Die bipolare Welt
Mit dem Aufstieg Chinas zur Weltmacht stellt sich die Frage, ob ein Krieg zwischen den beiden dann dominierenden Blöcken droht. Exklusivabdruck aus „Wie weit noch bis zum Krieg?“.
China ist zum schnell heranwachsenden Antipoden des alten, obsoleten Hegemon USA geworden. In den sich herausbildenden Strukturen der Wirtschafts- und Politmacht China sind die Umrisse des Sino-Blockes zu erkennen, der in Zukunft gegen den US-Block steht. Wird ein Machtwechsel an der Spitze ohne einen Krieg zwischen den beiden Herrschafts-Aspiranten möglich sein? Der Autor versucht zuerst einmal die Blöcke — hier USA, dort China — etwas genauer zu betrachten. Wer bleibt zunächst außen vor? Und wer könnte das Zünglein an der Waage bilden?
Nicht unipolar, nicht multilateral — in einem neuen „Kalten Krieg“ treffen US-Block und Sino-Block aufeinander
Politik wie Gelehrtenwelt tun sich gleichermaßen schwer, das neue Muster der Weltordnung zu kennzeichnen. Vom „Kampf der Kulturen“ bis zur „führerlosen Wirtschaft“ wurde alles schon einmal ausprobiert. In der praktischen Politik kam man von den G7 über die G8 bis zur G20.
Die G20 sind zwar weit genug, um den konfligierenden Interessen Raum zu bieten. Doch ist dieses Konfliktpotenzial so groß und so kontrovers, dass sich darauf keine „Weltregierung“ bauen lässt. „Das Regieren wird immer schwieriger“, seufzt der National Intelligence Council stellvertretend für die Zunft der US-Geheimdienste (1). Alles, was die intellektuellen Geschwister von James Bond verraten können, ist, dass „die gegenwärtige Entwicklungsrichtung von Trends und Machtdynamik in eine nahe Zukunft stärkerer Spannungen münden“ wird (Seite 19).
Dass die Auskunft so karg ausfällt, liegt vor allem daran, dass die Machtstruktur, von der jeder weiß, dass sie dabei ist, sich zu ändern, sich noch so unscharf abzeichnet. Nach dem Zweiten Weltkrieg war klar, dass die USA die eine nicht wegzudenkende Nation waren, und sie haben nicht gezögert, die Zügel des Hegemonen fest in die Hände zu nehmen. Bei der Implosion des „realen Sozialismus“ um 1990 war die Lage schon nicht mehr so eindeutig. Für siegestriumphale Zukunftsforscher wie Krauthammer oder Fukuyama war für den US-Hegemonen der unipolare Moment angebrochen. Andere wie Huntington riefen zum Endkampf der Kulturen auf. Oder sahen wie Elmar Altvater das Ende des Kapitalismus anbrechen, „wie wir ihn kennen“.
Niemand sah damals China als Herausforderer Nummer 1 der alten Hegemonieordnung. In diese Rolle haben sich die Chinesen selbst hineinkatapultiert, mit langhaltenden Wachstumsraten von über 10 Prozent, möglicherweise früher und schneller, als ihnen selber lieb ist. Nimmt man die vier großen Wachstumsregionen der Welt, dann entfallen auf China 2018 15 Prozent des Welt-Bruttoinlandsprodukts (BIP), auf Japan 6 Prozent, auf die EU 21 Prozent und auf die USA 24 Prozent. (Im entscheidenden Feld fallen die USA zurück: Ihre wirtschaftliche Substanz schwindet im Verhältnis zu China, vergleiche Kapitel 5). Zusammengenommen entfällt auf die Kernländer des Westens das Dreifache der ökonomischen Substanz Chinas. Dass überhaupt der Ruf nach Wachablösung erfolgt, liegt an dem anhaltenden Tempo des wirtschaftlichen Wachstums Chinas.
Die Grafik Anteile am weltweiten BIP in Prozent (1990 bis 2017) in Kapitel 5 (Seite 29) zeigt, dass Chinas Wachstum fast doppelt so schnell ist wie das der USA und der EU. In den Konturen Chinas zeichnet sich also Ceteris paribus — sollten die Bedingungen des Wirtschaftswachstums dieselben bleiben — tatsächlich die Zukunft der Weltwirtschaft ab.
