Die besondere Buchhandlung
Buchhändler retten die Buchkultur. Eine Serie.
Private Buchhandlungen sind letzte Inseln einer gelebten Buchkultur und brauchen deshalb Artenschutz.
Kürzlich haben wir in den Nachrichten lesen können, dass der Insektenbestand in Deutschland in den letzten 27 Jahren um 75 Prozent gesunken ist. Keiner hat eine genaue Ahnung, warum. Vielleicht weil „Insektizid“ so eines von den vertrackten Fremdwörtern ist, so eins mit „-zid“ am Ende, was immer das heißen mag.
Na ja, wozu brauchen wir schon Insekten.
Den Buchhandlungenbestand während der letzten 27 Jahre hat so genau keiner gemessen. Der ist natürlich auch rückläufig. Keine Ahnung, warum, wo wir doch alle keine Freunde von Glyphosat und Amazon sind, jedenfalls ist es mit den Buchhändlern wie mit den Insekten: Sie sind eher unscheinbar, da fällt es kaum auf, wenn sie weniger werden.
Deshalb haben wir das Wort „Artenvielfalt“ schließlich erfunden: Weil es die Sache selbst demnächst nicht mehr gibt.
Aber noch gibt es sie. Die Buchhandlung. Die kleine, magische. Die mit dem besonderen Geruch, wenn man reingeht, diesem besonderen Geruch nach Klugheit, Zartheit, Sorgfalt, nach Gedanken auf Papier. Die Buchhandlung mit dem Buchhändler oder der Buchhändlerin darin. Das sind echte Menschen, die Bücher in echt lesen, und bevor sie mir eins verkaufen, überlegen sie, ob das Buch und ich zusammenpassen. Wenn nicht, fällt ihnen eines ein, das eher mit mir spricht und mir was erzählt, was mich aufbaut, was mir auf die Sprünge hilft oder über den Liebeskummer, oder vielleicht brauche ich gerade dieses Buch, das mir die Fragen stellt, nach denen ich gerade suche?
Kostbare Orte und kostbare Menschen sind das, unscheinbar und so kostbar wie Insekten. Schon ziemlich wenig geworden, aber wenn man die Augen aufhält, kann man sie finden.
Der Rubikon möchte einige von ihnen vorstellen oder – besser – von ihren eigenen Kunden vorstellen lassen. Die Buchhändler selbst erzählen dann von einem Buch. Das sie gelesen haben, und das mit ihnen gesprochen und sie bewegt oder ihnen die Fragen gestellt hat, nach denen sie gerade gesucht haben.
Matthias Wolf (Freiberg)
Die Ausgezeichnete
Über Heike Wenige und ihren „Taschenbuchladen“ im sächsischen Freiberg.
Sie sieht mit dem heißen Herzen gut – und rechnet kühl im Kopf. Heike Wenige, Jahrgang 1969, führt seit 24 Jahren den kleinen feinen Taschenbuchladen im Herzen von Freiberg. In der von Traditionen geprägten Silberstadt inmitten eines Dreiecks mit den Eckpunkten Leipzig, Dresden und Chemnitz leben 40.000 Menschen, die Technische Universität Bergakademie sorgt für das weltläufige Flair des Wissenstransports mit Erzgebirgsblick. Früher wurde in Freiberg Silber aus der Tiefe ans Licht geholt, heute leuchtet das Wissen nicht nur aus dem Berg. Die Nachhaltigkeit wurde vor über 200 Jahren hier erfunden: nicht mehr vom Wald zu verbrennen, als in ihm nachwächst.
Wie handelt eine hier mit Brennstoff, mit geistigem wohlgemerkt? Welche Bücher verkauft sie? Und wie?
