Die Balkanisierung Syriens
Statt Freiheit und Demokratie brachte der Sturz der Assad-Regierung in Syrien nur ausländische Dominanz und die Spaltung des Landes.
Die Spaltung Syriens ist in den Köpfen seiner Bevölkerung bereits vollzogen, während die beiden USA-Verbündeten Israel und Türkei ihre Einflusszonen abstecken. Die Zerschlagung Syriens am besten mittels Nationalstaaten für Alawiten, Kurden und Drusen steht auf der Agenda Israels und der USA.
Anfang April hatte Israel neben einem Rüstungsforschungszentrum bei Damaskus auch den Militärflughafen von Hama und den Luftwaffenstützpunkt Tiyas (T4) im Regierungsbezirk Homs bombardiert und komplett zerstört. Die Luftangriffe folgten auf ein Treffen zwischen dem Befehlshaber des US-Zentralkommandos, General Michael Kurilla, und dem israelischen Generalstabschef Eyal Zamir in Tel Aviv, bei dem es Berichten zufolge um die Begrenzung der türkischen Aktivitäten in Syrien ging.
Dem neuen syrischen Präsidenten Achmed Dscholani (Achmed asch-Scharaa) drohte Israel, sollte er Feinden Israels Einfluss in Syrien gewähren, werde er dafür einen hohen Preis bezahlen. Israel werde es der Türkei, der es „Neo-Osmanismus“ vorwarf, nicht erlauben, gegen seine militärischen Operationen in Syrien vorzugehen, wie dies durch die Stationierung eines Raketenabwehrsystems am T4-Militärstützpunkt vorgesehen war, insbesondere auch dann, wenn ehemalige Kämpfer von Hayat Tahrir asch-Scham (HTS) mit direkter Unterstützung Ankaras den Aufbau der neuen syrischen Armee übernehmen. Dabei geht es nicht nur um Syrien, sondern auch um die Kontrolle des Gas- und Öltransfers im östlichen Mittelmeerraum, wobei die türkischen Ambitionen durch Militärstützpunkte in Libyen, dem Irak und jetzt auch in Syrien gestärkt werden.
Da sowohl Israel als auch die Türkei enge Verbündete der USA sind, konnte der US-amerikanische Präsident Donald Trump bei seinem Treffen mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu am 7. April im Weißen Haus erklären, er denke, er könne jedes Problem lösen, das Israel mit der Türkei hat. Das Anliegen der USA und Israels war es gewesen, die Achse des Widerstands — bestehend aus Hamas in Gaza, Hisbollah im Libanon und iranischem Militär in Syrien — zu brechen, was mit Hilfe der Türkei gelungen ist. Der Plan zur Vertreibung der Palästinenser aus Gaza scheint aufzugehen, die Hisbollah im Libanon ist erschöpft und der Iran konnte vollständig aus Syrien verdrängt und sein Einfluss in der Region geschwächt bis gebrochen werden.
Seit dem 9. April verhandeln Israel und die Türkei über einen militärischen Koordinationsrahmen, ähnlich dem, den Israel mit Russland vereinbarte, um direkte militärische Konfrontationen im syrischen Luftraum zu vermeiden. Die Gespräche fanden in Aserbaidschan statt, das der neuen syrischen Regierung unter Achmed Dscholani nahesteht. Israel beabsichtigt, in Abstimmung mit Washington, gegenüber der Türkei einen diplomatischen Weg einzuschlagen, wobei sowohl Israel als auch die Türkei nach dem gemeinsam errungenen Sieg gegen den vorherigen Machthaber Assad ihren jeweiligen Einfluss in der Region ausbauen wollen und beide um die regionale Vormachtstellung ringen.
Die Verzwergung Syriens unter der Dscholani-Regierung
Das Chaos und der ständige Aufruhr in dieser Weltregion entstanden nicht aus Fehlern der Großmacht USA, sondern folgten und folgen einem präzise ausgearbeiteten Plan. Das schwache und fragmentierte Syrien wird zukünftig in verschiedene Einflusssphären aufgeteilt. Die Türkei wird einen Klientelstaat im Norden Syriens kontrollieren, Israel dominiert den Südwesten, die USA haben ihre Militärgarnisonen im ölreichen Osten, und Russland pocht auf seinen begrenzten Einfluss an der syrischen Mittelmeerküste, wo es an seinen Militärstützpunkten festhält.
