Die Brandmauern der CDU
Die Union hat ihre Identität längst an den links-grünen Zeitgeist verkauft — was bleibt, ist aggressive Abgrenzung gegenüber den Rändern des politischen Spektrums.
Die Deutschen mauern wieder. Mehr als 30 Jahre nach dem Mauerfall werden allenthalben „Brandmauern“ aufgerichtet. Besonders von den Unionsparteien, die das Gespenst einer vielerorts naheliegenden Zusammenarbeit mit der erstarkten AfD durch eine Rhetorik des Ausschließens zu vertreiben suchen. Da niemand mehr weiß, wofür die CDU eigentlich steht, soll wenigstens klar sein, wogegen sie ist: gegen die AfD. Auch eine Zusammenarbeit mit der Linken kommt nicht infrage, denn man möchte ja nicht den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Vergessen wird dabei, dass diese Parteien viele Sorgen und Themen der Bürger aufgreifen, die sich durch die Politik von Merz & Co. geradezu im Stich gelassen fühlen. Anstatt sich zu ändern und den Bedürfnissen des Volkes entgegenzukommen, verschanzt sich die Unionsführung in einer Wagenburg der Wohlanständigkeit — zusammen mit den Ampelparteien. So könnte sie auch nicht ihren schmalen Vorsprung in den Wählerumfragen verspielen.
Nun war sie nie groß, die Freude —, außer vielleicht an diesem seltsamen Tag, als der Genosse Günther Schabowski, frisch ernannter Sekretär für Informationswesen beim Zentralkomitee der SED, ins Mikrofon stotterte:
„Äh, haben wir uns dazu entschlossen, heute, äh, eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, äh, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen. Ministerrat hat beschlossen, dass bis zum Inkrafttreten einer entsprechenden gesetzlichen Regelung durch die Volkskammer diese Übergangsregelung in Kraft gesetzt wird. – Gilt das auch für Berlin-West? Doch, doch. Ständige Ausreise. Alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise Berlin-West erfolgen.“ — und die Mauer zusammenbrach.
Wenige Stunden brauchte es; noch am Abend dieses 9. November 1989 wurde die Mauermonstrosität zur deutschen Komödie: „Also Genossen, mir ist det hier also mitgeteilt worden (...) Das tritt — nach meiner Kenntnis — ist das sofort, unverzüglich.“ Doch: „Keine nationale Euphorie“, konstatierte Cora Stephan dann schon bald in der Nachbetrachtung, „kein entgrenzter Taumel, kein Gefühl der Beglücktheit“. Auch keine „deutsch-deutschen Aufmärsche, keine Demos an der Oder-Neiße-Linie“ waren verortbar. Etwas „klammes Kirchengeläut“ damals hie und da — „Deutschland einig Vaterland“ war keine Option in diesen Tagen. Zwei Wochen nur nach dem 9. November wird der Kanzlerkandidat der SPD, Oskar Lafontaine, bekennen:
„Die Frage der Wiedervereinigung ist für uns beantwortet (...) Der Nationalstaat alter Prägung verliert mehr und mehr an Bedeutung.“
Es sei überdies erinnert: Um der damaligen Ausreisewelle zu begegnen, diskutierten die Genossen sogar darüber, unter Umständen das Staatsbürgerschaftsrecht zu verändern, „um so den Zugriff der in die Bundesrepublik kommenden DDR-Bürger auf die westdeutschen Sozialleistungen zu verhindern“. Rund 200.000 Bürger des Arbeiter-und-Bauern-Staates zog es kurz vor dem Fall der Mauer in die andere deutsche Republik. Inzwischen werden die „Sozialleistungen“ millionenfach von „uns geschenkten Menschen“ in Anspruch genommen. Von Angst, „alten Ängsten“, war damals viel zu vernehmen aus Moskau und von den europäischen Nachbarn. Niemand solle „Emotionen und Leidenschaften anheizen“, signalisierte Michail Gorbatschow, könne aus ihnen sonst „eine chaotische Situation entstehen, deren Folgen unübersehbar wären“.