China ist der schnell heranwachsende Antipode zum alten, obsoleten Hegemon USA.
In den sich herausbildenden Strukturen der Wirtschafts- und Politmacht China sind die Umrisse des Sino-Blockes zu sehen, der in Zukunft gegen den US-Block steht. Bevor wir auf die Neuauflage der alten Thukydidesfrage kommen, ob ein Machtwechsel an der Spitze zu einem Krieg der Hegemon-Aspiranten gegeneinander führt (führen muss), wollen wir uns zuerst einmal die Blöcke hie USA, dort China etwas genauer anschauen und vor allem, wer zunächst draußen bleibt und um wessen Zuspruch es dann gehen wird.
Der China-Block
Die Struktur des China-Blocks sehen wir vorgegeben in den zentralen Allianzen, die heute schon diese Dimension bestimmen. Das ist einmal der „innere Kern“, den die Allianz China-Russland darstellt. Zum anderen ist das die Shanghai Cooperation Organisation (SCO), zu der China, Indien, Russland, Kasachstan, Kirgisistan, Pakistan, Tadschikistan und Usbekistan gehören. Zu problematisieren ist hier die Auflistung Indiens. Zwar gehörte Indien bereits zur Gründergeneration der BRICS-Staaten, doch war das Land schon dort ein „Wackelkandidat“. Indien gehört mit dem ganzen „Rest“ Südasiens — Afghanistan, Bangladesch, Bhutan, Malediven, Nepal, Pakistan, Sri Lanka — zu den Ländern, um die u. a. die Kooperationsbemühungen der beiden Blöcke gehen werden. Dies gilt auch für die afrikanischen Staaten, auch wenn alle Staaten Afrikas (außer Swasiland) dem Forum der China-Africa Cooperation angehören.
Die Anziehungskraft der Neuen Seidenstraßen auf die Länder aller Kontinente wird sehr von der Wirksamkeit der One Belt — One Road Initiative (OBOR) abhängen. Dies gilt sowohl für die Länder Asiens und Afrikas als auch Europas. Die OBOR-Initiative entwickelt sich langsam, aber schier unwiderstehlich zu einem Gegenentwurf der neoliberalen Globalisierung. Bei Europa geht es Peking vor allem um den Ausbau des Landwegs über Zentralasien und Russland, auf dem Seeweg durch den Indischen Ozean und den Suezkanal. In Deutschland knüpft die Seidenstraßen-Initiative an bereits bestehende Transportverbindungen an wie der Güterzugstrecke von der Umgebung Schanghais nach Duisburg, Europas größtem Binnenhafen. Mit der G16-Plus1-Kooperation hat China mit 16 Staaten Mittel- und Osteuropas eine institutionalisierte Zusammenarbeit ins Leben gerufen, darunter unter anderem mit Spanien, Italien und Griechenland (2).
China hat neben der OBOR-Initiative eine Vielzahl von Projekten entwickelt, um der Dominanz der USA auf dem Feld der von den USA dominierten Finanzinstitutionen Internationaler Währungsfonds und Weltbank entgegenzuwirken. Zusammen mit den Partnern der BRICS-Gruppe wurde die New Development Bank gegründet, zu deren Startkapital von 50 Milliarden US-Dollar die Partner paritätisch je 10 Milliarden aufbrachten. Das BRICS Contingent Reserve Arrangement startete 2015 mit einem Finanzvolumen von 100 Milliarden Dollar, davon China 41 Milliarden (3). Die von China geführte Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB) hat im Februar 2020 102 Mitglieder mit einer Investitionssumme von 12,4 Milliarden Dollar und 64 laufenden Projekten (4).
China hat über die OBOR-Initiative hinaus mit der Infrastrukturbank AIIB ein Gegengewicht zu den US-dominierten Finanzinstitutionen IWF und Weltbank geschaffen. Die AIIB hat heute 70 Mitgliedsländer, darunter bis auf die USA und Japan alle G7-Mitglieder, auch Deutschland (gegen den „Rat“ aus Washington). Im ersten Halbjahr 2018 hat die Bank fünf Milliarden Dollar in 28 Projekten in 13 Ländern investiert. Der deutsche Vizedirektor urteilt, die Chinesen, die per Stimmrecht und Personal das klare Übergewicht haben, verhielten sich fair und professionell (5).
