Die Demokratie-Illusion

„Warum schweigen die Lämmer?“, fragt Rubikon-Beiratsmitglied Rainer Mausfeld in seinem soeben erschienenen Buch.

Geschickte PR und Intellektuelle im Sold der Herrschenden haben den modernen Mensch zum Konsumenten degradiert. Wie schaffen wir es, die hypnotische Wirkung dieser Propaganda abzuschütteln? Wie bringen wir unsere ganz persönlichen Wünsche und die Perspektive gemeinsamer sozialer und ökologischer Interessen zusammen? Mit seinem neuen Buch beflügelt Rainer Mausfeld die Sehnsucht nach Veränderung.

Rainer Mausfeld gedruckt. Endlich. „Warum schweigen die Lämmer?“ Der Verlag hat ordentlich investiert. Fester Einband, Schutzumschlag, üppig illustriert. Volle Vortragsäle und YouTube-Reichweiten, von denen manche Popmusiker nur träumen können: Mausfeld hat Bestseller-Potenzial, obwohl er wie ein Akademiker aussieht und auch so spricht und schreibt. Für die akademische Medienforschung ist dieser Erfolg ein Alarmsignal. Was hat dieser Mann, was wir nicht haben? Und: Was können wir von ihm lernen?

Man kann dieses Problem noch zuspitzen: Rainer Mausfeld ist Psychologe im Ruhestand. Mit Demokratie und Medien hatte er eigentlich nie etwas am Hut, zumindest nicht in Forschung und Lehre. Das Buch sei „nicht geplant“ gewesen, schreibt er denn auch in der Einleitung. Ohne die „Initiative“ und den „Enthusiasmus“ des Westend-Verlegers Markus J. Karsten würde es diese Sammlung von Texten und Interviews nicht geben. Warum schreiben Soziologen, Politik- und Kommunikationswissenschaftler solche Bücher nicht?

Für Mausfeld selbst ist die Sache klar. Die Sozialwissenschaften sind für ihn Wasserträger der Herrschenden. Punkt. „Methoden sozialer Kontrolle“ bereitstellen und dabei helfen, einen „neuen Menschen“ zu schaffen, „dessen gesellschaftliches Leben in der Rolle des politisch apathischen Konsumenten aufgeht“ – eine neue „Form des Totalitarismus, der von der Bevölkerung nicht als Totalitarismus empfunden wird“. Dafür müsse das Bewusstsein manipuliert werden, dafür brauche es Ideologien wie den Neoliberalismus und die Idee, dass wir auch dann von Demokratie sprechen können, wenn „kompetente und dem Gemeinwohl verpflichtete Eliten die Geschicke der Gemeinschaft in möglichst effizienter Weise lenken“, ganz ohne uns, versteht sich.

Um das nachvollziehen zu können, muss man Mausfelds Menschen- und Gesellschaftsbild kennen. Als Psychologe ist er ein Mann der Perspektiven. Der Ort bestimmt unseren Blick. Alter, Geschlecht, geistige Fähigkeiten, historische und soziale Position. Mausfeld interessiert das „innerpsychische Spannungsverhältnis“ – das nur als Beleg für die akademische Sprache: Wie schaffen wir es, unsere ganz persönlichen, privaten Wünsche und die „Perspektive gemeinsamer sozialer und ökologischer Interessen“ zusammenzubringen? Schaffen wir das überhaupt, bei all den unterschiedlichen Perspektiven und Interessen, die schon in einem kleinen Land wie diesem aufeinanderprallen?

Seine Antwort: Ja, wir schaffen das. Die Natur hat uns dazu befähigt, aber wir müssen diese Gabe auch nutzen. Wir müssen das vor allem deshalb, weil die Idee der Demokratie nur „von unten“ attraktiv sei, „aus Sicht des Volkes“. Da wir den Zwang und damit auch das Konzept der Freiheit kennen, wollen wir uns „autonom fühlen“ und keinem anderen dienen. Für die Mächtigen dagegen, sagt Mausfeld, sei das ein Albtraum. Herrschaft einschränken, gar an den Pöbel abgeben? Nein, danke. Die Lösung („wenn man blutige Revolutionen vermeiden möchte“): eine „Ersatzdroge“ für die Bürgerinnen und Bürger. Eine „Illusion von Demokratie“.

