Die Ausgrenzung
Wenn der Bundestag behauptet, die BDS-Bewegung sei antisemitisch, diskriminiert er Juden.
Gegen Antisemitismus sind wir alle — speziell nach den furchtbaren Ereignissen während der Hitler-Diktatur. Was aber, wenn Juden Juden kritisieren — auf welche Seite schlägt sich da der historisch sensibilisierte Nachkriegsdeutsche? Der deutsche Bundestag hat diese Frage jetzt allzu eindeutig und zu billig beantwortet, indem er die Boykottbewegung gegen die Menschenrechtsverletzungen an Palästinensern als „antisemitisch“ abkanzelte. Das Problem dabei: die Abgekanzelten sind zum großen Teil auch Juden. Die wechselhafte Geschichte des Judentums wurde nicht allein durch Einigkeit oder gar Gleichschaltung vorangetrieben; Konflikte, speziell auch ausgelöst durch „Außenseiter“, prägten sie. Es ist fatal, eine Gruppe von Juden gleichsam aus dem Judentum auszuschließen, nur weil sie das inhumane Verhalten Einiger (speziell: der israelischen Regierung) kritisieren. Erst recht unangebracht ist es, wenn dies durch den deutschen Bundestag geschieht, der sich somit das Urteil darüber anmaßt, was „gute Juden“ sind.
Durch einen Beschluss vom 17. Mai 2019 hat der deutsche Bundestag die BDS-Bewegung, die sich für Menschenrechte und das Völkerrecht in Israel einsetzt, als antisemitisch verleumdet. Über den Beschluss und seine Absurdität hatte ich bereits in einem Artikel und PodCast berichtet (1). Um darzulegen, wie sehr der Beschluss jüdische Bürger Israels diskriminiert, welche die Bewegung unterstützen, zitiere ich aus einem Artikel in der israelischen Zeitung Haaretz vom 9. Mai 2019.
Ben Lorber schrieb den Beitrag als Antwort an Peter Beinart mit dem Titel: „Wir pro-BDS-Juden sind genauso Teil des jüdischen Volkes wie ihr.“
Der Artikel beginnt mit der Feststellung, dass die BDS-Kampgange immer mehr jüdische Studenten überzeugt, was hitzige Gegenangriffe des Establishments ausgelöst hätte. Das Establishment hielte krampfhaft am Status quo fest, während in der US-amerikanischen jüdischen Gemeinde eine erdbebenartige Veränderung auf dem Weg wäre.
Lorber beschreibt, dass diejenigen Studenten, welche die Aktionen von Boykott, De-Investitionen und Sanktionen (BDS) gegen Israel so lange unterstützen wollen, bis die Regierung die Verletzung der Rechte der Palästinenser beendet, oft über schmerzvolle Geschichten der Ausgrenzung aus der jüdischen Gemeinde berichten.
„Sie erzählen mir, in meiner Eigenschaft als Campus-Koordinator mit der BDS-freundlichen Organisation ‚Jewish Voice for Peace‘ [JVP, Jüdische Stimme für Frieden], dass sie den Sabbat nicht länger in ihrer Hochschulgemeinde feiern könnten, ohne sich den eiskalten Blicken und verächtlichen Abwendungen auszusetzen. Und dass der Rabbi ihrer Synagoge die gesamte Rosh Hashanah Predigt den ‚Teufeln der BDS-Bewegung‘ widmete. Und dass sie an keiner Familienfeier teilnehmen könnten, ohne dass sie mindestens einmal ein ‚selbsthassender Jude‘ genannt wurden“ (2).
Dann holt er aus, um zu erklären, dass es auch eine andere Seite der Geschichte gäbe: Gerade wäre eine Welle neuer Anhänger der Bewegung gegen die Besatzung in die JVP eingetreten. Außerdem hätte der Präsident der Hochschulgemeinde öffentlich die Besatzung kritisiert, und gefordert, dass der JVP ein Platz am Tisch eingeräumt werden müsste. Und dass eine alte Freundin in einer privaten Mitteilung gestand, die BDS zu unterstützen, um Gerechtigkeit für Palästina zu erreichen. Allerdings wäre sie zu ängstlich, das öffentlich zuzugeben.
