage immer noch nicht.

„Warum sollte ich Angst haben? Du bist mein Freund!“

Es war schon dunkel, als wir aus dem Wald einer märchenhaften Welt zurückkamen.

Meine Mutter und mein Bruder hatten in der Zwischenzeit den Seemannskoffer durchsucht und kinderpornografische Magazine gefunden. Sie verständigten die Polizei.

Im Hausflur standen zwei Männer, die ich noch nie gesehen hatte. Sie hatten etwas Bedrohliches. Ich klingelte und meine Mutter öffnete die Tür. Die beiden Männer traten näher und fragten meine Mutter:

„Ist er das?“

Als die beiden Männer auf meinen Matrosen zugingen, drängte ich mich dazwischen. Ich wollte meine Hand für ihn ins Feuer legen.

Vergeblich. Einer der Männer sagte so etwas wie: „Lass das lieber, sonst verbrennst du dir die Hände.“

Sie nahmen ihn fest.

Ich verstand die Welt nicht mehr.

Der Matrose wurde wegen „Unzucht mit Kindern“ zu mehreren Jahren Haft verurteilt.

Mein Vater, der nie für mich da war, sollte bald auf freiem Fuß sein.

Nachtrag

Für diesen Beitrag bin ich einer Ungewissheit nachgegangen, da mich der „Zufall“ nicht beruhigen konnte. Dabei bin ich auf eine sehr gute und ausführliche Beitragsserie der Kontextzeitung gestoßen, die seit 2014 darüber berichtete. Detlev Zander, einer der Zeugen, die dabei zu Wort kommen, hat als Kind genau in jenem Schulheim seine Zeit verbracht, in das ich 1962 gesteckt wurde. Der Schlüssel, von dem ich sprach, öffnet tatsächlich die Tür. Das hätte nicht sein müssen.