Der USA-Block
Sein innerster Kern ist der transatlantische Kapitalblock USA-EU, dessen hervorstechender Charakterzug nicht ist, dass die Teile diesseits und jenseits des Atlantik voneinander abhängen, sondern dass sie über die Generationen und Börsengänge hinweg ineinander gewachsen sind, wobei sich ihr gemeinsames strategisches Zentrum in der New Yorker Wall Street befindet (siehe Kapitel 1, Was ist neu am Imperialismus?, Die Neuen Kapitalisten: Die „Finanzgenies“ übernehmen das Kommando.)
Sowohl das wirtschaftliche wie das militärische wie auch das bündnispolitische Übergewicht der Istzustände fällt für die USA gewaltig aus. Die USA dominieren die NATO, das mit Abstand größte Militärbündnis der Welt. Sie kontrollieren die Institutionen der Finanz-Weltwirtschaft, die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds. Zusammen mit ihren „Partnern“ in Fernost (Japan, Südkorea, Singapur) und denen in Europa (Deutschland, UK) beherrschen sie über zwei Drittel der Weltwirtschaft. So wie der Sino-Block auf dem Zukunftskontinent Asien seine asiatische Flanke mit den zentralasiatischen Ländern Kasachstan, Usbekistan, Kirgisistan, Tadschikistan und Turkmenistan hat, so zählt der US-Block auf die südostasiatischen Länder Indonesien, Vietnam, Thailand, Singapur, Malaysia, Laos, Philippinen, Brunei und Kambodscha. Um Südasien — Afghanistan, Bangladesch, Bhutan, Malediven, Nepal, Pakistan, Sri Lanka und vor allem Indien — wird anhaltend gerungen, was auch für die Länder gilt, die wir jetzt schon Block-Zonen zugeordnet haben.
Das trifft selbst für Lateinamerika zu, das seit den Tagen der Monroe-Doktrin (1822) von den USA ihrem imperialistischen Einflussgebiet zugeordnet wird. Das Kennzeichnende dieser Phase ist das wenig Dauerhafte von Allianzen und Bündnissen. Aber auch in Zeiten des chaotischen ständigen Neuanfangs erleben wir das gravitätische Durchsetzungsvermögen der großen Gewichte, wie sie sich in den Blöcken und ihren Grundstrukturen manifestieren.
Die Nervosität vieler Zukunftsforscher, nicht zu reden von hauptberuflichen Geheimdienstlern, ist auf die beobachtbare Entfaltung von Tendenzen und Entwicklungen zurückzuführen, die heutige Ordnungen und Sichtweisen jäh auf den Kopf stellen können. Schauen wir uns an, was die US-Geheimdienste für die „globalen Trends bis 2035“ halten und wie die beiden Blöcke darauf reagieren werden.
Die Falle des Thukydides — muss der Kampf um die Hegemonie zum Krieg USA gegen China führen?
Die Falle und ihr Erfinder
Der Ausdruck Thukydides-Falle kennzeichnet die angebliche Unvermeidbarkeit von kriegerischen Konflikten zwischen einer aufsteigenden Macht und dem bisherigen Hegemon. Thukydides schreibt zum Ausbruch des 30-jährigen Peloponnesischen Krieges im fünften Jahrhundert vor Christus:
„Es war der Aufstieg Athens und die Furcht, die das in Sparta hervorrief, die den Krieg unvermeidlich machten“ (6).
Landmann übersetzt die Stelle anders:
„Den wahren Grund freilich, zugleich den meistbeschwiegenen, sehe ich im Wachstum Athens, das die erschreckten Spartaner zum Krieg zwang“ (7).
Der Streit der Historiker und Politologen, ob Thukydides gesagt habe, der Krieg zwischen altem Hegemon und emporkommendem Konkurrenten sei unvermeidlich, oder er sei bloß eine zu erwägende Hypothese, ist mit unseren Zitaten entschieden. „Unvermeidlich“ heißt es einmal, beim anderen Mal „zum Krieg gezwungen“. Krieg ist nach Thukydides definitiv notwendiger Abschluss des Kampfes um die Hegemonie.