Es ist schon erstaunlich, welche Marionettenrolle dem neuen syrischen Präsidenten Dscholani dabei zugedacht ist. Der Bombardierung und Besetzung durch Israel hat er nichts entgegenzusetzen — oder er will es nicht. Mit der Nato-Besatzungsmacht Türkei ist er als guter Alliierter des Westens verbündet. Müssten sich seine al-Kaida-Kämpfer nicht schon lange verschaukelt vorkommen, ständig gegen ihre Glaubensbrüder in islamischen Ländern als Proxy-Kämpfer des Westens, der USA und Israels, eingesetzt zu werden?
Während auf den Straßen Syriens seine al-Kaida-Kämpfer von Hayat Tahrir asch-Scham (HTS) den Aufbau eines islamischen Staates fordern und Massaker an der alawitischen Minderheit begehen, gibt sich Dscholani gemäßigt. Am 5. April stellte er sein Kabinett vor. Von den 23 Regierungsmitgliedern sind 19 sunnitische Araber, eines Kurde, eines Alawit (Verkehrsministerium) und eines Druse (Landwirtschaftsministerium), dazu eine Christin im Sozial- und Arbeitsministerium. Die einzelnen Volks- und Religionsgruppen waren bei diesen Ernennungen nicht miteinbezogen. Laut Nahostexpertin Gudrun Harrer sind in der syrischen Regierung zwei Personen vertreten, die in Deutschland gelebt haben. Man sollte sich erinnern: Israel ist deutsche Staatsraison.
Daneben gibt es noch eine interessante Personalie. Zu seinem Generalsekretär ernannte Dscholani seinen Bruder Maher asch-Scharaa, dessen Biographie überrascht. Maher asch-Scharaa war 20 Jahre lang in Russland als Gynäkologe tätig, ist mit einer Russin verheiratet, seine drei Kinder sind in Russland geboren und aufgewachsen. Es könnte über diese Verbindung also auch der Kreml um Einfluss ringen.
Natürlich sollten nicht nur der Westen und Russland zufriedengestellt werden, sondern ein Zuckerl für die extremistischen HTS-Kämpfer sollte schon auch dabei sein. So wurde der alte Mufti von Damaskus, ein moderater Mann des Dialogs, abgesetzt, ins Gefängnis geworfen und gegen einen neuen Mufti ausgetauscht.
Die UN musste der syrischen UN-Vertretung mitteilen, dass sich ihr Rechtsstatus geändert hat. Syrien hat nun keine ständige Mission als UN-Mitgliedsstaat mehr, sondern ist nur noch eine Mission einer von den USA nicht anerkannten Regierung. Den USA bleibt es nun unbenommen, syrischen Diplomaten für die Einreise nach New York Visa auszustellen oder zu verweigern. Die Entscheidung der USA bedeutet den Entzug der faktischen Anerkennung der durch die UN-Mission vertretenen syrischen Regierung, unbeschadet der Mitgliedschaft Syriens in den Vereinten Nationen. Dies belegt, dass die derzeitige syrische Regierung von den USA bisher nicht als legitime Vertretung des syrischen Staates anerkannt wird.
Noch Ende März stellten die USA Syrien Bedingungen für eine teilweise Aufhebung der Sanktionen, nun will sich Donald Trump Mitte Mai mit Dscholani in Saudi-Arabien treffen — unter Vermittlung von Kronprinz Mohammed bin Salman. Mit Sicherheit werden die USA Dscholani dort auch eine Normalisierung der Beziehungen zu Israel nahelegen. Die Eröffnung der israelischen Botschaft in Damaskus dürfte anschließend nicht lange auf sich warten lassen. Es heißt, dass Dscholani bereits zugestimmt habe, Palästinenser aus Gaza in Syrien anzusiedeln, im Austausch für die Normalisierung der Beziehungen mit den USA und die Aufhebung der Sanktionen.
Steven Witkoff, Sondergesandter des US-Präsidenten für den Nahen Osten, hatte in einem Interview mit Tucker Carlson erklärt, dass eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Syrien und Israel zu einer realistischen Möglichkeit geworden sei, nachdem Syrien die iranische Einflusssphäre verlassen hat, während zwischen Israel und dem Libanon sogar der Abschluss eines Friedensvertrags möglich erscheint.
Syrien wurde zu einem Durcheinander von Besatzungs- und Einflusszonen ohne wirkliche Regierung.
Die Ambitionen Israels und der Türkei
Nachdem seit Dezember 2024 Israel Hunderte Luftangriffe in ganz Syrien geflogen hat — im Südwesten, an der syrischen Küste, im Nordosten Syriens, in Damaskus, Hama und Homs — und gleichzeitig seine Absicht bekundete, syrisches Gebiet auf unbestimmte Zeit zu besetzen, zeigen sich sogar die UN besorgt, dass darunter „Syriens Souveränität, Unabhängigkeit, Einheit und territoriale Integrität leiden könnte“.
