Die Demokratie der Stereotypen

Herrschaftsdiskurse beinhalten oft die Kunst der Vereinfachung, um die Wahlbürger in die gewünschte Richtung zu lenken.

Demokratien stürzen Politiker, die in ihrem Rahmen agieren, in ein Dilemma. Einerseits brauchen sie die Bürger, um in einer Grundatmosphäre breiter Unterstützung handeln zu können; andererseits bezweifeln viele Regierende, dass Bürger als politische Laien Entscheidungen mit der ihnen selbst eigenen Brillanz treffen können. Die Lösung besteht darin, sich zwar von den Menschen wählen zu lassen, diese aber vorher so zu manipulieren, dass sie nur diejenigen politischen Lösungen zu wollen vermögen, die zuvor von ihnen, den Polit-Profis ausgewählt wurden. Ein Mittel, um diese Manipulation zu bewerkstelligen, sind Stereotype. Es sind Gedankengänge, die komplexe Sachverhalte stark vereinfachen, sodass sie von Wahlbürgern mühelos verstanden werden und diese zugleich in die gewünschte Richtung gelenkt werden. Intendiert ist ein Einheitsstaat, der jedoch nach außen hin von einer Pluralismus-Simulation gestützt wird. Voraussetzung für eine wirkliche Emanzipation der Bevölkerung wäre eine Trennung von Bildungssystem, Medien und Staat, wie sie ansatzweise schon von Rudolf Steiner gedacht wurde.

Der Einheitsstaat, wie ihn Rudolf Steiner nennt, muss mit Vereinfachungen und Stereotypien arbeiten, um die Mehrheit der Bevölkerung davon zu überzeugen, dass er legitim und zum Wohle der Mehrheit der Bevölkerung arbeitet. In der Schweiz, als dem urdemokratischen Land par excellence, wurde diese Illusion in vielerlei Hinsicht perfektioniert.

Ich möchte im Folgenden darauf eingehen, weshalb der Staat, wenn er seinen Einfluss auf die Bevölkerung nicht verlieren will, mit diesen Techniken arbeiten muss. Der demokratische Einheitsstaat kann seine Legitimation nur aufrechterhalten, indem er glaubhaft machen kann, im Interesse der Mehrheit zu handeln. Da diese sogenannte Mehrheit nie permanent durch den Staat repräsentiert wird, kann der Staat dieses Versprechen in Wirklichkeit nicht einlösen. Nichtsdestotrotz versprechen Verfassungen der Mehrheit der Bevölkerung zugute zu kommen. Wie tun sie das?

Die Funktionen der Verfassungen

Die Verfassung eines Staates, sei es diejenige der Schweiz oder jedes anderen Staates, hat zwei Funktionen. Erstens — und das zeigt sich auch historisch — hat sie die Aufgabe, einheitsstaatliche Gesellschaftsstrukturen zu befestigen und im Interesse bestimmender Kreise aufrechtzuerhalten. Die Verfassung soll der Bevölkerung ihre Rechte im Interesse des Gesamtkomplexes zusprechen, die Bevölkerung soll durch diese Rechte aber auch im Interesse des Staates verfügbar bleiben.

Auch wenn die Menschenrechte im Zuge der Aufklärung als Abwehrrechte gegenüber dem Staat entstanden sind (1), sind es Rechte, die genauso im Interesse des herrschenden Systems gesehen werden können wie in dem der Bevölkerung.

Als die Schweiz 1848 über ihre erste bundesweite Verfassung abstimmen konnte, wurden einige Kantone bei besagter Abstimmung übervorteilt und andere dazu gezwungen, sich der Eidgenossenschaft anzuschließen, obwohl sie die Verfassung demokratisch abgelehnt hatten. Dies war nach damaligem Recht ein Verfassungsbruch (2). Daran sieht man schon, dass auch in der Schweiz der Einheitsstaat nicht vollständig demokratisch entstehen konnte.