Thukydides, Ahnherr der objektiven Geschichtsschreibung, war in der Beschreibung Athens und Spartas schwerlich objektiv. Bevor er Geschichtsschreiber wurde, war er Mitglied des „Zehnerkollegiums der Strategen“ Athens, sozusagen der Generalstab der Stadt. Er nahm als Kommandant athenischer Truppen am Krieg teil, über den er später schrieb. Er wurde, weil er den militärischen Auftrag Athens nicht erfüllen konnte, aus der Stadt verbannt; aus einer alten, reichen Familie stammend, blieb er auch in der Fremde der kultivierte Athener, der sich zu Ende des Krieges wieder nach Athen begab.
Dass der Krieg unvermeidlich sei, gesetzmäßig zustande komme, entlastet die Athener Elite, zu der die Thukydides-Familie gehörte. Insbesondere da der Krieg von Sparta gewonnen wurde, macht es sich gut, Macht und Furcht als Konstanten der menschlichen Natur verantwortlich zu machen (Thukydides 1, 22, 4).
Die Geschichte hat das Gesetz von Thukydides längst widerlegt
Die Thukydides-Falle ist derzeit ein Hit in der Politologie. Harvard-Professor Graham Allison hat ein viel diskutiertes Buch dazu geschrieben. Schon der Titel weist die Richtung: „Destined for War — zum Krieg bestimmt“. Er untersucht 16 Kämpfe um Hegemonien, vom späten 15. Jahrhundert bis heute (Seite 244).
Zwölf Mal hat die Falle des Thukydides zugeschnappt. Aber die beiden Male nach dem Zweiten Weltkrieg nicht — der Kampf USA gegen die Sowjetunion und der zwischen Deutschland gegen England und Frankreich um die Vorherrschaft in Europa. Das neue Moment in der Geschichte ist das Vorhandensein von Atomwaffen auf beiden Seiten, sodass, wer als Erster schießt, mit Gewissheit als Zweiter stirbt. (Im Falle eines Krieges zwischen Deutschland und Frankreich/Großbritannien, wäre mit Sicherheit eine Atommacht an die Seite Deutschlands getreten.) Die Fachwelt spricht vom „Nuclear Paradox“, die Atommächte rüsten für einen Krieg, den sie nicht überleben können.
Dies sieht auch Allison so. Mit kriegerischen Mitteln ist China nicht beizukommen. An Chinas Seite steht unter anderem Russland, dessen Atomwaffenarsenal dem der USA entspricht. Der US-Politologe empfiehlt daher seiner Regierung, einen langfristigen Frieden zu sichern und dabei die Herrschaft der Kommunistischen Partei in China nach Kräften zu „unterminieren“ (Seiten 233 und folgende). Unter anderem schlägt er vor, dass die USA sich sowohl diplomatisch als auch mit Geheimdiensten und geheimen Militärkommandos an die Seite der separatistischen Bewegungen stellen: in Taiwan, Xinjiang (Uiguren), Tibet und Hongkong. Allison weiß, dass Peking solche Bestrebungen hart stoppen wird. Doch darum geht es ihm gerade, denn je rigider die Regierung vorginge, umso größer wären Betroffenheit und Kritik der Bevölkerung.
Allison sieht vier „Mega-Bedrohungen“, gegen die China und die USA gemeinsam vorgehen müssten, anstatt gegeneinander Krieg zu führen (Seite 228 folgende): nukleares Armageddon, nukleare Anarchie, globaler Terrorismus, vor allem der islamische, und der Klimawandel. Besonderes Augenmerk schenkt er der nuklearen Anarchie. Die unkontrollierte Weitergabe von Atomwaffen würde dazu führen, dass einige Konflikte zu Atomkriegen führten und dass Terroristen in den Besitz von Atomwaffen kämen. Wenn es China und den USA zusammen mit Russland nicht gelänge, die Weitergabedrohungen von Nordkorea und Pakistan zu unterbinden ebenso wie die Weitergabe auf Staatsniveau an Länder wie Südkorea und Japan, „dann sollten wir erwarten, dass eine Atombombe explodiert in einer Stadt wie Mumbai, Djakarta, Los Angeles oder Schanghai an einem Zeitpunkt zu unseren Lebzeiten“ (Seite 229).