Unwirsch heißt es zudem aus dem Kreml: „Die Deutschen sollten sich daran erinnern, wohin in der Vergangenheit schon einmal eine Politik ohne Sinn und Verstand geführt hat.“ So wusste denn die Bundestagsabgeordnete der Grünen Antje Vollmer ohnehin, alle Rede von der Wiedervereinigung sei „historisch überholter denn je“. Allein die Unionsparteien hielten am Ziel der Wiedervereinigung fest, Uneinigkeit bestand nur zwischen den Milieus innerhalb der Partei, ob die Wiederherstellung der Grenzen von 1937 das Ziel sein sollte oder man sich mit der „kleinen“ Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten begnügte.
Die Brandmauer - eine deutsche Liebe
Die seltsamen Tage allerdings dauern fort und zunehmend ist eine aufblitzende Freude am neuerlichen Mauerbau zu bestaunen. Denn da stehen sie nun wieder, die Mauern im parteipolitischen Raum der CDU, links und rechts aufgerichtet, neuerdings Brandmauern geheißen. Eine „klare Beschlusslage“ nennt die CDU solche Mauerei und formuliert etwas grammatisch instabil:
„Keine Zusammenarbeit mit der Linkspartei. Keine Zusammenarbeit mit der Alternativen [sic] für Deutschland.“
Aufgerichtet wird das Mauerwerk mit Verweis auf die „Beschlüsse C76, C101, C164 und C179“ — diesmal jedoch in west-östlicher Eintracht — irgendwann wohl mit dem Ziel, das Eigene, die Markenkerne zu schützen und vor Vermischung zu bewahren. „Daher müssten auch CDU/CSU klarer machen, wer sie sind, ohne sich dabei nach links oder rechts zu orientieren“, äußerte das Thüringer CDU-Vorstandsmitglied Mike Mohring in der Sendung ntv-Frühstart am 27. Juni 2023.
Die Erkrankung der Partei wurde schließlich bemerkt, sowohl in den eigenen Reihen als auch außerhalb. Doch Kassandra wurde nie geliebt. Die Erosion der Marke CDU/CSU schritt in rasantem Tempo voran.
Eineinhalb Jahrzehnte nur brauchte der Prozess des Verfallens und der Lähmung, denn offensichtlich hatten CDU/CSU die eigenständige politische Idee unter der ehemaligen CDU-Vorsitzenden und Bundeskanzlerin Angela Merkel preisgegeben. Fast ausschließlich wurden Themen der politischen Konkurrenz okkupiert, eigene Ideen nicht oder nur selten artikuliert. Dafür fühlte man sich einem wiederbelebten Personenkult verpflichtet und pflegte ihn.
Die Schriftstellerin Jana Hensel bekam in der ZEIT Gelegenheit zur Ergebenheitsbekundung: „Mein Deutschland-Gefühl, es ist in Wahrheit ein Angela-Merkel-Gefühl. Ich bin in dieses Gefühl eingezogen wie andere in ein Haus. Ich habe darin genauso selbstverständlich gewohnt wie auch das Kind. Es ist uns mit den Jahren wie zu einer zweiten Haut geworden. Ist es nicht das, was wir Heimat nennen?“. Auch der Journalist Bernd Ulrich war im gleichen Journal entzückt von „dieser starken Frau, dieser unvergleichlichen Politikerin und großen Kanzlerin“, sie schien ihm gar „ein Wunder an politischer Effizienz“.
Unter dem 17. Dezember 1961 notierte die Schriftstellerin Brigitte Reimann in ihrem Tagebuch:
„Unsere Schriftsteller schämen sich nicht, Lieder auf Ulbricht zu schreiben, schleimige Widerlichkeiten (...) es gibt ‚Ulbrichtecken‘, das ganze schmeckt nach religiösem Unsinn. Es riecht wieder nach Zuchthaus und vielleicht nach Blut.“
Mit der Bundestagswahl vom 26. September 2021 endete die Regierungsherrlichkeit der CDU. Die ungeliebte Oppositionsrolle offenbarte völlige Glanzlosigkeit und dieses Nichtstrahlen strahlte in die Republik.
