Die Dienstbarkeit der Intellektuellen
Über die Verantwortung des Historikers gegenüber der Gesellschaft.
„Frieden ist nicht alles, aber alles ist nichts ohne Frieden“, sagte Willy Brandt. Für diesen Frieden sind auch Intellektuelle verantwortlich.
Als Historiker, als Friedens- und Konfliktforscher bin ich seit vielen Jahren in Südtirol, Österreich, der Schweiz und Deutschland unterwegs, um Vorträge und Workshops zu halten, in denen ich über die Ergebnisse meiner Forschungen berichte. Vor einiger Zeit beglückwünschte mich deshalb der Südtiroler Historiker Hans Heiss angesichts dieser regen Vortragstätigkeit im öffentlichen Raum als Public Historian. Ich habe darüber nachgedacht und mir überlegt, wie ich diese Rolle für mich definiere. Und es hat sich gezeigt, dass dabei der Begriff der Verantwortung eine zentrale Rolle spielt – eine Verantwortung, die der Historiker gegenüber der Gesellschaft hat und über die beispielsweise schon der Althistoriker Christian Meier in seiner Antrittsvorlesung an der Uni Basel am 6. Juni 1968 nachgedacht hat. Diese Verantwortung ist zugleich in einen größeren Rahmen eingebettet, denn auch für den Historiker ist selbstverständlich, was nach Noam Chomsky für Intellektuelle im Allgemeinen gilt:
„Die Intellektuellen sind in der Lage, die Lügen der Regierungen zu entlarven, die Handlungen nach ihren Ursachen, Motiven und oft verborgenen Absichten zu analysieren. [...] Die Intellektuellen haben die Verantwortung, die Wahrheit zu sagen und Lügen aufzudecken.“
Menschen, Gesellschaften, Staaten, ja das Leben an sich bietet immer wieder neues Konfliktpotenzial. Doch Konflikte, die nicht gelöst werden – und sie zu lösen, heißt, sie zu befrieden, führen zur Eskalation und gefährden den Frieden. Wohin das führen kann, sehen wir, wenn wir in die Vergangenheit blicken. Dabei müssen wir gar nicht bis zum Ersten oder Zweiten Weltkrieg oder noch weiter zurückblicken. Nur schon drei Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit, aus den letzten sieben Jahren, zeigen, wie gefährdet Frieden ist und wie leicht Krieg mit all seinen fatalen Folgen ausbrechen kann: Libyen, Syrien und die Ukraine.
Noch 2010 stand Libyen auf Rang 53 im Human Development Index, der anhand von Faktoren wie Zugang zu medizinischer Grundversorgung, Bildung und Lebenserwartung die Entwicklung und den Wohlstand von Ländern misst. Libyen war das am besten platzierte afrikanische Land, vor dem EU-Mitgliedsstaat Bulgarien. In Syrien konnten Menschen noch ihrer Arbeit und Ausbildung nachgehen, und die Ukraine war trotz aller inneren und äußeren Spannungen ein Staat mit Brückenfunktion zwischen Ost und West.
Inzwischen befindet sich Libyen, aktuell auf Rang 102 abgestürzt, im freien Fall. Der Staat wurde mit maßgeblicher Hilfe der NATO zerstört, lokale Warlords haben die Kontrolle übernommen. Der UNHCR, das Flüchtlingswerk der UNO, hat in zahlreichen Berichten dokumentiert, was auch die nach Europa Geflohenen immer wieder sagen: Libya is hell. Folter, Vergewaltigung, Mord – das sind einige der Folgen des Krieges. Deshalb ist auch die Forderung, die EU müsse die im Mittelmeer geretteten Menschen nach Libyen zurückschicken, entschieden zurückzuweisen. Sie basiert angesichts der von verschiedenen Seiten bestätigten gravierenden Menschenrechtsverletzungen entweder auf Ignoranz der Fakten oder auf Zynismus.
