Die Denunzianten-Kritik
Linke wenden sich in einem offenen Brief gegen die pauschale Verunglimpfung derer, die für ihre Grundrechte demonstrieren.
Das Einknicken der Partei „Die Linke“ und vieler anderer, die sich in der Corona-Frage eher links verorten ist ein trauriges Schauspiel. Vergleichbar vielleicht der Mutation der SPD zur Hartz-IV-Partei. In der schwersten Krise der Demokratie und der Freiheitsrechte seit 75 Jahren wehren sich viele Linke nicht gegen den Staat, der uns diese Rechte nimmt — sie rebellieren gegen die ohnehin wenigen Rebellen. Der Grund hierfür hat teilweise einen plausiblen Kern. Auch „Rechte“ sind auf den Zug der Demonstrationen für unsere Grundrechte aufgesprungen — auch wenn solche Menschen als Freiheitshelden wenig glaubwürdig sind. Aber welche Schlussfolgerung ziehen wir aus dem Dilemma? Bedeutet „Antifaschismus“ nun, den überbordenden Staatsautoritarismus einfach durchzuwinken? Sollte man gegen arbeitende Menschen, nur weil diese sich nicht korrekt ausdrücken, den Schulterschluss mit den neoliberalen Kriegsparteien suchen? Eine Gruppe von Linken hat einen offenen Brief verfasst und mahnt zur Differenzierung.
„Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten! Wer war dabei? Die Linke Partei!“
Rechte Vordenker und Mitläufer versuchen seit jeher, Bewegungen für sich zu vereinnahmen. So läuft es auch bei den Demonstrationen gegen die Einschränkungen der Grundrechte im Zuge der Anti-Corona-Maßnahmen. Doch viele Menschen, die sich als Linke verstehen, vergessen das nur allzu oft. Weil Rechte und Rechtsextreme auf den „Anti-Corona-Zug“ aufspringen, geschieht, was schon aus der Zeit der Mahnwachen für Frieden 2014, von Occupy 2011 oder den Anti-Hartz-IV-Protesten 2004 bekannt ist: Linke, die moralisch besonders korrekt sein wollen, werfen den Wunsch nach der Einhaltung der Grundrechte in einen Topf mit neofaschistischem Gedankengut, nur, weil aus dieser Ecke ebenfalls ein Grummeln gegen die Einschränkungen zu hören ist. Sie demonstrieren nun gegen die, die Grundrechte einfordern, anstatt aufzuklären, politische Bildung und Klassenbewusstsein zu fordern.
Das sei keine linke Haltung und fördere die fortschreitende Verwirrung um die politischen Kategorien „links“ und „rechts“, findet eine Gruppe von Linken, die in unterschiedlichen Organisationen und Kämpfen aktiv sind. Gemeinsam haben sie nun einen offenen Brief „Von Linken an Alle“ verfasst, den inzwischen mehr als 130 Menschen auf einer dafür eingerichteten Facebookseite mitunterzeichnet haben.
„Die aggressiven Demonstrationen gegen Proteste, bei denen sich die Organisatoren sehr klar gegen Rassismus, Nationalismus und Ausgrenzung ausgesprochen haben, haben uns in den sozialen Netzwerken zusammengeführt“, sagte eine Mitverfasserin auf Rubikon-Anfrage. Linke müssen ihrer Ansicht nach dafür kämpfen, „dass lohnabhängige Menschen ihre gemeinsamen Interessen entdecken und sich international verbünden“. Außerdem, so erklärte sie, hätten Linke für wissenschaftliche Aufklärung einzutreten.
„Und hier ist eben nicht alles so klar, wie es die Erzählungen vorgaukeln, auf denen die Einschnitte beruhen.“
Letzten Endes gehe es darum, dass „Klassenbewusstsein nicht vom Himmel fällt“. Linke müssten dieses gerade in die Bevölkerung tragen.
Widersprüche im Denken, Fühlen und Handeln bei Menschen, die sich bislang eher weniger mit Politik befasst hätten, gehörten dazu. Sie dürften nicht niedergebrüllt sondern müssten diskutiert werden. Vielfach würden es Organisatoren und Teilnehmer auch gar nicht merken, wenn sich Rechte und Rechtsextreme geschickt in ihren Strukturen breit machen, mahnte sie. Hier sei „Hilfe und Kommunikation viel sinnvoller als plumpes Gegenhalten“. Letzteres schade nur.