Selbst im angestammten Kernland Baden-Württemberg ist die CDU nur noch als Schatten sichtbar. Blickt man sich um im Land, egal ob nach Hamburg, Rheinland-Pfalz oder in die ostdeutschen Länder:
Die CDU bleibt schattenhaft. Als letztverbliebene Volkspartei in Deutschland wähnte man sich, gab sich sonnenhaft und ignorierte bis in die Gegenwart die eigenen personellen wie programmatischen Verbrennungen.
Allmählich aber rappelt es in der CDU, die verordnete Enge und das Erstarken der AfD machen nervös. „Wenn man solche Mauern aufbaut und auch noch sagt, die Grünen sind unser Hauptgegner — so Friedrich Merz gegenüber der Berliner Zeitung —, mit wem sollen wir dann überhaupt noch agieren?“, fragte Mike Mohring, der eben das eigene Parteiprofil noch schärfen wollte, gegenüber der ZEIT und ergänzte:
„Wer soll uns dann noch wählen, wenn wir alles ausschließen? Ich finde, wir müssen das aufbrechen.“
Wohl nicht von ungefähr zirkulierte in der DDR das Bonmot: „Wir bauen auf, wir reißen nieder, so ham wa Arbeit immer wieder.“ Doch schlimmer geht bekanntlich immer, wie gegenwärtig nahezu täglich im Politikgetriebe bewiesen wird. Nach Mohring soll vor allem die linke Brandmauer zum Einsturz gebracht werden. Dass es eine solche Mauer in Thüringen ohnehin nicht gibt, scheint seinem Gedächtnis vollkommen entfleucht. Wer hält in Thüringen eine längst abgewählte Rot-Rot-Grüne-Regierung im Amt und verhinderte Neuwahlen? Dies sei wenigstens gänzlich nebenbei gefragt. Stellt sich die weitere Frage in diesem Land noch, wer die Mauer gebaut hat, wer verantwortlich ist für die Mauertoten? Wird noch bedacht, dass die Menschen in Scharen vor dem „real existierenden Sozialismus“ davonliefen? Vermutlich nicht.
Aber es kommt noch knüppeldicker bei den Schwarzen. 33 Jahre nach dem Mauerfall sind offensichtlich die letzten Hürden gefallen, neuerlich unterwerfen sich die christlich Unierten den SED-Erben, die alte „Blockflöten“-Mentalität ist wiedererwacht. Natürlich, bei den SED-Nachfolgern finden sich Leute, die „ihre Sache mit Sinn und Verstand machen“.
Stabile Mehrheiten zur Regierungsbildung etwa nach der anstehenden Thüringer Landtagswahl am 1. September 2024 scheinen im Osten nicht gegeben — jedenfalls solange man die AfD in die Tabuecke schiebt — die Ratlosigkeit beseitigt daher gegenüber der linken Seite einstweilige Hemmungen. Wie sonst sollten die ungeheuerlichen Aussagen, mit der Linkspartei paktieren zu wollen, des Bundesvorstandsmitglieds Mohring verstanden werden?