Indem sie ihre Pappenheimer kennt. Das vor allem. Und ihnen Bücher zur Lebensbewältigung empfiehlt und verkauft, die dabei wesentlich und wichtig sein können: ein in jeder Hinsicht „ausgewähltes literarisches Sortiment“, das längst nicht nur Taschenbücher meint. Ausgewählt heißt von Heike Wenige gelesen, empfohlen und mit viel Sympathie zum momentanen Liebling in einem Regal gegenüber dem Eingang aufgestellt. Links und rechts davon geht es in zwei langen Reihen immer an der Wand entlang, um schon bald an die Ladentheke stoßen zu müssen. Ende Gelände, größer ist er nicht, der Taschenbuchladen. Und das ist auch gut so.
Denn da tummeln sich auf engstem Raum Sibylle Berg neben Stefan Schwarz und Wiglaf Droste neben Sigrid Damm. Da gibt es die Buchpreisträgeranwärter, die Nobelfavoriten und Büchnerpreisgewinner. Da gibt es Postkarten, Reiseführer und Aufklärungsbücher für Kinder und Erwachsene. Da stehen Bildbände mit Schwarz-Weiß-Fotos aus der DDR neben bunter Hiddensee-Romantik. Da gibt es Sven Regener, der seine eigenen Romane als Hörbücher vorliest, oder Katharina Thalbach, die das mit der Tochter und Thomas Braschs Gedichten tut. Und ein mit Feingefühl zusammengestelltes regionales Regal, das die zum Begreifen heran geholte weite Welt um die nahe unbekannte ergänzt. Heimat erwirbt man sich durch Interesse, durch Kenntnisse. Im Taschenbuchladen bekommt man sie. Mit einem Lächeln serviert. Und das alles auf 40 Quadratmetern, die sich aus dem Zwergenhaften des kleinen Lädchens ins unbekannte neue Land des Buchs entfalten können; die der Kunde, der hier mehr Gast als bloß ein Käufer ist, durchwandern kann, um dabei glückliche Entdeckungen zu machen. Manchmal spart eben ein Gang in den Taschenbuchladen den Waldspaziergang. Oder löst ihn erst aus...
Wie gerät eine junge Frau mit Haut und Haar in die Papierlawine? Und warum?
Heike Wenige war früh klar, dass der Beruf der Buchhändlerin zu ihrer Bestimmung werden sollte. „Ich wollte das mit 15 tatsächlich gerne werden. Damals sollte man sich schon festlegen. Lehrstellen waren rar. Und ich stamme auch aus einer Buchhändler- und Antiquarfamilie, also Großvater und die Großonkels waren solche, weswegen es in unserer Familie schon immer viele Bücher gab. Das prägt.“
Nach einer buchhändlerischen Lehre von 1986 bis 1988 blieb sie der Akademischen Buchhandlung in Freiberg treu und wechselte 1992 nach Chemnitz, eher sie 1994 nach Freiberg zurückkehrte, um den Taschenbuchladen zu begründen. Heute hat sie zwei Mitarbeiter und veranstaltet zahlreiche große und kleine Autorenlesungen, die entweder im kleinen Laden, viel öfter aber im nahe gelegenen Ballhaus Tivoli zu einem Fixpunkt des kulturellen Lebens der Stadt geworden sind. Woher sie kommen und warum sich die Gäste die handverlesenen Autoren näher ansehen und -hören möchten, ist ein Geheimnis, das Heike Wenige in ihrer Liebe zum Buch und seinen Erzeugern gern teilt. Was sie empfiehlt, hat offensichtlich Qualität und damit auch Erfolg.