Verfassungen haben — siehe das historische Beispiel — einen stark inaugurierenden Charakter. Sie sollen dem Handeln und der Einflussnahme des Staates eine Legitimation verleihen.

Da das demokratische System auf eine Bevölkerung angewiesen ist, die wirtschaftliche, gesellschaftspolitische und kulturelle Strukturen mitträgt, kann der Staat jedoch weder auf seinen Einfluss auf die Bevölkerung verzichten, noch kann er die Rechte der Bevölkerung in jedem Fall bedingungslos gewährleisten.

Es sind daher in der Bundesverfassung auch Ausnahmen vorgesehen, die den Regierenden ermöglichen, Grundrechte einzuschränken oder anders zu definieren; zum Beispiel mittels Not- und Kriegsrecht. Regierende fühlen sich entsprechend oft wenig auf die Verfassung verpflichtet. Daher die ständige Klage darüber, dass das Handeln von Regierungen grundrechtswidrig sei.

Politiker haben jedoch in vielen Fällen gar nicht die Möglichkeit, sich vollständig nach der Verfassung zu richten. Sie handeln oft im Interesse derjenigen Lobbys, die sie gewählt haben, aber auch der Bundesverwaltung, welche die Rahmenbedingungen für ihr politisches Handeln setzt. Die Verfassung ist für den Politiker, wie jedes Gesetz, ein Abstraktum, das nie Antworten für jeden konkreten Fall gibt und darüber hinaus interpretierbar bleibt. Aus demselben Grund sind Volksinitiativen, die die Verfassung abändern wollen, nicht selten unzulänglich oder bleiben Papiertiger.

Demgegenüber legt die Verfassung viele Dinge fest, die im Sinne der Dreigliederung des sozialen Organismus durch den Staat gar nicht festgelegt werden können und sollen. So hält Art. 62, Abs. 2 der Bundesverfassung fest, der Grundschulunterricht müsse „unter staatlicher Leitung oder Aufsicht“ stehen. Diese Bestimmung wäre, wie viele andere, die die Verfassung in Bezug auf das Geistesleben macht, aufzuheben.

Eine solche Bestimmung mag im 19. Jahrhundert sinnvoll gewesen sein, wo es darum ging, den Schulunterricht der kirchlichen Hierarchie in den Kantonen zu entreißen und ihn bedingungslos jedem Kind zur Verfügung zu stellen. Im 21. Jahrhundert jedoch, wo der Staat seinen Einfluss im Schul- und Hochschulbereich zunehmend unheilvoll geltend macht, ist diese aufzuheben.

Wir leben in einer Zeit, in der die Bevölkerung ihr Geistesleben vollständig selbst und frei verantworten muss, wenn sich mündige Bürger geistig entwickeln sollen. Der Staat sorgt hingegen für Konformität im Schulsystem, übt in vielschichtiger Weise Zwang aus und sorgt im Ganzen für eine Nivellierung geistiger Fähigkeiten, statt dem Individualismus des Kindes Rechnung zu tragen.

So wurde das Notensystem trotz eindeutiger Studienlage und vielfach bewiesener Nachteiligkeit für den Schulunterricht, beispielsweise im Kanton Zürich, immer noch nicht abgeschafft. Der Wunsch, die Kinder über das System Schule für den Staat zu disziplinieren und zu tüchtigen Staatsbürgern zu machen, verhindert, dass die Entfaltung der Kinder in den Vordergrund gestellt werden kann. Selbst Eltern sind häufig, auch wenn sie die Entfaltung ihrer Kinder wünschen, mehr daran interessiert, diese zu systemkonformen Bürgern zu machen, als daran, dass sie die Welt verändern.

