Die Besitzstandswahrer
Die Kühnert-Debatte verschweigt, dass auch im Kapitalismus enteignet wird — dort allerdings die „Normalbürger“.
Die Stimmung kocht hoch, und die SPD scheint in den Umfragen immer mehr Wähler zu verlieren. Der Grund: Der Vorsitzende der Jungsozialisten, Kevin Kühnert, hat erklärt, er könne sich eine Kollektivierung zum Beispiel von BMW oder auch Wohnraum gut vorstellen. Sogleich rollt die ganze Armada der Medienmaschinerie an, um sich zu empören. Damit täuscht sie jedoch nur darüber hinweg, dass Enteignungen mitnichten eine Ausgeburt des Sozialismus sind, sondern auch im Realkapitalismus vorkommen. Die Frage ist nur, wer zu wessen Gunsten enteignet wird.
Was Sozialismus für ihn heiße, wird Juso-Vorsitzender Kevin Kühnert in einem Interview der Zeit gefragt, das allerdings hinter einer Paywall versteckt ist. Seine Antwort: Zum Beispiel eine Kollektivierung von BMW und, dass es kein Eigentum an Wohnraum mehr geben darf. Diese ganz gängige Definition von Sozialismus ruft gleich eine Empörungswelle hervor, die sich nun über Kühnert ergießt. Sofort wurden seine Aussagen zu Forderungen deklariert, über die man sich dann trefflich aufregen kann.
Bei dem Medienecho könnte man beinahe annehmen, die Bundesrepublik stehe nun kurz davor, sich in die DDR zu verwandeln, Stasi und Gulag einzuführen, und die Menschen in Armut und Depression zu stürzen.
Enteignungen, das erinnere sie an die 1980er, meinen auch die Grünen.
Von der ganz rechten AfD bis in die bürgerliche Mitte der Grünen und der SPD stieß die Idee auf Ablehnung. Dies offenbart nicht nur, dass sogar Parteien, die sich selbst links nennen, mitten im spießbürgerlichen Konservatismus angekommen sind, sondern auch die Heuchelei, mit der Politiker und Medien die herrschenden Verhältnisse verteidigen.
Wessen Gedächtnis ist denn da so lückenhaft? Enteignungen sind im Realkapitalismus etwas vollkommen Normales. Es kommt immer wieder vor, dass der Staat in die Eigentumsrechte von Privatpersonen eingreift und ihnen ihr Haus und ihr Grundstück wegnimmt. So hat der Konzern RWE über Jahrzehnte hinweg Privatpersonen enteignen und umsiedeln lassen und dabei sogar rechtswidrig gehandelt. Das Ziel eines solchen Tuns: Private Gewinne zu erwirtschaften. Hier springt der Staat bereitwillig zur Seite und enteignet die Menschen zugunsten eines Konzerns. Die Belange der Privatpersonen spielen dabei keine Rolle. Was zählt, ist lediglich der Gewinn, der aber ganz gerne als „Gemeinwohlziel“ getarnt wird.
Warum laufen die Enteignungsgegner nicht gegen diese Maßnahmen Sturm? Immerhin kommen die Enteignungen, wie sie zum Beispiel RWE betreibt, nicht den Menschen zugute, sondern dienen lediglich dem Profit der Konzerne. Warum nimmt niemand daran Anstoß, dass zu diesem Zweck Menschen ihre Häuser und Grundstücke weggenommen werden? Warum ist es aber vollkommen unvorstellbar, zugunsten der Mehrheit der Bevölkerung Großkonzerne und Miethaie zu enteignen? Was macht das Eigentum von BMW oder von Wohnungseigentumskonzernen wertvoller als das privater Menschen?
Man sieht also, Enteignungen sind nicht etwas aus den 1980er Jahren, und schon gar kein singuläres Merkmal einer in Misswirtschaft und Korruption versunkenen DDR, sondern kommen auch im von Misswirtschaft und Korruption geprägten, heutigen Kapitalismus durchaus vor.
Die Empörungsmaschine der Medien versucht also mit einseitiger Meinungsmache die herrschenden Zustände zu bewahren, sodass wenige Reiche ungestört die Mehrheit der Bevölkerung ausbeuten können.
Fröhlich dreschen Bild, welche die Aussage Kühnerts als „Irrer Vorstoß“ bezeichnet und Focus, der ein Horrorszenario entwirft, das mit der Realität wenig zu tun haben dürfte sowie eine Reihe anderer Medien auf Kühnert ein. Sie stellen sich damit schützend vor die Hand, die sie füttert.
Doch die Debatte offenbart nicht nur die kriecherische Haltung der Medien und Politiker, sondern noch etwas anderes: Die vollkommene Visions- und Fantasielosigkeit, mit der die Mehrzahl der Menschen heutzutage durch die Welt geht. Eine Veränderung des Status Quo, eine Gesellschaft jenseits von Ausbeutung und Lohnarbeit, von Eigentum, Konsum und Profitinteressen scheint sich niemand mehr vorstellen zu können. Das Narrativ der Alternativlosigkeit scheint bestens in die Identität und Wahrnehmung eines jeden Bundesbürgers integriert zu sein. Jeder, der noch an eine Veränderung glaubt, wird als Spinner abgestempelt. Danach widmen sich alle wieder der kollektiven Zerstörung der eigenen Lebensgrundlage und ducken sich unter die Peitsche des Arbeitgebers.
Die Menschen haben sich mit ihrer Ausbeutung und Unterdrückung bereits so arrangiert, dass sie keine Veränderung mehr wollen. Das Elend, in dem sie leben, ist ihnen immerhin vertraut. Jeder weiß, worauf er sich einlässt, wenn er sich täglich zur Arbeit schleppt, um die horrende Miete bezahlen zu können. Jede Veränderung ist ein Sprung ins Unbekannte. Am Ende könnte sich ja noch etwas verbessern, und dann hat man nichts mehr, worüber man sich noch beschweren könnte. Ein Verlust für den Durchschnittsdeutschen, den er nicht riskieren will. Dann lieber die Vorstellungskraft gemeinsam mit der Hoffnung begraben und an der Seite der Ausbeuter auf jeden einprügeln, der auch nur entfernt von einem Wandel redet, so lange, bis der Kapitalismus die Menschheit zu Grabe getragen hat.