Mit dem lokalen Filmklub hat Heike Wenige die Reihe „Seitenweise Film“ erfunden, die ausgesuchte Literaturverfilmungen bietet; mit dem Mittelsächsischen Theater veranstaltet sie seit acht Jahren einen Lyriksalon, zu dem mittlerweile 50 bis 60 Menschen kommen, um sich etwas so ausgefallenes wie Gedichte anzuhören. Seit drei Jahren unterstützt sie die Freiberger Lesenacht, die an einem Abend über zwanzig Lesende und ihr Publikum für einen guten Zweck zusammenführt. Über die vielen Aktivitäten online, auf facebook oder Instagram gar nicht zu reden, über das Gütesiegel für Leseförderung ebenso. All dies blieb natürlich nicht im Verborgenen. 2015 wurde der Taschenbuchladen mit dem Deutschen Buchhandlungspreis ausgezeichnet. Dass sich Erfolg und langer Atem eventuell gegenseitig bedingen, ist ein ebenso nachhaltiger Gedanke wie der, dass der Taschenbuchladen und seine Gründerin ihre Wirkung eher in der Tiefe der Gedanken als in unendlich Breitgetretenem der Marke Buch sehen. Und dabei dem Ruf des Herzens folgen, aber trotzdem rechnen können.
In diesem Sinne: Alles Gute für die Zukunft!
Heike Wenige in ihrem Taschenbuchladen in Freiberg
Heike Weniges Literaturtipp
Mariana Leky „Was man von hier aus sehen kann“ (Dumont Verlag)
Stellen Sie sich einen Stapel von gefühlt 100 Büchern vor, die dem Buchhändler so pro halbes Jahr von vertrauten Verlagen und ihren Vertretern ans Herz und in den Laden gelegt werden. Vor dem Erscheinen wohl bemerkt, zur Sichtung, Prüfung und wohlwollenden Zuwendung.
Auch der Buchhändler muss sich erst mal auf die vielen Superlative im Klappentext verlassen, die die Verlage bzw. ihre Lektoren für ihre Werke so finden.
Die Annotation zu diesem Buch jedenfalls erschien mir so seltsam, witzig, komisch – und somit gelungen interessant, denn: Wie viele Menschen träumen von einem Okapi? Und noch absurder – immer wenn dies eintrifft bei Selma, einer Protagonistin des Romans von Mariana Leky „Was man von hier aus sehen kann“ (Dumont Verlag), stirbt ein Mensch im Dorf. Das Okapi begegnete mir vor vielen Jahren zum ersten Mal im Leipziger Zoo, einem meiner Lieblingsplätze in meiner Lieblingsstadt, und die Faszination angesichts dieser, wie behauptet wird, „Laune der Natur“ hat auch mich ergriffen ... Und zu diesem Buch greifen lassen. Jedenfalls wird in diesem Buch ein so kleines Dorfidyll geschildert. Moment, Idyll stimmt so nicht, denn alle Persönchen tragen ja so ihre Dinge des Lebens mit sich. Selma ist am eindrucksvollsten – Großmutter von Luise und eine lebenskluge Frau, in die der Optiker verliebt ist, der aber seine Liebesbriefe an sie nicht abschickt. Luise hingegen verliebt sich in einen Mann, der lieber in Japan buddhistisch leben will, Luises Mama liebt den Eisverkäufer, weil Luises Papa lieber die Welt ganz weit weg liebt. Nein, nein, es geht nicht nur um Liebe – es geht ums Gegenwärtige, Vergangene und Kommende dieser so liebenswerten Personen und noch ein paar anderen mehr und das wird so bildhaft erzählt, dass man sich mit am Küchentisch sitzend und die Dinge mit bedenkend fühlt. Hinzu kommt, und das ist für mich ein noch liebenswerterer Aspekt an diesem Buch – es ist mit hinreißendem Witz, mit so lebensklugen Sätzen, die man ständig jemandem vorlesen möchte, erzählt. Mariana Leky findet einen zauberhaften Blick auf die Alltäglichkeit profaner Dinge, auf die Zufälligkeiten des Lebens und deren Widerklang, auf die Komik im Tragischen und umgekehrt.
Sie kennen eine ganz besondere Buchhandlung, auf die Sie hinweisen möchten? Schicken Sie uns gern Ihr Porträt.
Taschenbuchladen Freiberg