Syrien wiederum ist in weiten Teilen zerstört, rund 400.000 Menschen sind tot, 11 Millionen – die Hälfte der Bevölkerung! – geflohen, geschätzte 5 Millionen ins Ausland, rund 6 Millionen innerhalb des Landes. Und die Ukraine hat nicht nur ihre Brückenfunktion eingebüßt, sie ist inzwischen sogar selbst gespalten. Über 6.000 Menschen haben ihr Leben verloren, knapp eine Million musste fliehen. West und Ost, EU, NATO und Russland, stehen sich heute angesichts von Sanktionen und wechselseitigen militärischen Großmanövern so unversöhnlich gegenüber wie seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr.
Im Lichte dieser Katastrophen gilt das Diktum der ersten Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner ungebrochen: „Die Waffen nieder!“ Oder, wie es Willy Brandt formuliert hat: „Frieden ist nicht alles, aber alles ist nichts ohne Frieden.“
Ist Historie also Friedensarbeit?
Sie kann es sein, wenn die Erkenntnisse aus der Vergangenheit dazu dienen, eine bessere, gewaltfreie, friedliche Zukunft zu schaffen. Hier ist in gewissem Sinn der Public Historian gefragt: WissenschaftlerInnen, die sich einmischen, die sich aufdrängen, über Vorträge, Diskussionen und in Medienbeiträgen. Denn ohne das Wissen um die Vergangenheit ist ein Verständnis der Gegenwart, das auf Konfliktlösung, auf Frieden abzielt, gar nicht möglich. Wenn man beispielsweise weiß, dass 1709 mehr als 10.000 Pfälzer wegen religiöser Unterdrückung und angesichts einer sich abzeichnenden Hungersnot ihre Heimat verließen und nach Nordamerika auswanderten, kann man auch die aktuelle Einwanderung besser verstehen. Und alleine in den acht Jahren zwischen 1871 und 1879 ist fast eine halbe Million Deutsche aus vergleichbaren Gründen in die USA ausgewandert, wie heute Menschen nach Deutschland einwandern: auf der Suche nach besseren wirtschaftlichen, politischen und oft auch religiösen Perspektiven.
Aus der Kenntnis der Vergangenheit erwächst also auch eine Verantwortung für Vermittlung und Frieden. Und genau hier setzt die Arbeit des Historikers als Friedens- und Konfliktforscher an. Tritt er mit seiner Arbeit an die Öffentlichkeit, so sollte er sich an vier Grundgedanken orientieren. Der erste der vier lautet „sine ira et studio“: ohne Zorn und Eifer.
Fleiß, Präzision und Durchhaltevermögen sind gewiss wichtige Tugenden der GeschichtsforscherInnen. Ebenso wichtig ist es aber, dabei ohne Zorn und Eifer, also ohne Revanchismus und Fanatismus, zu Werk zu gehen. Denn mitunter kann das Studium der Vergangenheit große Empörung oder Wut wecken, wenn man sich zum Beispiel mit Ungerechtigkeit, Zynismus oder Gewalt beschäftigen muss. Doch starke Emotionen sind selten gute Ratgeber, weshalb ein kühler Kopf und eine gewisse Distanz zum Erforschten immer notwendig sind.
Damit HistorikerInnen ihrer selbst gewählten Rolle als Friedensforscher und Friedensarbeiter aber gerecht werden können, sollten sie sich neben dem Leitgedanken „sine ira et studio“ noch an einen weiteren halten: zu reflektieren, also zu überdenken, und zu überarbeiten. Man kann dabei das Überdenken auch durch *be*denken ersetzen. Geschichte erschließt sich dem Betrachter ja nicht von sich aus. Damit lässt sich Geschichte auch nicht lernen, zumindest nicht im Sinne eines Auswendig-Lernens. Was wir aber aus Geschichte lernen können, was wir daraus erkennen können, sind Ähnlichkeiten in den Abläufen, Muster in den Handlungssträngen, Emotionen bei den Entscheidungsträgern ebenso wie bei den Betroffenen.