Rubikon dokumentiert im Folgenden den „Offenen Brief von Linken an Alle“ unter dem Titel: „Nicht überall, wo links drauf steht ist links drin.“
Nicht überall, wo links draufsteht, ist links drin
Offener Brief von Linken an Alle
In vielen Städten protestieren Menschen gegen die Corona-Maßnahmen und für die Einhaltung des Grundgesetzes. Ja, mancherorts sind die Proteste entweder von der AfD initiiert oder bereits übernommen worden. Aber längst nicht überall. Ein Beispiel dafür ist Leipzig.
Dort haben sich die Organisatoren unter Beifall gegen Rassismus, Nationalismus und Gewalt ausgesprochen. Die Redner forderten ein Ende der Maßnahmen, die die Bundesregierung bis heute nicht gerechtfertigt habe. Sie warnten vor Kollateralschäden wie Jobverlust, Armut, Depressionen und Nichtbehandlung anderer Krankheiten. Einer geißelte zugleich den Kapitalismus und das Geldsystem. Eine Rednerin hatte Angst vor nicht validierten Impfungen. Kritisiert wurde auch der Umgang mit den Kindern — geschlossene Tagesstätten und Schulen, Kinder, die abgehängt würden und psychische Probleme entwickelten. Vor allem aber bangten die Protestler um ihre Grundrechte.
Vieles, was auf diesen Demos gesprochen wird, mag nicht zum Wortschatz und Denkmuster bildungsbürgerlicher Moralapostel passen. Und es mag vielen nicht gefallen, die sich für gute Antifaschisten halten. Möglicherweise tummelte sich unerkannter Weise irgendwann einmal sogar ein echter Nazi auf einer dieser Demos, die, und das ist immer wieder zu betonen, trotzdem nicht von rechtsextremen Organisationen angemeldet wurden. Was auf Veranstaltungen wie in Leipzig gesagt wird, ist selbstverständlich dennoch oft widersprüchlich.
Diese Widersprüchlichkeit ist völlig normal in einer Welt, in der die gesamte Wirtschaft einzig auf Maximalprofite ausgerichtet ist, in der unendliche Armut grassiert bei gleichzeitiger gigantischer Überproduktion, die auf eine ökologische Katastrophe zusteuert und in der eine unsichtbare Profitmaschine alle auf die eine oder andere Weise unterjocht.
Aber die Forderungen der Demonstranten nach ihren Grundrechten sind und bleiben trotz allem sehr legitim.
Doch gegen diese Demos in Leipzig und anderswo gab und gibt es Proteste. Der Hohn ist: Die Gegner, in Leipzig ein bürgerliches Bündnis aus Grüner Jugend, Jusos, Tierschutzpartei, Linksjugend, „Antideutschen“ und anderen verunglimpfen die Teilnehmer pauschal als Nazis, rechte „Verschwörungstheoretiker“ und Antisemiten. Solche Begriffe werden von vielen Linken einfach unkritisch übernommen.
Es werden auch unzulässige Verbindungen geknüpft zu Rechten, die vielleicht am Rande einer solchen Demo gesichtet wurden, aber den Organisatoren wahrscheinlich nicht mal bekannt waren.
Jeder erfahrene Linke weiß, dass die Rechte seit jeher versucht, soziale Anliegen und Proteste zu kapern. In solchen Fällen muss man die Unerfahrenen aufklären, nicht aber sie beschimpfen.
Besonders zynisch: Gegendemonstranten, die großteils prokapitalistischen Parteien angehören, welche Kriege und Waffenhandel, Entrechtung von Geflüchteten, Hartz IV gegen Arme und andere Schweinereien des kapitalistischen Staats mit durchgepeitscht und oft über Jahre verteidigt haben, beleidigen Menschen, die sich für Grundrechte für alle einsetzen und sich explizit antirassistisch positionieren, als rechte Spinner. DAS ist ein Affront gegen alle Linken. Diese Schreier tragen dazu bei, die Begriffe links und rechts weiter zu verwirren und Menschen nach rechts zu treiben.