Mit diesem wachsenden Engagement, so Lorber, und auf der anderen Seite den fiebrigen Gegenangriffen, fände ein Meinungserdrutsch in der US-amerikanischen jüdischen Gemeinde statt. Der alte Konsens würde zerstört, und eine neue jüdische Welt würde sich zeigen.
„Wenn daher der liberale Kolumnist Peter Beinart mir kürzlich in Haaretz vorwarf, dass Juden wie ich die ‚Bande der Volkszugehörigkeit‘ zerrissen hätten, weil sie BDS unterstützen, so vernahm ich eine Behauptung, die den Konsens der alten jüdischen Welt widerspiegelt, nicht die Konturen der neuen. Während pro-BDS-Juden wie ich in Wirklichkeit eine starke jüdische Identität aufrecht erhalten und robuste jüdische Gemeinschaften erschaffen, bleibt die Tatsache bestehen, dass wir in Beinarts Sichtweise scharf mit dem jüdischen Mainstream-Konsens gebrochen haben.“
Der Autor führt aus, dass die dissidenten Juden, die sich mit Palästinensern solidarisch erklären, die täglich Gewalt durch den israelischen Staat erleben, von der örtlichen Synagoge verleumdet würden, dass man ihnen Arbeitsplätze an der örtlichen JCRC [Jewish Community Relations Council / Rat für Beziehungen zur jüdischen Gemeinde] verwehrt und sich über sie lustig mache. Die Dissidenten hätten ihre ethischen Werte über das Gebot, wie es Beinart formulierte, „andere Juden zu beschützen“, erhoben. Und für diese Wahl, so Lorber, hätten sie sich selbst aus dem jüdischen Kollektiv ausgeschlossen.
Dann stellt er jedoch die Frage, mit welcher „Volksgemeinschaft“ sie denn genau gebrochen hätten? Wer denn die Grenzen dessen bestimmt, die Beinart das Kollektiv der „Familie“ genannt hatte?
„Mainstream-Synagogen mit ihren Bannern „Wir stehen zu Israel“ pflastern die Straßen und israelische Flaggen schmücken die „Bimah“, kämpfen darum, Mitglieder unter 50 Jahren zu finden. In vielen Orten geht eine wachsende Mehrheit der Juden nicht mehr durch die Türen ihrer JCRC oder ihrer Hochschulgemeinde. Aus einer Reihe von Gründen waren Organisationen wie diese seit Jahrzehnten verschlossen nicht nur für BDS-Aktivisten, sondern auch für schwule Juden, farbige Juden, Juden aus gemischtreligiösen Familien, Juden, die einfache Arbeiter waren, behinderte Juden, und viele andere. Mehr und mehr Juden verlassen die jüdischen Institutionen des Establishments.“
Der Autor berichtet, dass immer mehr Juden vorzögen, sich unabhängig zum jüdischen Gottesdienst zu versammeln (Minjan) und alternative havurah (Beerdigungen) und andere Rituale zu organisieren. Bei diesen heterogen zusammengesetzten Treffen finden sich nicht nur viele Juden, die gegen die Besatzung eingestellt sind, sondern auch solche, die ganz bewusst die BDS-Bewegung unterstützen.
Solche Entwicklungen, so der Autor, und Organisationen wie die JVP erschaffen genau das, was die ewiggestrigen Institutionen nicht vermögen: eine multi-ethnische, multi-religiöse und Altersgrenzen überbrückende Gemeinschaft auf dem Boden von jüdischen Werten und Gerechtigkeit.
Lorber erklärt, dieses Phänomen hätte sich in der jüdischen Geschichte mehrfach wiederholt. Jüdische Dissidenten, welche an den Begrenzungen der erlaubten Diskussion rüttelten, hätten das Zentrum jüdischen Lebens verändert. Deshalb sollte diese Entwicklung niemanden überraschen.
Jüdische Geschichte gleiche einem Wandteppich, durchzogen mit lebhaftem Dissens, markiert durch leidenschaftlichen Widerstand, gestaltet durch Außenseiter und Ausgestoßene.
Als Beispiel führt er die zionistische Bewegung an. Diese hätten die meisten Gemeinden in den ersten Jahrzehnten ihrer Existenz als gefährlich angesehen. Religiöse Juden warnten davor, dass Zionismus die Juden von der Torah entfremden würde. Liberale Juden hatten davor gewarnt, dass der Zionismus die Juden von den Ländern entfremden würde, in denen sie ihre Wurzeln haben. Linke Juden warnten davor, dass Arbeitnehmerrechte und soziale Gleichheit verloren gingen.