Noch einmal lohnt deshalb die Rückschau auf die Wahl von 2019 in Thüringen. Bereits am Morgen des 28. Oktober war der damalige CDU-Landesvorsitzende Mike Mohring Gast im ARD-Hauptstadtstudio in Berlin und betonte, seine Partei sei willens, trotz der Wahlniederlage, Verantwortung für das Land zu übernehmen. Auf die Frage: „Jetzt interpretiere ich das mal, dass Sie sagen, jemand der Verantwortung übernimmt, der geht auch mit in die Regierung, mit den Linken?“ antwortete der CDU-Politiker:
„Wir sind bereit für so ’ne Verantwortung, müssen zunächst ausloten: Was heißt das für Thüringen? Das heißt, das, was wir vor der Wahl zugesagt haben, kann man nach der Wahl umsetzen. Mir sind stabile Verhältnisse wichtiger für das Land, als dass es nur um parteipolitische Interessen geht.“
Bodo Ramelow signalisiere Gesprächsbereitschaft, konnte Mohring zur Präsidiumssitzung der CDU im Konrad-Adenauer-Haus mit Annegret Kramp-Karrenbauer, Angela Merkel, Paul Ziemiak am selben Tag mitteilen, um dann gegenüber der BILD-Zeitung fallenzulassen:
„Ramelow ist inhaltlich leer. Und wir werden als Union alles mit ihm machen können. Ich halte es sonst nicht durch, wenn wir nicht reagieren.“
„Wir sind die Staatspartei.“
Was auch wäre so schlimm am Zusammengehen mit der Linkspartei? Verdankt sich nicht eben der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland der „erste Friedensstaat auf deutschem Boden“? Eine antifaschistische Alternative eben, dazu eine verheißungsvolle Namensgebung am Anfang: Deutsche Demokratische Republik. Das Deutsche mochte seinerzeit seine Berechtigung haben und auch die Republik konnte wohl durchgehen, ist sie letztlich ja nur eine „öffentliche Sache“ — res publica.
Aufzustehen aus Ruinen war man bemüht und irgendwie der Zukunft zugewandt wollte man sich zeigen. Das mit der Demokratie scheiterte krachend, blieb ohnehin nur Vorwand, besaß allerdings einen ausgezeichneten Klang, auch die Tarnfarbe behielt man bei.
Schon Anfang Mai des Jahres 1945 diktierte Walter Ulbricht:
„Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.“
Längst hatte doch auch Bertolt Brecht mit seinem Gedicht „An die Nachgeborenen“ beinahe eine Universalbegründung für jegliche Freiheitsbeschränkung geliefert:
„Auch der Hass gegen die Niedrigkeit / Verzerrt die Züge. / Auch der Zorn über das Unrecht / Macht die Stimme heiser. Ach wir, / Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit, / Konnten selber nicht freundlich sein.“
Nur ein paar Jahre brauchte es, bis auch die Tarnfarbe nicht mehr benötigt wurde. So äußerte der SED-Mann und Staatssekretär für Kirchenfragen Werner Eggerath 1959 gegenüber Kirchenvertretern unumwunden: „Unser Staat ist ein Unterdrückungsinstrument gegen Friedens- und Staatsfeinde.“ Mit dem Befehl Nr. 2 vom 10. Juni 1945 gestatte die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD), „die Schaffung und Tätigkeit aller antifaschistischen Parteien, die sich die endgültige Ausrottung der Überreste des Faschismus und die Festigung der Grundlagen der Demokratie und der bürgerlichen Freiheiten … zum Ziel setzen“.
So konstituierten sich im Sommer desselben Jahres KPD, SPD, CDU und LDP und bildeten — unter Druck der SMAD — am 14. Juli 1945 bereits die sogenannte „Antifaschistische Einheitsfront“. Lange schon verbreitete sich in Kreisen der Moskauer Exilführung der KPD die Überzeugung, dass im Dritten Reich nur die illegal kämpfende KPD noch als funktionierende Partei existierte. Daraus erwuchs der Führungsanspruch für den Aufbau des neuen Deutschland. „Partei der werktätigen Massen“ wollte man sein, doch das Imageproblem der „Russenpartei“ wog schwer, die deutschen Kommunisten standen unter erheblichem Verdacht, sie seien „Agenten von Moskau, die sich nicht von Interessen des deutschen Volkes leiten lassen“.