Wir können folgende Thesen festhalten:
Erstens wird es im Zeitalter der nuklearen Abschreckung keinen geplanten Atomkrieg um die globale Hegemonie geben. Es bleibt aber die Gefahr „versehentlicher“ Atomkriege. Ein chinesisches U-Boot könnte US-Operationen im Pazifik als umfassenden Angriff auf chinesische Militärstellungen missverstehen. Es bräuchte dann keine weiteren Befehle aus Peking, um seine Geschosse auf US-Stellungen abzufeuern. Der These, es gäbe keine geplanten Atomkriege, ist ohnehin entgegenzuhalten, dass eine Atommacht den Atomangriff als Option ansehen könnte, wenn sie wähnt, die Gegenschlagswaffen des Kontrahenten mit einem präzisen Erstschlag außer Kraft setzen zu können. Oder wenn sie glaubt, ihre Abwehr so dicht organisiert zu haben, dass die Atomraketen des Gegners alle abgefangen würden.
Zweitens: Atomkriege auf „niederer Ebene“ sind eher zu befürchten: Pakistan gegen Indien, Israel gegen Iran und ähnliche. Wenn Terroristen Atombomben in die Hände bekämen — und sie sind nicht weit davon entfernt —, wäre die Gefahr eines Atomkriegs allgegenwärtig.
Drittens wird der Konflikt um die globale Hegemonie mit allen denkbaren wirtschaftlichen, geheimdienstlichen und regional-kriegerischen Mitteln verfolgt. Dies mag auch um die Hegemonie ringende Global Player dazu bringen, an irgendeinem Punkt „begrenzte“ Atomwaffen einzusetzen — die Spirale zum „Großen Krieg“ würde sich dann schnell drehen.
Wir wollen weiter unten die Aussichten von Atomkriegen aufgreifen zusammen mit der Erörterung der Frage, wer von den beiden Hegemon-Aspiranten letzten Endes über die stärkeren Machtfaktoren verfügt.
Wie sehen die um globale Hegemonie wetteifernden Staaten die Lage?
Die USA
US-Regierungen geben über die Prinzipien ihrer Sicherheits- und Militärpolitik in Berichten über die „Nationale Sicherheitsstrategie“ Auskunft . Donald Trump hat einen solchen Bericht 2017 vorgelegt. Darin werden folgende Hauptprinzipien formuliert:
- Die USA werden weiter ihre Armee als stärkste der Welt ausbauen, um den „Frieden durch Stärke“ zu bewahren (Seite 4). Auch und gerade die Politik gegenüber „Wettbewerbern“ um die globale Hegemonie wird aus einer „Position der Stärke“ betrieben, „die zu allererst darin besteht, dass unsere Militärmacht hinter niemandem Zweiter“ ist (Seite 27). Das Militär wird so ausgebaut, dass es „wenn nötig“ kämpfen und siegen wird. Für die USA ist der Krieg also eine eingeplante Größe und sie halten ihren Sieg für zwingend.
- Als strategische Gegner werden China und Russland genannt, die „antithetisch“ seien zu den „US-Werten und Interessen“. China versuche, „die USA aus der indopazifischen Region zu vertreiben und die Reichweite seines staatsgetriebenen wirtschaftlichen Modells auszuweiten“ und die Region in seinem Sinn neu zu organisieren (Seite 25). Die USA erkennen also den grundsätzlichen ideologischen Charakter ihres Wettbewerbs mit China. Russland ziele darauf ab, „den US-Einfluss in der Welt zu schwächen und uns von unseren Alliierten und Partnern zu trennen“. Auch investiere Russland in neue Waffenfähigkeiten, einschließlich nuklearer Systeme, „die die höchstmögliche existenzielle Bedrohung für die USA bleiben“ (Seite 25). Die USA sehen China und Russland als Einheit, gegen die sie „im Wettbewerb“ stehen. Als Machtfaktor Russlands heben sie dessen nukleare Potenzen hervor. Mit China und Russland wird nur auf der Grundlage militärischer Überlegenheit verhandelt. Prinzipielle Übereinkünfte kann es nicht geben, die beteiligten Staaten sind „antithetisch“. Das Bild der Zukunft der internationalen Beziehungen, das die USA entwerfen, ist eines der Zerrissenheit und gnadenlosen Konkurrenz der beteiligten großen Nationen bis hin zum Krieg.