„Wie jüdische BDS-Anhänger heute waren die Zionisten von den meisten in den ersten Jahrzehnten ihrer Entstehung als Herausforderung der jüdischen Einheit und physische und existentielle Bedrohung für die jüdischen Menschen angesehen worden. (…) Die Wahrheit ist, dass wir, die jüdischen Menschen, uns nicht durch stabile Grenzen als homogene Einheit zusammen geschlossen bewegten. Stattdessen ist für uns typisch, dass wir ‚von alters her‘ leidenschaftlich und oft die Grundfesten erschütternd streiten. Die Grenzen und Konturen unserer Volksgemeinschaft waren immer dynamisch im Fluss. Und wir wurden oft durch Außenseiter-Ideologien, die zunächst die Mehrheit hochgradig bedrohten, vorwärts gebracht. Dinge ändern sich. Ideen, die zu einem Zeitpunkt als der Kontinuität unserer Gemeinschaft entgegengesetzt erschienen, erwiesen sich später als gefeierte Normen.“
Der Autor erklärt dann, dass die jüdische Gemeinschaft an einem Wendepunkt angekommen wäre. Es gäbe eine wachsende Zahl von Juden wie ihn, der BDS als strategische, verantwortliche, gewaltfreie Maßnahme unterstütze, um in der Bewegung, die Gerechtigkeit für Palästinenser sucht, eine Rolle zu spielen.
Jene, die versuchen würden, sie aus der Gemeinschaft auszuschließen, hingen einem Status quo an, der ihnen unter den Füßen weggezogen würde.
Juden der Vergangenheit wären schockiert zu sehen, dass es heute eine größere Sünde wäre, den Staat Israel zu hinterfragen, als den Glauben an Gott.
Und so würden die Juden von morgen in einer Gemeinschaft leben, die für den heutigen Mainstream unvorstellbar wäre.
„Die Juden, welche die Strategie von BDS unterstützen, schätzen nicht nur ethische Werte höher ein als jüdische Gemeinsamkeiten. Sondern wir arbeiten daran, die jüdischen Gemeinschaften zu transformieren in solche, die unsere Werte widerspiegeln. Pro-BDS-Juden wie ich sind nicht hier, um die Palästinenser zu befreien oder ihnen zu erklären, wie sie sich befreien können. Wie wir es sehen, ist unsere Arbeit mit unserer Gemeinschaft verbunden, mit dem Ruf nach Gerechtigkeit für Palästinenser, und damit, einen Beitrag zu leisten für die wachsende mannigfaltige Bewegung für Gleichheit und Freiheit.“
Fazit
Mit dem Beschluss des deutschen Bundestages vom 17. Mai, mit dem die BDS-Bewegung als „antisemitisch“ verleumdet wird, hat sich die überwältigende Mehrheit der Abgeordneten eingereiht in die Masse der Ewiggestrigen, die gegen Gleichheit und Freiheit stehen und nur der „Staatsräson“ folgen. Sie diskriminieren nicht nur die Juden, die sich offen oder versteckt auf die Seite der BDS-Bewegung stellen, sondern auch jene Juden, die den Zionismus ablehnen (3) und wünschen, dass Israel zu einem demokratischen, multi-ethnischen, multi-religiösen Staat wird, einem Staat, in dem alle Bürger die gleichen Rechte haben.
Die Abgeordneten des deutschen Bundestages, die für den Antrag stimmten, haben einen weiteren Teil dazu beigetragen, dass der Begriff „Antisemitismus“ nicht mehr als das zu erkennen ist, was er einmal darstellen sollte: Den Tod bringenden Rassismus gegen eine Religionsgruppe.
Antisemitismus wurde zu einem politischen Totschlagargument, um die Auseinandersetzung mit anderen Meinungen zu verhindern. Aber gerade dadurch verwässert er und hat nun keine Glaubwürdigkeit mehr.
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://kenfm.de/wie-der-bundestag-mit-apartheid-umgeht/
(2) https://www.haaretz.com/opinion/.premium-to-beinart-pro-bds-jews-are-just-as-jewish-as-you-1.5381218
(3) https://www.youtube.com/watch?v=rHhlTaDJBbI