Die Chile-Lüge

Neue, von der CIA freigegebene Dokumente untermauern, wie Henry Kissinger den Putsch in Chile 1973 tatkräftig unterstützte.

Mit dem „11.September“ verbinden Chilenen nicht zwangsläufig die Ereignisse in New York im Jahr 2001. Die Menschen im lang gestreckten Land am Südkegel Lateinamerikas assoziieren dieses Datum sehr stark mit dem Putsch gegen ihren Präsidenten Salvador Allende im Jahr 1973. Dieser Putsch kam freilich nicht von ungefähr. Der US-Hegemon betrachtete Südamerika bekanntlich schon immer als seinen Hinterhof, den er stets versuchte, politisch „sauber“ zu halten. Ein sozialistischer Staat, wie er unter Allende im Aufbau begriffen war, kam der USA alles andere als gelegen. Entsprechend wurden keine Mühen gescheut, um sich Allendes und mit ihm seiner sozialistischen Politik zu entledigen. CIA-Dokumente, die kürzlich auf Antrag der chilenischen Regierung freigegeben wurden, liefern weitere Beweise, inwieweit die USA in den Putsch involviert waren. Neben Präsident Richard Nixon spielte hierbei eine weitere Persönlichkeit eine entscheidende Rolle: US-Außenminister Henry Kissinger.

von Melvin Goodman

„Chile ist ein Dolch, gerichtet auf das Herz der Antarktis“ (Henry A. Kissinger).

Unsere 240 Jahre (US-amerikanischer) Geschichte haben keinen umstritteneren Außenminister als Henry A. Kissinger hervorgebracht. Große Erfolge sind mit Kissinger verbunden, darunter der Vertrag über die Begrenzung strategischer Waffen und der ABM-Vertrag (Raketenabwehr-Vertrag) von 1972, die schrittweisen Vereinbarungen zwischen Israel und Ägypten sowie Israel und Syrien 1974 und die Eröffnung eines substanziellen politischen Dialogs mit China, der mit seiner (Kissingers) Geheimdiplomatie im Jahr 1971 begann.

Kissinger war ein Meister der Manipulation der bürokratischen Maschinerie der nationalen Sicherheit. Sein bürokratisches Instrument zur Orchestrierung der verdeckten Rolle der CIA in Lateinamerika war das „Komitee 40“, das Nixon 1970 geschaffen hatte, um Programme für verdeckte Aktionen zu (über)prüfen und zu bewilligen. Kissinger war Vorsitzender des Komitees, dessen Arbeit es ihm ermöglichte, in seinen Memoiren zu sagen, dass „keine weiteren NSC-Sitzungen (Sitzungen des Nationalen Sicherheitsrates) zum Thema Chile abgehalten wurden“. Arglistig fügte er an, dass “ich mich nicht intensiv mit dem Thema Chile beschäftigt habe“.

Die Kampagne verdeckter Aktionen der CIA gegen Allende begann 1970 nach dessen unerwartetem Wahlsieg in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen im September und noch vor seinem Amtsantritt. In einer Mitteilung an Präsident Nixon im November 1970 argumentierte Kissinger törichterweise, dass die „Wahl Allendes zum Präsidenten Chiles für uns eine der ernsthaftesten Herausforderungen darstellt, denen wir in dieser Hemisphäre gegenüberstanden“ (in der als „Secret“ gekennzeichneten Mitteilung unterstrichen). Kissinger konzipierte eine „zweigleisige“ Politik für Chile. Gleis I unter Edward Korry war politischer Art. Von Gleis II wusste Korry nichts, hier ging es um die Destabiliserung Chiles, bei der CIA-Direktor Richard Helms die Hauptrolle spielte. Nixon wollte die chilenische „Wirtschaft zum Schreien“ bringen.

Zu Gleis II gehörten Entführung und Ermordung. Nachdem Helms mit Kissingers Anweisungen das Weiße Haus verlassen hatte, gab er zu: „Wenn ich jemals einen Marschallstab in meinem Rucksack aus dem Oval Office getragen habe, dann an diesem Tag.“ Während Kissinger für seine Machenschaften keine Verantwortung übernehmen musste und nie dafür zur Rechenschaft gezogen wurde, wurde Helms wegen Meineids angeklagt, weil er geleugnet hatte, dass die CIA der Oppositionsbewegung in Chile Geld hatte zukommen lassen. Letztlich plädierte er bei weniger schwerwiegenden Anschuldigungen auf „nolo contendere“ (dabei werden die Vorwürfe vom Angeklagten weder bestätigt noch abgestritten; Anmerkung der Übersetzerin) und wurde zu einer Geldstrafe von 2.000 US-Dollar und einer zweijährigen Gefängnisstrafe auf Bewährung verurteilt.

Helms begab sich vom Gerichtsgebäude zum CIA-Hauptquartier in Langley, Virginia, wo er wie ein Held empfangen wurde und ein Geschenk von 2.000 US-Dollar erhielt, das von Einsatzoffizieren gesammelt worden war, um für die Geldstrafe aufzukommen.