- Die USA wollen stärker in die ideologische Auseinandersetzung einsteigen. Sie sehen sich als internationalen Motor des „vom Privatsektor geführten wirtschaftlichen Wachstums“ (Seite 4). Sie wollen „aufstrebenden Partnern“ helfen und sie zu „Handels- und Sicherheitspartnern“ machen.
- Als erstes unter den „Priority Actions“ wird die indopazifische Region genannt, „wir werden unsere Verpflichtung gegenüber Allianzen und Partnerschaften dort verdoppeln“ (Seite 46). Zu Taiwan sollen die engen Beziehungen aufrechterhalten werden, „um für Taiwans legitime Bedürfnisse Vorsorge zu treffen und um Zwang abzuschrecken“ (Seite 47). Das sind offene Kampfansagen an China, die die Region als sein Einflussgebiet und Taiwan als zurückzuholenden Teil von China sieht.
Grundsätze der US-Sicherheitspolitik
Wir werden Frieden durch Stärke bewahren, indem wir unser Militär so aufbauen, dass es vorherrschend bleibt, unsere Gegner abschreckt, und, wenn nötig, fähig ist, zu kämpfen und zu siegen. Wir werden den amerikanischen Einfluss vergrößern, weil eine Welt, die amerikanische Interessen stützt und die unseren Werten entspricht, Amerika sicherer und wohlhabender macht. Wir werden wettstreiten und führen in multilateralen Organisationen, sodass amerikanische Interessen und Prinzipien geschützt sind (Seite 4).
China und Russland wollen eine Welt formen, die antithetisch ist zu US-Werten und -Interessen. China versucht, die USA aus der indopazifischen Region zu drängen, die Reichweite seines staatsgetriebenen wirtschaftlichen Modells auszuweiten und die Region in seinem Sinn neu zu organisieren (Seite 25).
Die USA werden Gebiete der Kooperation mit Wettbewerbern aus einer Position der Stärke bearbeiten, die zu allererst darin besteht, dass unsere Militärmacht hinter niemandem Zweiter ist (Seite 27).
Die Volksrepublik China
China hat 2019 ein neues Weißbuch zur Verteidigungspolitik herausgebracht, das die eigenen Agenturen so vorstellten: „Manifest für Frieden und gegen westlichen Hegemonismus“ (8). Zwei der sechs Kapitel widmen sich der Reorganisation und Qualifizierung der chinesischen Armee, die dringend modernisiert werden müsse. 2050 habe China dann eine Armee „der Weltklasse“. Ein relativ langer Zeitraum angesichts der aktuellen internationalen Konflikte. Womöglich auch ein ungewollter Hinweis an den Gegner, der es so verstehen könnte, nicht so lange zu warten, bis die Weltklasse-Armee steht. Im Einzelnen setzt China die folgenden Schwerpunkte seiner Sicherheitspolitik:
- Die Sicherheitspolitik Chinas ist strikt defensiv. „Das sozialistische System Chinas, die strategische Entscheidung, dem Pfad der friedlichen Entwicklung zu folgen, die unabhängige Außenpolitik des Friedens sowie die besten kulturellen Traditionen — Frieden und Harmonie als Eckpfeiler zu betrachten — bestimmen, dass China einer nationalen Verteidigungspolitik das folgen wird, die ihrer Natur nach defensiv ist.“ Dieser Grundsatz entspricht den historischen Erfahrungen des chinesischen Volkes. „Obwohl ein Land stark werden kann, wird Kriegslust zu seinem Verderben führen. Die chinesische Nation hat den Frieden immer geliebt. Seit dem Beginn der modernen Zeit hat das chinesische Volk unter Aggressionen und Kriegen gelitten und den Wert von Frieden und das dringende Bedürfnis nach Entwicklung gelernt. Daher wird China niemals solche Leiden irgendeinem anderen Land zufügen.“ Damit niemand dieses Bekenntnis zu einer strikt friedlichen Politik missversteht, fügt das Weißbuch hinzu: „Wir werden nicht angreifen, solange wir nicht angegriffen werden. Aber wir werden sicherlich zurückschlagen, sollten wir angegriffen werden.“