Wilhelm Pieck rechtfertigte sich in einer „Lektion“ in der Antifa-Schule in Krasnogorsk am 21. Juni 1945 mit der Eigenlogik des Ideologen: „Diese Verbundenheit mit der KPdSU und Stalin ist keine Abhängigkeit, sondern beruht auf der Erkenntnis der großen Leistung, die in der Oktoberrevolution und in der Verwirklichung des Sozialismus vollbracht wurde.“
Ebenso war Pieck überzeugt: „auf der Basis einer kämpferischen Demokratie (...) werden wir die breiteste nationale Front des Kampfes für das neue Deutschland schaffen, werden wir Kommunisten uns innerhalb dieser Front die Führung erwerben und unsere Partei zu der großen wahrhaft nationalen Volkspartei entwickeln.“ Knapp bilanzierte nach der ersten Funktionärskonferenz der KPD-Bezirksleitung Berlin am 25. Juni 1945, deren Vorsitzender Ottomar Geschke: „Wir sind die Staatspartei.“
Diktatur ist Demokratie
Das staatsbürgerliche Gefängnis DDR erhielt somit sein Fundament; ordentlich gemauert wurde dann seit dem 13. August 1961, auch wenn natürlich „]n]iemand (...) die Absicht [hatte], eine Mauer zu errichten.“ — wie der Genosse Ulbricht noch am 15. Juni 1961 auf einer Pressekonferenz zum Ausdruck brachte. Dem Guten wollte man schließlich dienen und so wurde notwendig aus dieser „Mauer“, die schon im August 61 so manchem als „Schandmauer“ erschien, der „Antifaschistische Schutzwall“.
Zur inneren Legitimation des Staates ersann Horst Sindermann, damals Leiter der Abteilung Agitation und Propaganda beim Zentralkomitee der SED, diesen Begriff und betonte gegenüber dem SPIEGEL noch 1990:
„Wir wollten nicht ausbluten, wir wollten die antifaschistisch-demokratische Ordnung, die es in der DDR gab, erhalten. Insofern halte ich meinen Begriff auch heute noch für richtig.“
72.71.000 Strafen wegen „Republikflucht“ wurden zwischen 1961 und 1988 nach Statistiken der Generalstaatsanwaltschaft der DDR verhängt, die Zahl der „Mauertoten“ schwankt zwischen 327 und 270.
Ein Hohelied des Glaubens könnte wohl gegenüber dem der Liebe analog formulieren: „Der Glaube ist langmütig und freundlich … der Glaube rechnet das Böse nicht zu“ und vollenden: „Der Glaube höret nimmer auf!“ Bereits Jesus unterlag seinem „Fundamentalirrtum“ hinsichtlich des anbrechenden Gottesreiches; dem Glauben bedeutete es keinen Abbruch, es kam immerhin die Kirche, alleinseligmachend, ihr Anspruch. Ein Versagen erneut. Dem Glauben bereitete es keinen Abbruch. „Im Namen Gottes, im Namen der Moral, im Namen der Gerechtigkeit liegt die Zahl der Ermordeten bei Hunderten von Millionen. Menschen sterben nicht im Namen des Bösen, sondern im Namen des Guten“, stellt der Autor Einzlkind im Roman Minsky heraus.
Gläubig zeigte man sich gegenüber dem Tausendjährigen Reich. Nichts von Glaubenspreisgabe dann auch bei den Kommunisten. Nichts konnte ihn mindern, als Jossif Stalin gefeiert wurde, sich in der DDR um den „größten Menschen aller Zeiten“ der neue Personenkult etablierte, statt Hitler nun eben Stalin, im März 1953 mit Stalins Tod nunmehr nicht nur gläubige Verklärung, sondern Vergöttlichung.