Nachdem sie daran gescheitert waren, 1970 die Wahl Allendes zu verhindern, gingen Kissinger und Helms dazu über, dessen Regierung zu untergraben. Dazu gehörten Bestechungen von Mitgliedern des chilenischen Kongresses, verdeckte Propaganda gegen die Regierung Allendes und sogar Geld und Waffen an rechtsgerichtete Überläufer, die den Oberbefehlshaber der chilenischen Armee, General Rene Schneider, der eine Einmischung des Militärs in den Wahlprozess verweigert hatte, zu entführen und zu ermorden. Kissinger wollte die Entfernung Schneiders um jeden Preis, und die CIA steuerte einen Teil der Ausrüstung bei, die bei der Entführung Schneiders zur Anwendung kam.

Der Militärputsch, der im September 1970 in Chile stattfand, war Teil der Operation Condor, die geheime Absprachen zwischen Militärdiktaturen Lateinamerikas einbezog und auch der Koordinierung des Drucks auf Chile diente. Zum Condor-Team gehörten Vertreter der geheimpolizeilichen Kräfte Chiles, Paraguays, Brasiliens, Uruguays und Argentiniens. Zu seinen Aktivitäten gehörten das Anbringen einer Autobombe im Stadtzentrum Washingtons, die den früheren Außenminister Chiles, Orlando Letelier, auf der Massachusetts Avenue tötete. Die Geheimdienste der USA unterstützten die Condor-Gruppe bei der Überwachung lateinamerikanischer Dissidenten, die in die USA geflüchtet waren.

Kissinger, der seine Machenschaften hinter dem Deckmantel glaubhafter Bestreitbarkeit verbarg, erwähnte in den 2.600 Seiten seiner Memoiren weder Letelier noch die Operation Condor, obwohl Condor mit Wissen und Duldung der USA operierte. Auch Schneider kam nicht zur Sprache. Kissinger kam in seinen Memoiren sogar zu dem Schluss, dass „das Abgleiten ins Chaos (in Chile) nichts mit der Einmischung der USA zu tun hatte“, und zeigte mit dem Finger auf Allendes „ideologischen Eifer und den seiner fanatischen Anhänger.“

Letzte Woche, als die „US-Regierung auf Antrag der chilenischen Regierung eine Überprüfung der Freigabe abschloss“, wurden die letzten Beweisstücke verfügbar, die die Rolle Nixons und Kissingers bei der Vorbereitung einer militärischen (Macht-)Übernahme in Chile dokumentieren.

Diese CIA-Dokumente zeigen, dass Kissingers Interesse an einem Militärputsch unterstützt wurde und vermerken, dass chilenische Militäroffiziere „entschlossen waren, die politische und wirtschaftliche Ordnung wieder herzustellen“, dass sie jedoch „möglicherweise noch eines effektiv koordinierten Planes bedürfen, der sich die weit verbreitete zivile Opposition zunutze macht.“ Die Dokumente gefährdeten die nationale Sicherheit der USA nicht und es gab keinen Grund, sie der Öffentlichkeit ein halbes Jahrhundert lang vorzuenthalten.

Die Täuschung vonseiten der CIA wurde in einem freigegebenen Dokument noch deutlicher, das Nixon irrtümlicherweise darüber informierte, dass „es keine Beweise für einen Putschplan dreier Geheimdienste" in Chile gab. Ein weiteres Dokument berichtete, die Mitglieder der neuen Militärjuta seien „alles respektierte und erfahrene Führungspersönlichkeiten. Nixon und Kissinger hatten bereits drei Jahre lang eine militärische Machtübernahme unterstützt, als diese Dokumente dem Weißen Haus vorgelegt wurden.

Die Dokumente aus den 1970er Jahren sind besonders aufschlussreich bezüglich Kissingers Einstellung zu Chile und hier vor allem seiner Gründe für die Unterstützung eines Militärputsches in diesem Land. Kissinger informierte Nixon, es sei notwendig, Allende von der Macht abzusetzen, „weil das, was in den nächsten sechs bis zwölf Monaten in Chile geschieht, Auswirkungen haben wird, die weit über die Beziehungen zwischen den USA und Chile hinausgehen werden.“ Laut Kissinger gehörte zu diesen Auswirkungen „das, was im übrigen Lateinamerika und den Entwicklungsländern geschieht, zudem was unsere zukünftige Position in dieser Hemisphäre und auf der großen Weltbühne sein wird — darunter auch unsere Beziehungen zur UdSSR.“

Kissingers Nullsummen-Ansatz gegenüber Ländern wie Chile ist ein klarer Beweis für sein Denken im Kalten Krieg und seine Beiträge zu den internationalen Spannungen, die die Präsidentschaften von Nixon und Ford bestimmten.


Melvin Goodman ist ein Experte für nationale Sicherheit und Geheimdienste. Er hat als Analyst für die Central Intelligence Agency und das Außenministerium gearbeitet, am National War College und der Johns Hopkins University gelehrt und ist Senior Fellow am Center for International Policy.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „More Evidence Regarding Henry Kissinger’s Lies About Chile“ bei Counter Punch. Er wurde von Gabriele Herb ehrenamtlich übersetzt und vom ehrenamtlichen Manova-Korrektoratsteam lektoriert.