- „Das Streben nach Frieden, Stabilität und strategischer Macht wurde zu einem universalen Streben der internationalen Gemeinschaft, wobei die Kräfte für den Frieden über die Elemente des Krieges dominieren. Dennoch wird das internationale Sicherheitssystem und die internationale Ordnung unterminiert durch einen wachsenden Hegemonismus, durch Machtpolitik, Unilateralismus und ständige regionale Konflikte und Kriege (…) Der internationale strategische Wettbewerb wird schärfer. Internationale Waffenkontrolle und Abrüstungsmaßnahmen haben Rückschläge erlitten, mit wachsenden Zeichen eines Wettrüstens.“ Die USA sind der Hauptfaktor, „der den Wettbewerb unter den größeren Ländern provoziert und intensiviert“.
- China erklärt seine absolute Gegnerschaft zu der Aufteilung von ganzen Staaten, wie sie vom Westen gern gegen Opponenten konzipiert und angewandt wird. „China ist fest entschlossen und hat die Fähigkeit, die nationale Souveränität und territoriale Integrität zu verteidigen und wird nie die Sezession eines Teils seiner Territorien durch irgendjemand, durch irgendeine Organisation oder politische Partei (…) erlauben. Wir versprechen (in diesem Zusammenhang) nicht, den Einsatz von Gewalt auszuschließen, und behalten uns die Option vor, alle nötigen Maßnahmen zu ergreifen. Das ist mitnichten gegen unsere Landsleute in Taiwan gerichtet, sondern gegen die Einmischung von der sehr kleinen Anzahl (von taiwanesischen Separatisten). Die Volksbefreiungsarmee wird jeden besiegen, der versucht, Taiwan von China zu trennen.“
- Peking drückt in dem Dokument seine Hoffnung aus, dass alle Länder den Pfad der friedlichen Entwicklung einschlagen und gemeinsam Konflikte und Kriege verhindern. „China verpflichtet sich, mit allen Ländern freundschaftliche Zusammenarbeit auf der Grundlage der fünf Prinzipien des friedlichen Zusammenlebens zu entwickeln. Es respektiert das Recht aller Völker, ihren Weg eigenständig zu wählen, und steht für die Beilegung internationaler Streitigkeiten durch gleichberechtigten Dialog, Verhandlung und Konsultation.“
- Im Gegensatz zu einigen westlichen Staaten, allen voran die USA, verpflichtet sich China, Atomwaffen niemals zuerst einzusetzen. „China bekennt sich immer zu einer Atomwaffenpolitik, der zufolge bedingungslos zu keinem Zeitpunkt und unter keinen Umständen Atomwaffen zuerst zum Einsatz kommen und keine Atomwaffen gegen Nichtatomwaffenstaaten oder atomwaffenfreie Zonen eingesetzt werden oder damit gedroht wird. China befürwortet langfristig das vollständige Verbot und die vollständige Zerstörung von Atomwaffen. China führt mit keinem andern Land einen nuklearen Rüstungskampf durch und hält seine nuklearen Fähigkeiten auf dem für die nationale Sicherheit erforderlichen Mindestmaß.“
Die regionale Dimension des USA-China-Konflikts
Als das zentrale Feld dieser Dimension hat China in seinem Weißbuch zur Verteidigungspolitik den Umgang mit Minderheiten und Separatismusbestrebungen herausgestellt und sehr glaubwürdig dargestellt, dass es die Methode des Westens zur staatlichen Aufsplitterung ihm nicht genehmer Regime nicht hinnehmen wird. Dies betrifft die Frage der Uiguren, der Tibeter und der von Hongkong, Macao und Taiwan. Für die USA sind dies offene Angriffsflächen, in die sie je nach Situation mehr oder weniger offen hineinstoßen. Mit dem umfassenden Handelskrieg haben die USA ihre bisherige „Mischung aus Kooperation, Abschreckung und Druck“ gegenüber China „zugunsten von Druck und Abschreckung“ verändert (9).