Wer zum Beispiel aus der Beschäftigung mit dem Südtirol-Konflikt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelernt hat, dass ein ethnisch motivierter Streit entweder zum Bürgerkrieg eskalieren oder durch Autonomie befriedet werden kann, der kann diese Erkenntnis auch auf andere Konflikte übertragen. Das bedeutet nicht, dass alle ethnischen Konflikte gleich ablaufen, aber es gibt grundlegende Parameter, die fast den Charakter von naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten haben. Eine dieser Grundregeln lautet, dass Gesellschaften im Bestreben nach Verbesserung ihrer ökonomischen Situation häufig Zuflucht in Nationalismus und Sezessionismus suchen. Meistens will sich dabei eine wohlhabende Region von einem Staat abspalten, mit dem sie ihren ökonomischen Fortschritt nicht teilen möchte, und sie beruft sich dabei teilweise zutreffend auf historische und kulturelle Besonderheiten. So verfügen die irakischen Kurdengebiete über Erdöl, und auch Kataloniens Wohlstand liegt über dem spanischen Durchschnitt. Ähnliches trifft auf die wirtschaftlich weit entwickelten Gebiete im Norden Italiens zu, wo die sezessionistische Partei Lega Nord lange Zeit einen eigenen Staat namens Padanien ausrufen wollte. Manchmal suchen Menschen im Nationalismus und Sezessionismus aber auch Zuflucht, weil ihre wirtschaftliche Situation schlechter ist als im übrigen Staatsgebiet. Das Beispiel Kosovo zeigt dabei jedoch eindrucksvoll, dass die Versprechungen nationalistischer Eliten auf ökonomische Besserung nicht Wirklichkeit werden.
Eine weitere Grunderkenntnis aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit ist, dass der Besitzende der Mächtigere ist als der Besitzlose. Diese Erkenntnis kann dazu genutzt werden zu verstehen, dass in der gegenwärtigen Migrationsdebatte die Asyl, Schutz und Perspektiven suchenden Menschen gegenüber den bereits ansässigen Menschen in der schwächeren Position sind. In Südtirols Hauptstadt Bozen musste dies vor wenigen Wochen eine irakische Familie schmerzhaft erfahren. Die Familie, die im Irak ihre fünfjährige Tochter durch ein Attentat verloren hat, musste mit vier Kindern, das älteste 13 Jahre alt und wegen Muskelschwund im Rollstuhl, unter einer Brücke schlafen. Die zuständigen Notaufnahmelager erklärten sich entgegen den Gesetzen für nicht zuständig, und inzwischen ist der 13-jährige Sohn Adan nach einem Sturz aus seinem Rollstuhl verstorben. Der Stress der Fluchtsituation, die Ungewissheit, all dies hat seinen Zustand zunehmend verschlimmert. Und die Südtiroler Politik? Die betont bei jeder Gelegenheit, dass man bereits genug Flüchtlinge aufgenommen habe – auch wenn die Nachbarprovinzen Tirol und Trentino allesamt ein Vielfaches an Asylbewerbern beherbergen. So wurde eine Familie in Not im Stich gelassen von einer Gesellschaft, die zu den wohlhabendsten in Europa gehört, gegen Gesetze und Menschenrechte – und dies ist leider kein Einzelfall. Und es gibt Leute, die angesichts der Tragödie um den kranken Adan mit dem Satz „Er wäre ja ohnehin gestorben“ reagieren und dem Anderen selbst im Tod sein Mensch-Sein absprechen. Hier zeigt sich auf furchtbare Weise, welche Seite im Migrationsdiskurs tatsächlich bedroht ist.
Der Stärkere muss sich nämlich vor dem Schwächeren weniger fürchten als umgekehrt – oder anders formuliert: Der Besitzende ist nicht so arm dran wie der Nichtshabende. Entsprechend kann er auch aus einer Position der Stärke heraus agieren. Er kann es sich leisten, dem Anderen entgegenzukommen. Er kann sich Humanität leisten. Doch die Humanität wird in Europa aktuell vor allem den Freiwilligen überlassen. Dafür nimmt die Polizei in Bozen Obdachlosen ihre Decken weg und entsorgt sie. Eine Stadt mit über 600.000 Nächtigungen im Jahr und mehreren Tausend Tagestouristen mobbt die Armen regelrecht aus ihrem Stadtgebiet hinaus.