Der Glaube geriet nicht ins Wanken, als am 17. Juni 1953 Arbeiter im Arbeiter- und Bauernstaat rebellierten und nur sowjetische Panzer die SED-Macht sicherten. Im Februar 1956 wurden im Kreml Aufräumungsarbeiten vorgenommen, Stalinrelikte ausgelöscht, der Glaube an Frieden und Fortschritt behielt Bestand. Unerschütterlich und glaubenfest ließ man am 13. August 1961 das Mauerwerk vor seinen Augen entstehen und wie seinerzeit Brigitte Reimann wünschte man sich „Koexistenzler, die sich mit unserer Weltanschauung befreunden und sie eines Tages teilen würden“.
Kein Glaubensverlust war zu konstatieren, als am 21. August 1968 Panzer des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakische Sozialistische Republik (ČSSR) einrollten, um dem Experiment eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ den Garaus zu machen. Glaubensstark zeigte sich der ideologisierte Bürger, der Intellektuelle, der Wissenschaftler, der … sogar noch bei der Ausbürgerung von Wolf Biermann am 16. November 1976, die doch eigentlich an das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte hätte erinnern müssen. Biermann hatte einen „demokratischen Sozialismus“ im Blick und vergaß, dass der Marxist eine Demokratie im bürgerlichen Sinne nicht kennt. Der Mensch als Individuum, mit seiner genetischen Disposition, mit seinem Empfinden, seinem Verhalten ging dem Sozialismus verloren.
Weshalb soll das missglückte Experiment nun neuerlich gezündet werden? Der Mensch, das Individuum, ist dem Marxisten fremd, für ihn existiert lediglich die „Klasse“ Mensch. Die Geschichte ist für ihn immer nur die Geschichte von Klassenkämpfen, da die reaktionäre Klasse und hier die fortschrittliche Klasse. Das war zu glauben, das lehrte man im Geschichts- wie Staatsbürgerkundeunterricht, lehrte es in den Fach- und Hochschulen, den Universitäten und im Parteilehrjahr, lehrte es in den Versammlungen von Betrieben und Einrichtungen. Schon 1947 verwahrte sich die Dekanin der Parteihochschule „Karl Marx“ in Kleinmachnow, Frida Rubiner, im Theorieorgan der SED Einheit gegen den Missbrauch des Diktaturbegriffs:
„Die Diktatur wird geradezu zum Schreckgespenst gemacht für alle Freunde der Demokratie und solche, die es werden wollen.“
In der Kritik des Gothaer Programms unterstrich Karl Marx:
„Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andere. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts anderes sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.“
Diese Diktatur ist — nach Lenin — notwendigerweise „eine eiserne Macht, die mit revolutionärer Kühnheit und Schnelligkeit handelt, die erbarmungslos ist bei der Niederhaltung sowohl der Ausbeuter als auch der Rowdies.“
Die arbeitenden Massen sind somit das Subjekt der Demokratie — Diktatur ist somit Demokratie. „Kühn“ und „schnell“ grüßten denn alsbald KGB und Staatssicherheit. Vielleicht aber ist „die beste Regierungsform [eben doch] die Diktatur“? Das zumindest behauptet die künstliche Intelligenz Minsky im gleichnamigen Roman. Freilich: „Nicht die Diktatur eines Menschen, einer Gesinnung, sondern die einzige Diktatur, die es gibt, die Diktatur der Intelligenz. Die einzige Diktatur, die nicht gleich machen, besitzen, beherrschen, unterdrücken will, die niemandem bestraft, der ihr nicht folgen will, denn jeder, der ihr nicht folgt, bestraft sich selbst.“
„… oder die Union kann einpacken“
Pervertiert wird durch Mohring geradezu die Sehnsucht der ehemals Eingemauerten nach tatsächlicher Freiheit und Demokratie, findet er es jedenfalls bei ntv-Frühstart „erschreckend, dass wir 1989/1990 genau diese Demokratie und Freiheit wollten und heute nichts mehr damit anfangen können“. Wollten und wollen „wir“ aber tatsächlich „diese“ links-marxistische „Demokratie und Freiheit“? Hat wiederum Minsky aus dem Jahre 2048 nicht recht, die uns rekapitulieren lässt: „Und in euren Demokratien seid ihr so stolz darauf, eure Stimme abzugeben, wählen zu können. Gerne das kleinere Übel. Warum wählt ihr ein Übel? (...) Kein anderes Tier würde sich von Politikern beherrschen und von Beamten verwalten lassen, mir ist kein Tier bekannt, das so dumm ist“, sagt Minsky, die Künstliche Intelligenz.
