Die DDR und ihre Opfer

Während der Wende wurde die Chance auf wirkliche Selbstbestimmung des Volkes vertan — die Menschen suchten sich schnell neue Herren aus dem Westen.

Eine kritische Betrachtung dessen, was den Menschen in der DDR im Jahr 1990 versprochen wurde, führt in der Regel zu der Erkenntnis, dass diese Versprechen nicht gehalten wurden. Die Mächtigen und die Beherrschten des untergehenden Systems wurden kollektiv zu Opfern eines neuen. Es stellt sich aber die Frage, ob eine derart verkürzte Betrachtungsweise für die Herausforderungen der Gegenwart tatsächlich hilfreich ist. Eine Mitwirkung der ehemaligen DDR-Bürger im Prozess ihrer Eingliederung in das westliche, kapitalistische System kann nicht geleugnet werden. Die in vielem offene Situation der Übergangsmonate wurde nicht genutzt, um sich auf eigene Füße zu stellen. Eher sah es so aus, als ob sich Schafe, die ihren alten Hirten verloren hatten, rasch unter die Fittiche eines neuen flüchteten. Ein Beitrag zum Ost-und-West-Spezial.

Gab es ab 1989 in der DDR weniger einen Systemwechsel als vielmehr einen Machtwechsel? Worin unterschied sich das System der DDR von dem der BRD, wenn wir das Handeln der Menschen im Einzelnen betrachten?

Wenn etablierte Macht — bislang als Glaube in den Menschen manifest — sich auflöst, ergibt sich auch eine ganz neue Möglichkeit der gelebten Rolle: Autonomie. Diese Rolle muss natürlich zuvor erwogen und idealerweise geprobt worden sein, ansonsten wird sie als Möglichkeit gar nicht erst wahrgenommen oder aber es wird vor ihr zurückgeschreckt.

Im politischen System der DDR umfasste der Systemwechsel einen Zeitraum von zwei Monaten. Zwei Monate, in denen etwas tatsächlich völlig anderes grundsätzlich möglich schien. Dieses andere — eh ein zartes Pflänzchen — wurde rasch zertreten.

Die Hinwendung zur neuen Macht wurde entschieden, als die alte Macht noch gar nicht abgetreten war. Dieses Annehmen einer neuen gesicherten Herrschaftsform fand „oben“ wie „unten“ statt. Der Glaube an das bisherige System wurde durch den an das „neue“ System ersetzt.

Am 1. Dezember 1989 beschloss die Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), den Führungsanspruch der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) aus der Verfassung der DDR zu streichen (1).

Was so hoffnungsvoll als Auflösung bestehender Machtverhältnisse, hin zu wahrer Basisdemokratie, gedeutet werden möchte, war in Wirklichkeit nur die notwendige Entmachtung zur Erweiterung einer bereits existierenden Macht. Macht gewinnt zuerst in den Köpfen, und erst danach bestimmt sie reale Prozesse.

In derselben Volkskammertagung wurde bereits deutlich, wohin die Reise gehen würde. Die neuen „Guten“ wagten sich vor und hofierten die gerade im Westen auf Hochtouren laufende Propaganda gegen das „chinesische Regime“, das angeblich in Peking ein Massaker auf dem Tiananmen-Platz angerichtet haben sollte. Das Protokoll gibt wieder:

„Auf derselben Tagung stellte der Abgeordnete Richard Wilhelm den Antrag, dass die Volkskammer sich von der von ihr am 8. Juni 1989 verabschiedeten China-Resolution distanzieren solle“ (2).

Richard Wilhelm, ein CDU-Abgeordneter, sagte wörtlich:

„Das war einer der schwärzesten Tage in der Geschichte unseres Hauses“ (3).

Womit er eine Erklärung der DDR-Volkskammer vom Juni 1989 meinte, in der diese sich gegen die Einmischung in die inneren Belange Chinas gewandt hatte. Die Erklärung führt unter anderem aus:

„Die Abgeordneten der Volkskammer stellen fest, dass in der gegenwärtigen Lage die von der Partei- und Staatsführung der Volksrepublik China beharrlich angestrebte politische Lösung innerer Probleme infolge der gewaltsamen, blutigen Ausschreitungen verfassungsfeindlicher Elemente verhindert worden ist. Infolgedessen sah sich die Volksmacht gezwungen, Ordnung und Sicherheit unter Einsatz bewaffneter Kräfte wiederherzustellen. Dabei sind bedauerlicherweise zahlreiche Verletzte und auch Tote zu beklagen“ (4).