Es ist höchste Zeit, dass wir uns als Gesellschaften wieder auf die Nothilfe besinnen. „Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40) – dieses Jesuswort sollten sich alle zu Herzen nehmen, zumal jene, die sich gerne auf die christlichen Werte Europas berufen. Denn welches Christentum soll das sein, das Schwächere gnadenlos ausgrenzt?
Nachzudenken, zu *be*denken und zu überarbeiten führt dazu, solche und weitere Grunderkenntnisse aus der Geschichte abzuleiten und sie in gegenwärtigen Debatten als geistiges Rüstzeug zu verwenden, immer im Bewusstsein der Relativität der beanspruchten Wahrheit sowie der Gleichwertigkeit der Diskursteilnehmer. Dies führt mich zur dritten Grundregel: Über Interpretationen darf man, soll man streiten.
HistorikerInnen sind keine RichterInnen, und sie sollten sich auch in der öffentlichen Debatte der Relativität ihrer Position immer bewusst sein. Gerade weil der Historiker durch seine Forschung zur Versachlichung der Diskussion beitragen möchte, muss ihm alles daran liegen, seine Position auf eine Weise zu vertreten, dass sie annehmbar ist. Arroganz, Belehrung, Präpotenz oder hierarchisches Denken schaden dem selbstgestellten Anliegen.
Ganz in diesem Sinne lautet deshalb nun die letzte meiner vier Grundregeln: prodesse et delectare – Wissenschaft kann lehrreich und unterhaltsam zugleich sein. Dass die Beschäftigung mit der Vergangenheit spannend, interessant, ja sogar lustvoll sein kann, war und ist für viele Menschen bis heute nur schwer vorstellbar. Diesem Phänomen versucht der Public Historian entgegenzuwirken, indem er sich nicht nur um eine herausragende und auf dem aktuellsten Erkenntnisstand befindliche Forschung bemüht, sondern auch um eine ebenso professionelle Vermittlung seiner Ergebnisse. Michael Gehler von der Universität Hildesheim oder der Schweizer Daniele Ganser sind dafür gute Beispiele.
Aus der Beschäftigung mit Vergangenheit erwächst also eine große Verantwortung, und Historie ist zu einem wesentlichen Teil auch Friedensforschung. Historiker, die ihre Aufgabe ernst nehmen, bieten der Öffentlichkeit also die Erkenntnisse ihrer Forschung an und stellen sie dort zur Diskussion. Sie tun dies trotz aller Ungerechtigkeiten und Lügen, die sie in ihrer Forschung aufarbeiten, ohne Zorn und Eifer und mit dem Anspruch der Sachlichkeit und Neutralität. Deshalb versuchen sie auch, ihre Positionen und Urteile beständig zu reflektieren und zu überarbeiten. Über ihre Interpretationen kann und soll nämlich gestritten werden im Kampf um die öffentliche Meinung – aber es sollen Deutungen gegeneinander antreten, nicht Menschen. Letzten Endes stellt sich eine ernstgenommene Beschäftigung mit der Vergangenheit in den Dienst der Gesellschaft mit dem Ziel, eine bessere und friedlichere Zukunft zu erwirken. Dies ist zugleich auch die beste Antwort auf die weit verbreitete Behauptung, die Menschheit lerne nichts aus der Geschichte. Denn sie lernt trotz allem.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text ist ein Auszug aus der Rede des Autors anlässlich der Überreichung des Förderpreises Walther-von-der-Vogelweide für seine Arbeit als Historiker der Öffentlichkeit. Die vollständige Rede von Kurt Gritsch erscheint im Januar 2018 in der Zeitschrift „Der Schlern“ in Bozen (Südtirol).