Bei der Entfachung der Proteste in Hongkong bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Zusammenstößen von Hunderttausenden Bürgern mit bewaffneten Abteilungen der Staatsgewalt hatten US-Politiker und -Geheimdienste offenkundig und so gewollt ihre Hand im Spiel (siehe Kapitel 12). Die USA, verwoben in ihr Narrativ vom weltpolitisch zu allem entschlossenen, „antithetischen“ globalen Emporkömmling China, scheinen es nicht nur auf die größtmögliche Schwächung Chinas an allen Fronten abgesehen zu haben, sondern auch auf dessen prinzipielle Zweitschlagskapazität und damit auf eine gründliche Zerrüttung des bisher schon wackeligen strategischen Gleichgewichts.
Die USA gehen nach Meinung der offiziösen Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik davon aus, dass China sich im Südchinesischen Meer eine gesicherte Einflusszone schaffen will, von der aus sowohl die Straße von Malakka blockiert werden könnte — von der Chinas Energieversorgung abhängt — als auch der Aufbau und eventuelle Einsatz von seegestützten Mittelstreckenraketen erfolgen könnte, die bis zum Festland der USA reichen. So weit reichen die bisherigen Raketensysteme Chinas nicht, weder land- noch seegestützte (Rudolf, Seite 15 folgende). Diese Überlegungen tauchen die Aufkündigung des INF-Vertrages und die Ankündigung der USA, entsprechende Mittelstreckenraketen in Asien zu stationieren, in ein neues Licht. Die USA sind dabei, die Kampflinie zum neuen Schwerpunkt hin — Pivot to Asia — zu verlagern, einschließlich der Atomwaffen.
Dies wird Chinas Anspruch auf eine eigene Einflusszone noch befeuern. Es geht nicht nur um die Kontrolle über für China lebenswichtige Handelswege, sondern auch um neue Bedingungen für das fundamentale Paradox der Sicherheitspolitik im Zeitalter der Atomwaffen: Wer als Erster schießt, stirbt als Zweiter. Er wird aber dennoch schießen, wenn er davon ausgeht, dass der Gegner (noch) über keine Gegenschlagskapazität verfügt. Dass die Regierung Trump solche Überlegungen durchspielt, davon können wir angesichts der bellizistischen Paranoia des Präsidenten und seiner Entourage ausgehen.
Quellen und Anmerkungen:
(1) National Intelligence Council (USA): Die Welt im Jahr 2035 gesehen von der CIA und dem National Council, München 2017, Seiten 44 und folgende.
(2) Thomas Wrießnig: Die geostrategische Bedeutung der Seidenstraßen-Initiative Chinas (OBOR), 2017, in: Bundesakademie für Sicherheit.
(3) Schmalz, am angebenen Ort, Seite 321.
(4) Vergleiche AIIB. Home.
(6) Graham Allison: Destined for War. Can America And China Escape Thukydides’s Trap?, London 2017, Preface.
(7) Georg Peter Landmann: Geschichte des Peloponnesischen Krieges, München 1991, Seite 37.
(8) Die folgenden Zitate sind in der Übersetzung von pressenza, einer internationalen Nachrichtenagentur. Sie hat Büros in 24 Ländern, ist einem fortschrittlichen Journalismus verpflichtet und lehnt Anzeigen ab; Chinas Weißbuch zur Verteidigungspolitik: Manifest für Frieden und gegen westlichen Hegemonismus, in: pressenza International Press Agency.
(9) Peter Rudolf: Der amerikanisch-chinesische Weltkonflikt, Stiftung Wissenschaft und Politik — Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit, SWP-Studie 2019/S 23, Seite 25.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch von Conrad Schuhler „Wie weit ist es noch bis zum Krieg? Die USA, China, die EU und der Weltfrieden.“ Weitere Quellen sowie die Hinweise zu Kapitel und Seitenzahlen entnehmen Sie bitte dem Buch.