Die Volkskammer war ein Verein von Jasagern im DDR-Machtsystem. Beschlüsse wurden in 99 Prozent aller Fälle einstimmig gefasst, und jeder Abgeordnete hielt sich an die vorgegebene Haltung zu Partei und Staat. Ungeachtet dessen war diese China-Resolution fernab von Klassenkampf und Marxismus-Leninismus. Sie hielt sich an die Regeln des Völkerrechts und wies auf dessen Verletzung hin. Außerdem stützte sie sich auf überprüfbare Fakten und stellte die groben Zusammenhänge jener Tage in China durchaus richtig dar.

Allerdings: Die sich in diesen Wochen neu erschaffenden — weil ja nicht mehr sozialistisch-kommunistisch geprägten — Demokraten befassten sich nicht mit den akuten Problemen des Staates DDR, den sie doch noch immer zu vertreten hatten. Sie holten sich statt dessen Themen ins Haus, an denen sie sich moralisch aufrichten konnten, ohne wirklich ernsthafte Konsequenzen in Bezug auf ihre eigene Rolle im System zíehen zu müssen. Oberflächlich und emotional auftretend, machten sie sich nebenbei für fremde Macht- und Herrschaftsansprüche lautstark bemerkbar.

Meinungsmacht bedeutet, in der Lage zu sein, Geschichte neu zu schreiben. Sie ist tief verstrickt mit jenen, welche die Szenarien produzieren, die zur Schaffung der Narrative — also der veränderten, entwickelten und zu den verfolgten Zielen passenden Geschichten — notwendig sind.

Was Richard Wilhelm damals tat, ist Normalität in der deutschen parlamentarischen Demokratie: Er spreizte sich im Empörungsmanagement, produzierte sich als Fassadendemokrat und verkündete vor aller Welt, dass er verstanden hatte. Eloquent hatte er mit diesem „mutigen“ Schritt ein Zeichen gesetzt, dass er bereit sei, schmerzfrei die Seiten zu wechseln. Er dienerte sich seinen neuen Herren an und kümmerte sich um seine persönliche Perspektive — wie so viele „da oben“.

Und die „da unten“ — waren die anders? Oder handelten sie auf ihrer Ebene nicht ähnlich, weil Menschen nun einmal so gestrickt sind?

Der weitgehend abgeschlossene Wechsel des Systems manifestierte sich im Wechsel der primären Identifikation innerhalb der Gesellschaft von „Wir sind DAS Volk!“ zu „Wir sind EIN Volk!“.

Als Helmut Kohl am 19. Dezember 1989 an der Ruine der Dresdner Frauenkirche vor einem Meer von Deutschland-Fahnen — wo kamen die eigentlich plötzlich her? — seinen Appell an die „Brüder und Schwestern im Osten“ hielt, waren die Würfel gefallen. Diese Rede war eine einzige Inszenierung, sowohl für die Menschen der DDR und der BRD wie auch für die Weltöffentlichkeit. Aber es war eben auch eine Rede, die letztlich von der großen Mehrheit dankbar angenommen wurde. Selbst die sogenannten Hochrufbrigaden, zuvor Stimmungsmacher bei Veranstaltungen der Partei- und Staatsführung, über die sich DDR-Bürger eher amüsierten, erlebten an jenem Dresdner Abend eine Neuauflage (5).

Das gesellschaftliche Bewusstsein fiel wieder dahin zurück, wo es hergekommen war: in die Rolle von Schafen. Schafe, die nun einen neuen Herrn gefunden hatten. Die alten Herren freilich mussten sich neue Herren suchen oder sich in der bisherigen Rolle mit diesen neuen Herrn arrangieren.

Schafe, die Sicherheit gesucht hatten — das ist eine emotionale Grundlage jedweden Herrschaftsverhältnisses —, bekamen ihre Sicherheit. Sie bekamen sie zurück — die Macht war nur anderer Natur. Zwar unterschied sie sich in der Doktrin, in ihrer Ideologie. Doch was beide Systeme boten, das war Sicherheit. Sicherheit ist allerdings nicht zu verwechseln mit Freiheit. Denn wirklich gelebte Freiheit offenbart sich in Autonomie.

Die Freiheit, etwas Neues zu wagen, fordert das Verlassen von Sicherheit explizit heraus. Sie meint das Wagnis, aus den so viel beruhigende Sicherheit versprechenden Grenzen auszubrechen. Sicherheit ist in gewisser Weise — und aus einer anderen Perspektive betrachtet — auch ein Gefängnis, ein selbst gewähltes.

Die DDR gab Sicherheit — Sicherheit in Strukturen, aber vor allem soziale Sicherheit, und es war vor allem der drohende Verlust ebendieser, der die Auflösung der etablierten Machtverhältnisse vorantrieb.