Israel gibt vor, die Golanhöhen im Südwesten Syriens deshalb militärisch zu besetzen, um die dort beheimateten Drusen und Christen vor den neuen syrischen Machthabern zu schützen. Das bereits seit 1967 völkerrechtswidrig von Israel besetzte Gebiet wurde nach dem Sturz Assads und dem Einmarsch der israelischen Armee weit hinein in syrisches Staatsgebiet bis kurz vor Damaskus ausgedehnt, die stationierten Blauhelme wurden vertrieben und mindestens neun israelische Militärstützpunkte errichtet. Israel drängt die syrischen Drusen, ebenso wie die Kurden, zur Unabhängigkeit, während es sich zu ihrer Schutzmacht ausruft. Mittlerweile macht sich auf den Golanhöhen gegen die israelische Besatzung und die Militarisierung des Gebiets Unmut breit; immer wieder werden Bewohner verhört oder gar getötet, Felder zum militärischen Sperrgebiet erklärt, Brot und Treibstoff unerschwinglich teuer. Die Bewohner finden sich in einem militarisierten Alptraum wieder.
Dagegen sieht sich die Türkei als Schutzmacht für das neue syrische Regime. Doch als die Türkei versuchte, in Zentralsyrien den strategisch wichtigen T4-Luftwaffenstützpunkt auszubauen und dort Luftverteidigungssysteme zu stationieren, bombte Israel T4 in Grund und Boden. Israel will es nicht zulassen, dass ein türkisch-syrisches Luftverteidigungssystem Israels Lufthoheit über syrisches Gebiet infrage stellt.
Die Türkei scheint zunächst in der Region ausgebremst und wird die Verfolgung ihrer noch viel weitreichenderen Ambitionen — die Griechenland, Zypern, Irak, Südkaukasus und das zentrale Asien umfassen — langsamer vorantreiben müssen, denn überall dort wollen auch die USA und Israel die dominierenden Mächte sein. Vor allem Ägypten und Frankreich sind daran interessiert, die Türkei aus dem Mittelmeerraum zu verdrängen; die Vereinigten Arabischen Emirate und Israel könnten Finanzkanäle kappen und auch Russland könnte sich von der Türkei zurückzuziehen.
Während die Türkei auf das Schärfste Israels Vernichtungsfeldzug gegen Gaza verurteilte, machte das Nato-Mitglied gleichzeitig blendende Geschäfte mit Israel. Ideologisch stützt sich Erdogan auf die Moslembruderschaft und möchte den schiitischen Iran als Führer der anti-israelischen-Achse und Unterstützer der Palästinenser verdrängen. Zwar gibt sich die Türkei als Gegenspieler Israels; ernsthaft zu befürchten dürfte Israel als der verlängerte Arm der USA in der Region aber nichts haben.
Die Kurdenfrage
In dem Machtspiel um die regionale Vorherrschaft spielen die Kurden eine besondere Rolle. Israel will die kurdische Karte ausspielen, indem es versucht, die Kurden bei der Erlangung eines unabhängigen Staates im Norden Syriens zu unterstützen. Israel soll inoffiziell mit einigen Fraktionen der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) zusammenarbeiten, um der türkischen Bedrohung in Nordsyrien entgegenzutreten. Damit würde sich die Möglichkeit eines Kurdenstaates auch in der Türkei eröffnen, eine Option, die die Türkei niemals zulassen wird. Die Türkei beharrt auf der Auflösung und Entwaffnung der kurdischen YPG. Sind sich der in türkischer Gefangenschaft befindliche Kurdenführer Öcalan und der türkische Präsident Erdogan auch in Feindschaft verbunden, so einigt sie doch der moslemische Glaube und die Ablehnung Israels als beherrschende Regionalmacht.
Trotz des Abkommens zwischen Dscholani und dem kurdischen Oberkommandierenden der SDF, Mazlum Abdi, das die Integration der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien in den syrischen Staat vorsieht, hat die kurdische Selbstverwaltung der neu installierten Regierung in Damaskus eine klare Absage erteilt; sie sei nicht repräsentativ für Syriens Gesellschaft. Tatsächlich sitzt niemand in dem am 5. April von Dscholani vorgestellten neuen Kabinett, der der großen Kurdenpartei PYD nahesteht.