Es ist wichtig zu verstehen, dass der Einheitsstaat diese Nivellierung braucht, wenn er im Interesse derjenigen Lobbys, die ihn bestimmen, handelt. Keine der etablierten Parteien in der Schweiz ist an einem freien Schulsystem, an Bildungsgutscheinen oder freier Bildungswahl interessiert. Die Parteien wissen, dass sie im Interesse derjenigen Machtstrukturen, die sie bestimmen, keine freie Schulwahl zulassen können. Denn würden sich die Kinder wirklich in einem freien Bildungssystem entfalten, könnte es sehr schnell geschehen, dass etablierte Politik-, Macht- und Staatsstrukturen hinweggefegt würden. Der Einheitsstaat muss deshalb im Interesse der Gesellschaftspolitik, die er betreibt, das Bildungssystem so beibehalten, wie es ist.

So zeigt sich, wie Verfassungen immer auch im Dienst der Erhaltung gegebener Machtstrukturen geschrieben sind und nie ausschließlich im Interesse der Bevölkerung.

Für das ständige Insistieren auf die Verfassung aus der Bürgerrechtsbewegung haben viele Parlamentarier nur ein müdes Lächeln übrig.

Der Sinn von Stereotypen

Von Walter Lippmann stammt das schöne Wort Stereotyp (3). Er machte schon in den 1920er Jahren geltend, dass Bevölkerungen, wenn sie demokratisch regiert werden sollen, dies durch Stereotypen werden müssten. Als Begründung erklärte er, es sei völlig illusorisch, anzunehmen, dass ein durchschnittlicher Staatsbürger durch eine halbstündige Zeitungslektüre in der Lage wäre, komplexe politische, gesellschaftliche Zusammenhänge zu verstehen. Wenn selbst Experten darüber uneinig waren, was die richtige Kriegs-, Handels- oder Gesellschaftspolitik für die USA wären, war es folglich unvorstellbar, dass einzelne Bürger über diese Zusammenhänge zu einem Urteil kämen. Den Bürgern musste folglich erklärt werden, was in ihrem Interesse war und den Zeitungen musste diktiert werden, was im Interesse der Bürger, der Politiker und damit im Interesse ihrer selbst ist. Um diese Zusammenhänge auf den Punkt zu bringen, prägte Lippmann den Begriff Stereotyp.

Stereotypen sind Schlagworte, unter denen man komplexe Sachverhalte so zusammenfassen und vereinfachen kann, dass sie populär und verständlich werden.

So manipulativ und autoritär Lippmanns Worte auch klingen, in Bezug auf den Einheitsstaat hat er Recht behalten. Der Einheitsstaat muss komplexe Zusammenhänge so vereinfachen, dass der durchschnittliche Bürger sie versteht. Er muss sie popularisieren, will er klar machen, weshalb der Bürger mit der Staats- und Regierungspolitik einverstanden sein soll. Dies ist eine wesentliche Aufgabe von Parlament und Regierung. Der Politiker kann in vielen Fällen sein politisches Handeln nicht in allen Einzelheiten erklären, noch will er preisgeben, im Interesse welcher Gruppierungen er wirklich handelt. Folglich muss er Stereotypen schaffen, um gewählt zu werden. Auch dies ist eine Folge des einheitsstaatlichen Systems, in dem wir leben.

So sehen sich Politiker durch das System, das sie geschaffen haben, zu Unaufrichtigkeit, Übertreibung, Kaschierung und Übervorteilung gezwungen, wenn sie Einfluss erhalten wollen. Demgegenüber erwartet der durchschnittliche Wähler, dass Politiker aufrichtig, loyal, transparent, geradlinig und charakterstark sind.

Das politische System des Einheitsstaats befördert jedoch das genaue Gegenteil. Der gewählte Politiker muss im Interesse seiner Wählerschaft, bei der die ihn finanzierende Lobby selbstverständlich das größere Gewicht hat, glaubhaft machen, dass er im Interesse der Bevölkerung handelt.