Linkssein bedeutet nicht, gemeinsam mit bürgerlichen Kapitalismusverwaltern Lohnabhängige übel zu beschimpfen und zu beleidigen. Linkssein bedeutet, auf der Seite aller Unterdrückten für die Gleichwertigkeit aller Menschen und gegen jede Ausbeutung und Entrechtung zu kämpfen. Wer immer das gegenwärtige Unterdrückungssystem verteidigt, ist selbst rechts, nicht links.
Wir als linke Antikapitalisten, die in verschiedenen Parteien oder Gruppen aktiv sind, distanzieren uns von solch einer Vereinnahmung des Begriffs links durch bürgerliche Klüngel!
Wir Linken stehen dagegen an der Seite aller beschäftigten und erwerbslosen Lohnabhängigen, egal welcher Herkunft und Hautfarbe, egal welchen Geschlechts und welcher sexuellen Orientierung.
Die Aufgabe von Linken, unsere Aufgabe ist es, all diese Angehörigen der unterdrückten Klasse zusammenzubringen, mit ihnen gemeinsam zu kämpfen für ein besseres Leben für alle, gegen die fortschreitende Enteignung unserer Klasse durch die herrschende Klasse.
Wir Linken sehen die Probleme der einfachen lohnabhängigen Menschen hier in Deutschland, in Europa und global im Zusammenhang. Wir teilen die Ängste der Demonstranten vor einem zunehmend autoritären Staat und einem Verlust vieler einst hart erkämpfter Grundrechte.
Wir Linken erkennen, dass Coronapandemie und Wirtschaftskrise auf Kosten der Armen, vor allem der Ärmsten weltweit gemanagt werden. Wie in jedem Krieg ist das Gros der menschlichen Kollateralschäden in den Reihen der Armen zu finden. Arme sind von vornherein weniger gesund. Arme haben kaum oder keinen Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung. Arme verlieren ihre kläglichen Einkommen und haben keine Rücklagen. Millionen Armen weltweit droht die Existenzvernichtung durch die Krise. Wir wissen: Aktuell hängen unzählige Menschenleben an den wirtschaftspolitischen Entscheidungen auch der Bundesregierung.
Wir Linken sind uns bewusst, dass die kapitalistischen Eigentums-, Produktions- und Herrschaftsverhältnisse die von den Demonstranten angeprangerten realen Probleme verursachen. Das betrifft auch den politischen Umgang mit der Krise zugunsten einiger aufstrebender Fraktionen des Großkapitals. Wir sehen die ökologische Zerstörungsgewalt der immer schlimmere Krisen produzierenden Profitmaschine, welche die Existenz einer Mehrheit der Menschen massiv bedroht — mit oder ohne Corona.
Darum sehen wir Linken die Notwendigkeit eines gemeinsamen, internationalen Klassenkampfes von unten.
Das bedeutet, dass wir Linken mit allen bedrohten Lohnabhängigen, Verarmten, Elenden, Fliehenden, unabhängig von der Herkunft, der Religion, des Geschlechts, der Hautfarbe und der sexuellen Orientierung, zusammenstehen.
Wir Linken sehen aber auch, dass politisches Bewusstsein nicht vom Himmel fällt. Wir sehen uns in der Pflicht, die unterdrückte Klasse aufzuklären, statt sie für vermeintlich oder tatsächlich falsche Gedanken mit Häme zu überschütten. Wer letzteres tut, handelt nicht links, sondern stärkt die Position der Ausbeuter, Unterdrücker und Kriegstreiber, denn er betreibt ihr Verwirrspiel mit und treibt Menschen erst recht in die Fänge von rechtsextremen Organisationen.
Links ist der internationale Kampf für die Gleichwertigkeit aller Menschen, gegen die Ausbeutung von Menschen durch Menschen, gegen ökonomische und politische Herrschaft einer kleinen besitzenden Klasse über viele Besitzlose. Es lebe die internationale Solidarität im Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutungs-, Kriegs- und Profitmaschine.
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