Der türkische Außenminister forderte Syrien auf, den Kurden jegliches Recht auf Selbstverwaltung zu verweigern, ihnen jedoch Bürgerrechte zu gewähren. Die kurdische Autonomieverwaltung Rojava war laut Thierry Meyssan ein Protektorat der USA, das deren illegale militärische Besetzung des Landes verschleierte. Der Autor und Journalist Meyssan sieht als verbleibendes Problem die Verteilung der Einnahmen aus den syrischen Ölquellen, von denen die eine Hälfte an die kurdischen Führer ging und die andere Hälfte in den Schmiergeldfonds der CIA floss, um damit geheime Operationen ohne Wissen des US-Kongresses zu finanzieren.
Gingen die Pläne der USA und Israels auf — dass sowohl Drusen als auch Kurden eigene Nationalstaatlichkeit erlangen würden und Israel ihre „Schutzmacht“ wäre —, fände sich das mit der Türkei verbündete Rest-Syrien zwischen dem Kurdenstaat im Nordwesten und dem Drusenstaat im Südwesten eingeklemmt.
Alawiten, Christen, Armenier
Die Religionsgruppe der Alawiten, der auch der gestürzte und nach Russland geflohene ehemalige Präsident al-Assad angehört, wird massiv verfolgt. Dscholani hatte in einem Interview des Jahres 2014 verkündet, dass er Alawiten nicht als Muslime anerkenne. Im Nordwesten des Landes an der Mittelmeerküste, insbesondere in Latakia, fanden auf Videos dokumentierte grausame Massaker unter der alawitischen Minderheit statt. Sie wurden von der HTS mit Unterstützung extremistischer Kämpfer aus Zentralasien und dem Kaukasus begangen. Viele Alawiten suchten und fanden in diesen Tagen Schutz im russischen Militärstützpunkt. Inzwischen sollen etwa 80.000 Alawiten über den Grenzfluss in den Libanon geflohen sein. Es muss von einer ethnischen Säuberung gesprochen werden.
Von den Verfolgungen und Massakern sind auch Christen betroffen. Sie wurden jedoch nicht, wie die Alawiten, gezielt verfolgt, sondern waren bei der brutalen Jagd auf Alawiten, die sich häufig die Wohngebiete mit Christen teilen, „Beifang“.
Von der armenischen Minderheit sollen aufgrund der verheerenden wirtschaftlichen Lage und der weit verbreiteten Gewalt die meisten bereits ins Ausland geflohen sein. Lokale Quellen in Aleppo berichten von einem Rückgang der armenischen Bevölkerung um über 80 Prozent. Die noch im Land verbliebenen Armenier versuchen, gegenüber der HTS eine weitgehend neutrale Position einzunehmen, doch tragen Dscholani und seine HTS der armenischen Gemeinde die positive Beziehung nach, die diese mit der ehemaligen Assad-Regierung pflegte.
Ethnische Säuberung und Balkanisierung
Die wahre Balkanisierung fand in den Köpfen der Menschen statt, die durch die an Alewiten und Christen begangenen Massaker zu tödlicher Feindschaft führten und Israel und den USA den perfekten Vorwand lieferten, um in Syrien eine Balkanisierung durchzusetzen und den bisherigen syrischen Staat zu zerschlagen. Als Restgebilde bliebe ein sunnitischer Binnenstaat, der vollständig von der Türkei abhängig wäre.
Statt Freiheit und Demokratie brachte die sogenannte Revolution in Syrien nur ausländische Dominanz und die Spaltung des Landes. Wie Kevork Almassian es ausdrückte: „Egal, welchen politischen, ethnischen und religiösen Hintergrund ein Syrer hatte, sein Land hat er verloren.“
Es fragt sich, welche Rolle die arabischen Staaten in diesem Machtgezerre um die Vorherrschaft im westlichen Asien spielen und ob sie überhaupt noch eine Rolle spielen. Mit Sicherheit hat Israel in seinem Bestreben, ein Großisrael zu verwirklichen, bereits begehrliche Blicke auf weitere Gebiete geworfen. Nach Syrien könnte Jordanien fallen, dessen Trinkwasser Israel bereits kontrolliert. Im Irak werden die Kurdengebiete eine wichtige Rolle spielen; auch Ägypten mit dem Sinai sind im Visier, sollte es Israel erst einmal gelungen sein, Einfluss in dessen Nachbarland Libyen zu gewinnen.
Ob Israel mit dem Sturz der Assad-Regierung in Syrien wirklich an Sicherheit gewonnen oder seine Probleme erst verschärft hat, wird die Zukunft zeigen. Ein Ende der Konflikte ist jedenfalls nicht absehbar; die Lage könnte weiter eskalieren, insbesondere, wenn Donald Trump seine Drohung wahrmacht und Israels Problem mit dem iranischen Atomwaffenprogramm militärisch zu lösen versucht.