Dazu kann er zum Beispiel den politischen Gegner des anderen Meinungs-Spektrums anprangern. Er konstruiert dazu — vor allem in der Wahlphase — bestimmte Stereotypen, mit denen er sich gleichzeitig vom politischen Gegner abgrenzen und selbst profilieren kann. Diese Stereotypen kann man folgendermaßen ins klassische, mittlerweile obsolet gewordene, Rechts- Linksschema einordnen:

Erfahrene Politiker wissen selbstverständlich, dass dieses Schema keine Realitäten beschreibt. Sie halten dennoch, zusammen mit der etablierten Politikwissenschaft, an diesen Schemata fest. Wieso? Weil es sich als Ablenkungs- und Profilierungsinstrument als so ungeheuer nützlich erwiesen hat, dass es sowohl medial als auch gesellschaftspolitisch gute Dienste leistet. Auf diese Art lässt sich die Bevölkerung in verschiedene Gruppierungen spalten, die etablierten Parteien können ihre Wählerschichten bei der Stange halten und die Politiker können sich im Debattierclub voneinander abgrenzen. Dass sie hinter den Kulissen, wenn es um Themen von wirklich fundamentaler Bedeutung geht, gemeinsame Sache machen, nennt man offiziell Sachpolitik — oder Konkordanzpolitik in der Schweiz. Damit will man schlicht zum Ausdruck bringen, dass es Dinge gibt, die eben für die Machtpolitik des Einheitsstaates von übergeordneter Bedeutung sind. Hier schweigen die politischen Rivalitäten und SPD- und SVP-Politiker, der SVP entspräche in Deutschland etwa die AfD, können ganz ungezwungen miteinander ins Bett gehen.

Sehr aufschlussreich für diese Beziehung ist auch das Bild, das das Schweizer Parlament, weltweit einmalig, in der Coronazeit, abgegeben hat. Während eine demokratische Kontrolle und Begleitung der Regierung in ihrem Notrechtshandeln so wichtig wie nie zuvor gewesen wäre, verabschiedeten sich die Parlamentarier beziehungsweise Abgeordneten ins selbst verordnete sichere Homeoffice. Es gibt eben Themen, die über alle politischen Grenzen hinweg für Übereinstimmung sorgen. So kursierte damals der Witz: Alle Parteien sind zufrieden. Für die SVP wurden die Grenzen dicht gemacht. Die SPD kann an Coronageschädigte umverteilen, die Wirtschaft wird für die FDP mit Milliarden gestützt, und schließlich mussten ja alle zuhause bleiben, was die CVP freut, da dann die Familien vereint waren.

Wichtig zu verstehen ist: Der Einheitsstaat muss sein Handeln legitimieren. Will er es jedoch verständlich machen, ist er ebenso wie die Parteien, auf Stereotypen und auf die Medien angewiesen. Die Medien stehen daher ebenfalls im Dienst des Einheitsstaates. Das nennt man in der Schweiz „Service public“ (4). Wer das ändern will, der muss die Medien dem Zugriff des Einheitsstaats entziehen. Folglich müssen Medien in Zukunft unabhängig von Staats- und Wirtschaftsmacht betrieben werden. Wird der Staat aber in der gegebenen Struktur beibehalten, ist er darauf angewiesen, seinen Einfluss auf die Medien auszuüben und ebenfalls auf die Bildung.

Die erste, unerlässliche Bedingung für eine wirkliche Weiterentwicklung und Emanzipation der Bevölkerung in Richtung Freiheit und Unabhängigkeit von Staat und staatlich wirksamen Lobbys ist daher die Trennung von Bildungssystem, Medienkomplex und Staat.

Dies war Rudolf Steiner 1919 klar, als er zur Gliederung in die drei Bereiche des Geisteslebens, Rechtslebens und Wirtschaftslebens aufgerufen hat. Und dies war Walter Lippmann klar, als er 1922 die Bedingungen definierte, unter denen der Einheitsstaat zu bestehen haben wird. Es sollte uns heute wieder klar werden, wenn wir eine demokratischere und autonomere Gesellschaft anstreben.