Das sozialistische Versagen wurde 40 Jahre lang demonstriert. Eigentümlich dann auch das Vergessen seiner Aussagen hinsichtlich der „rechten“ Brandmauer. Wollte er nicht noch im November 2022 die „AfD auf Herz und Nieren prüfen“? Schon seinerzeit erstarkte die AfD in Thüringen, nach jüngsten Umfragen ist sie derzeit mit 34 Prozent in diesem Bundesland stärkste politische Kraft. Kaum Sinn mache es schließlich, die Partei „parlamentarisch durch Ausgrenzung zu überhöhen, ohne dass sie sich inhaltlich beweisen muss“, so Mohrings Statement gegenüber Vertretern der Presse.
Das Geschrei von links war dann wohl zu laut, der politische Purzelbaum, der „Umfaller“, wurde als Parteiritual frisch eingeübt. Innerhalb der Partei ist die Debatte offensichtlich neu angeregt, so kritisierte der Vorsitzende der Jungen Union, Johannes Winkel, Mike Mohring scharf hinsichtlich des Gesprächsangebotes seiner Partei an die Linke. „Eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei käme einer Selbstaufgabe gleich“, betonte Winkel gegenüber der WELT. Auch zum „Sozialismus“ müsse die „Brandmauer“ bestehen „oder die Union kann einpacken“, meinte er weiter.
Zugleich erinnerte er an die ehemaligen CDU-Kanzler Konrad Adenauer und Helmut Kohl, hätten diese doch ihre „gesamte politische Kraft für ein in Freiheit und Selbstbestimmung wiedervereintes Deutschland in die Waagschale geworfen“. Dieses Erbe verpflichte besonders in unruhigen Zeiten. Von Minsky stammt nochmals ein Einwurf: „Sokrates hat davor gewarnt, dass Ungebildete die Demokratie aushöhlen“ und mit Verweis auf die Gegenwart angemerkt: „Es ist noch weit glamouröser geworden. Sie höhlen die Demokratie nicht aus, sie sind die Demokratie“ und gefolgert: „Intelligenz ist nicht demokratisch. Sie kann es nicht sein (...) Wenn Intelligenz nicht demokratisch ist, ist Demokratie nicht intelligent. Demokratie diskriminiert Intelligenz, sie ist ihr natürlicher Feind.“
Doch das kann Parteipolitik nicht begreifen, noch schreibt man nicht, wie der hellsichtige Autor Einzlkind, das Jahr 2048. Noch braucht Parteipolitik den Gläubigen und der Gläubige bedarf der Geschichten. Die Geschichte allerdings bleibt dem Gläubigen eine nur schwer erträgliche Zumutung. Der Glaube aber höret nimmer auf! Ist nicht bereits im Wundertäter bei Erwin Strittmatter eindrucksvoll nachzulesen: „Ich kenne keine Regierung, die nicht darauf bedacht wäre, den Regierten zu erklären, wie gut sie es hätten und wie schwierig das Geschäft des Regierens wäre.“ Der jüngere Strittmatter, damals noch Sozialist, sich dem sowjetisch-kollektiven „Wir“ zugehörig fühlend, geriet jedenfalls nach den Prager Ereignissen von 1968 in eine Glaubenskrise, zeigte sich erschüttert „wie mittelalterlich der ganze Stalinismus ist“ und hielt im Tagebuch fest:
„Wir, die Glaubenden, sind die Engel, die Denkenden sind die Ketzer und die andere Ansichten haben als wir — sind die Teufel.“