Rainer Mausfeld ist mit Ingeborg Maus Radikaldemokrat. Die Anerkennung aller als Freie und Gleiche ungeachtet ihrer faktischen Differenzen. Eine egalitäre Vision, die den öffentlichen Debattenraum braucht, um den Frieden nach innen und nach außen zu sichern – als Ort, an dem Pluralität und Heterogenität in Einklang gebracht werden können, als „Herzstück“ der Demokratie, weil wir hier zu „argumentativen Anstrengungen“ gezwungen sind, um unsere subjektiven Interessen zu objektivieren.

Meinungsvielfalt heißt für Mausfeld folgerichtig: alle relevanten Informationen unverkürzt und ein öffentlicher Debattenraum, der die Pluralität der Gesellschaft spiegelt und nicht durch ökonomische oder politische Interessen dominiert wird.

In seiner Kritik am Ist-Zustand geht Mausfeld weit über das hinaus, was die akademische Medienforschung empirisch zu bieten hat. Auf den Punkt gebracht: Der öffentliche Debattenraum ist seit den 1970er Jahren erheblich geschrumpft – mit fatalen Folgen für die Gesellschaft, da den Entscheidungsträgern nur das zur Verfügung stehe, was dort zugelassen sei. Meinungskontrolle durch Einschränkung des öffentlichen Debattenraums. Das Spektrum strikt begrenzen und in dem Rahmen, der übrigbleibt, eine sehr lebhafte Debatte zulassen.

Wer die Grenzen zieht? Rainer Mausfeld verweist auf Public Relations und Intellektuelle im Sold der Herrschenden – also: auch auf die Sozialwissenschaften – sowie auf das Propagandamodell von Hermann und Chomsky, in dem das, was wir über die Welt erfahren können, fünf Filter durchläuft, die die Interessen der Mächtigen bedienen: Medienbesitz, Medienfinanzierung, Quellen, Störfeuer, Kontrastideologie – „wir“ und „die anderen“.

Mausfeld blickt in die Köpfe der Journalisten und bezichtigt sie der „Selbstlüge“, wegen der „Behauptung, die Medien würden uns ein angemessenes Bild der gesellschaftlichen und politischen Situation verschaffen“. Er zählt „Techniken“ auf, die zum „Standardgeschäft der Massenmedien“ gehören würden (deklariere Fakten als Meinungen, fragmentiere Fakten, ändere den Kontext. Er fragt nach der „Indoktrinationsfunktion von Ausbildungssystemen“, nach der „Umdeutung“ von Begriffen wie Freiheit und Demokratie und nach einer der „wohl erfolgreichsten Tiefenindoktrinationen der Geschichte“ – die USA als „benevolentes Imperium“. Nur: Forschungsliteratur hat er dazu kaum gefunden.

Womit wir bei der Kommunikationswissenschaft wären, einer vergleichsweise kleinen und jungen akademischen Disziplin, die vor allem deshalb existiert, weil junge Menschen „irgendwas mit Medien“ machen wollen. In Deutschland gibt es dieses Fach seit 1916, seit Karl Bücher an der Universität Leipzig ein Institut für Zeitungskunde gründete. Dieser Karl Bücher hat dann auf Wunsch der bayerischen Räteregierung ein Gesetz zur Pressereform vorgelegt. Kern: Öffentliche Kommunikation ist so wichtig, dass wir sie nicht kommerziellen Interessen überlassen können. Öffentliche Kommunikation ist ein Lebenselixier der Gesellschaft, genau wie Wasser und Strom. Also kommunalisieren, also vergesellschaften. Man weiß, was aus der Räteregierung geworden ist. Mit ihr verschwand Büchers Entwurf, und seine Zeitungskunde – die dann Zeitungswissenschaft hieß – hat sich wenig später den Nazis angedient.