Das zu beschleunigen bedurfte es nur kleiner, aber trotzdem sehr wirkmächtiger Antriebe von außerhalb. Hunderte Deutschland-Fahnen vor der Ruine der Dresdner Frauenkirche im Dezember 1989 waren eine dafür allemal lohnende Investition.

Was versprachen die Opportunisten der von den Parteien des Westens hochgepäppelten Parteien der nunmehr aufgelösten „Nationalen Front“? „Keine Experimente.“

Sie spielten mit der Angst einer Wiederkehr von Kommunisten und Stasi und boten an: Sicherheit. Sie taten das, was bis zum heutigen Tag bei jeder Wahlkampagne innerhalb des parlamentarischen Systems geschieht. Wenn wir allein unseren Emotionen folgen, können wir ein solches Angebot einfach nicht ausschlagen.

Schafe tun nicht. Aber mit ihnen wird getan.

Die Perspektive der Zehntausenden, welche in jener Zeit — der zwischen dem Wechsel des Herrschaftssystems — die DDR verließen, war eh nie anders.

Am 18. März 1990 fanden vorgezogene Wahlen zur DDR-Volkskammer statt (Hervorhebung durch Autor):

„Die Wahlbeteiligung liegt bei über 93 Prozent. Wahlsieger ist die ‚Allianz für Deutschland‘, ein Bündnis aus CDU, Demokratischem Aufbruch (DA) und Deutscher Sozialer Union (DSU). Sie erhält 48 Prozent der Stimmen, während auf die SPD 21,9 Prozent entfallen. Die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) ist mit 16,3 Prozent drittstärkste Kraft. Bündnis 90, die Träger der friedlichen Revolution, erhalten nur 2,9 Prozent. Die Wähler stimmen damit für die deutsche Einheit, westliche Demokratie und soziale Marktwirtschaft“ (6).

Die wirklich Mutigen waren immer in der Minderheit. Die Wähler aber — das waren wir. Jene, die damals ihre politische Verantwortung nutzten, um das Kreuzchen dort zu machen, wo es notwendig war.

Denn wir wollten schnell im Hafen der Marktwirtschaft ankommen. Wir wurden nicht betrogen, sondern haben uns selbst dafür entschieden, zukünftig in einer Ellbogengesellschaft zu leben, in der Karriere, Vermögen und Kicks das Lebenselixier sind. Dafür ließen wir uns gern das Märchen von den blühenden Landschaften erzählen.

Aber das war kein Verrat an der DDR, wie es damals die Gegner einer schnellen Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten oft nannten. Es war ein Verrat an unserem zutiefst immanenten Streben, ein tatsächlich selbstbestimmtes und in Kollektiven organisiertes Leben anzustreben. Wobei der Autor mit dieser Aussage keine Wertung implizieren mag. Er stellt die Dinge schlicht fest.

Wir in der DDR, deren Bürger auch ich war, waren unzufrieden mit den Herrschenden und wollten einfach nur besser behandelt werden. Nun haben wir, die Klasse der ehemaligen DDR-Bürger, neue Herren, mit denen wir ebenfalls nicht zufrieden sind. Dahinter verbirgt sich die tief verinnerlichte Unzufriedenheit, nicht selbst Herr zu sein — Herr über sich selbst.

In 40 Jahren DDR hatte es die Ideologie des Marxismus-Leninismus nicht fertiggebracht, einen „neuen Menschen“ zu „erziehen“. Sie hatte die Menschen lediglich diszipliniert. Als der Glaube an die institutionelle Macht dieser Ideologie wegbrach, hielten sich die Menschen auch nicht mehr an deren Regeln.

Die Kraft der auf Eigentum basierenden Ideologien — und der Kapitalismus beruht auf einer solchen — liegt in ihrer Fokussierung auf bestimmte, uns zutiefst innewohnende und lebensnotwendige Verhaltensmuster. Sie triggern Verlustängste und produzieren so Gier. Diese Gier über das „normale“ Maß hinaus empfinden wir tief in uns durchaus als unseren ethischen Prinzipien widersprechend. Die resultierende Schuld lässt sich mit Ideologie kompensieren. Daraus resultiert ein innerhalb des kapitalistischen Systems schwer lösbares Problem für den Einzelnen.

Doch gibt es für jeden Menschen die spannende Perspektive, im eigenen Denken und Handeln — Handeln impliziert übrigens auch den gedanklichen Austausch — das System zu verlassen. Als die DDR unterging, nutzten wir die Chance nicht.

Bitte bleiben Sie schön aufmerksam.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „Die DDR und ihre Opfer“ bei Peds Ansichten.