Manche Fachvertreter würden diesen Teil der Disziplin-Geschichte gern streichen und erst in den 1960ern beginnen, mit dem Import der Kommunikationswissenschaft, die Paul Lazarsfeld in den USA erfunden hatte. Ein Import aus dem „benevolenten Imperium“ (Mausfeld), aus dem Mutterland der Demokratie.

Eine feine Idee, auch wissenschaftspolitisch. Über einen Paradigmenwechsel, Umtaufen und eine starke Schulter die Schmach der zwölf dunklen Jahre tilgen. Nur: Was dort über den Teich kam, war administrative Forschung, entstanden, weil Politiker und Wirtschaftsbosse wissen wollten, wie sie die Menschen lenken können – im heißen Krieg gegen Nazideutschland und im kalten gegen die Sowjetunion, im Kampf um Absatz und um Wählerstimmen. Um aus einem Aufsatz zu zitieren, den ich gerade mit Uwe Krüger in der Fachzeitschrift Publizistik veröffentlicht habe:

„Zugespitzt handelt es sich um Propagandaforschung zum Nutzen der Propagandisten – wobei ‚Propaganda‘ hier nicht nur für psychologische Kriegsführung steht, sondern im weitesten Sinn für strategische oder interessengeleitete Kommunikation.“

Propaganda durchschauen, sich von mächtigen Akteuren und Interessen emanzipieren? Es gibt Forschung dazu, klar. Aber eine Professur oder wenigstens eine Dauerstelle bekommt man damit im akademischen Betrieb eher nicht.

Weiter im Text (des Krüger-Meyen-Aufsatzes):

„Systemkritik, Zweifel am Bestehenden, gar transformative Forschung, die sich für andere Disziplinen, gesellschaftliche Akteure und neue Wissenschaftsformen öffnet und so zum Katalysator für sozialen Wandel werden kann: All das steht nicht in der Geburtsurkunde des Fachs. Im Gegenteil: Die Erfinder der Propagandaforschung waren sich sicher, auf der richtigen Seite zu stehen, und ihre Erben an den Universitäten müssen offenbar nicht einmal darüber nachdenken, was sie ihren Studierenden mitgeben wollen, so lange diese in Scharen kommen und so auch den Strom an Publikationen nicht abreißen lassen, obwohl der Erkenntnisfortschritt in der Medienwirkungsforschung gegen Null tendiert. Wir stehen auf den Schultern von Riesen: Das mag schon sein. Diese Riesen haben aber Konzepte entwickelt, die darauf ausgerichtet sind, Medienangebote, PR oder redaktionelle Abläufe zu optimieren, die Ordnung im Westen und seine Fortschrittserzählung zu legitimieren und die eigene Überlegenheit zu beweisen. Die Forderung nach einer ‚Großen Transformation‘ falsifiziert diesen Ansatz“ – genau wie der große Bogen, den Rainer Mausfeld schlägt, und der Erfolg, den er damit hat.

Es gibt Hoffnung, das schon. Eine dieser Hoffnungen heißt Netzwerk Kritische Kommunikationswissenschaft. 70 Teilnehmer bei der Gründungstagung 2017 in München, fast 300 AbonnentInnen der Mailingliste, eine Flut an Einreichungen für die zweite Tagung zum Thema „Ideologie und Ideologiekritik“ im November 2018, wieder in München. Sehnsucht nach Veränderung im Fach sowie in der Gesellschaft, wenn auch zunächst eher an den Rändern und im wissenschaftlichen Nachwuchs. Das Buch von Rainer Mausfeld kann diese Sehnsucht beflügeln und ihr zugleich eine Richtung geben.


KenFM im Gespräch mit: Prof. Rainer Mausfeld ("Warum schweigen die Lämmer?")


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