Die aufgeschobene Friedensarbeit
Eine neue Sicherheitsarchitektur steht zur Debatte — diese kommt allerdings zu spät und umfasst nicht den gesamten eurasischen Raum.
Im Krieg, der gegenwärtig in der Ukraine stellvertretend zwischen dem „Westen“ und Russland geführt wird, sprechen deutsche Politiker davon, jetzt eine Sicherheitsarchitektur für Europa entwickeln zu wollen. Gut. Aber warum nur für Europa? Warum erst jetzt? Und warum nicht für den ganzen eurasischen Raum mit Wirkung auf die globale Stabilität? Warum musste Russland nach der Auflösung der Sowjetunion in zügellosem Triumphalismus erst als „Regionalmacht“ gedemütigt werden, ohne zu bedenken, welche Gegenkräfte damit auf den Plan gerufen würden? Warum musste die Ukraine erst durch das Chaos des Maidan, erst durch acht Jahre eines blutigen Bürgerkrieges zwischen Kiew und den abgespaltenen Provinzen Lugansk und Donezk gezogen, warum schließlich erst in das für die Ukraine desaströse Martyrium der Ausweitung dieses Bürgerkrieges zum Krieg mit Russland getrieben werden, ohne den militanten Nationalismus zu bedenken, der damit provoziert würde? Warum mussten Europa, Eurasien, die Welt erst wieder an den Rand eines globalen Krieges gebracht werden, statt das Ende des „Kalten Krieges“ dafür zu nutzen, eine neue Ordnung im friedlichen Zusammenwirken eurasischer Staaten zu sichern, die auch das globale Zusammenleben stabilisiert?
Lehren der Kriegsgeschichte …
Ein Blick in die klassischen Kriegstheorien von Carl von Clausewitz im 19. Jahrhundert bis zurück zu denen des Chinesen Sun Tsu aus dem fünften Jahrhundert vor Christi Geburt hätte schon ausreichen können zu erkennen, dass ein unterlegener und geschwächter Gegner, wie es Russland als Kern der Sowjetunion nach dem Ende des „Kalten Krieges“ war, nicht noch weiter geschwächt und gedemütigt werden dürfe, ohne dass damit Kräfte der Revanche herausgefordert würden.
„Je kleiner das Opfer ist, welches wir von unserem Gegner fordern“, schrieb Clausewitz unter dem Stichwort vom „Zweck des Krieges“ in seinem Buch „Vom Kriege“, „umso geringer dürfen wir erwarten, dass seine Anstrengungen sein werden, es uns zu versagen.“
Und wie er den Krieg als Fortführung der Politik mit anderen Mitteln definierte, so sah Clausewitz die Politik nach einem Sieg als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Daher sei es wichtig, so bald wie möglich vom Kriegszustand in den Frieden überzugehen.
Ähnlich sah es Sun Tsu in seinen Traktaten „Über die Kriegskunst“: „In der wahrhaftigen Kunst des Krieges ist es von jeher die beste Lösung, das Land des Feindes heil und unversehrt zu erobern; nicht gut ist es, es zu zerschmettern und zu zerstören.“
Pointiert zusammengefasst lauten diese klassischen Lehren zum Kriege: Ziel des Krieges ist der Frieden, nicht der Krieg.
… sind heute vergessen
Aber diese Lehren einer mehrere Tausend Jahre umfassenden Kriegsgeschichte scheinen heute nicht mehr zu gelten. Das lässt die jüngere Geschichte deutlich erkennen: Eine Fortsetzung des Ersten Weltkrieges durch den daraus hervorgehenden zweiten hätte es ohne die Erniedrigung Deutschlands durch die Versailler Nachkriegsregelungen nicht zwangsläufig geben müssen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg widerstanden die Westalliierten ihrem Impuls, „ihren“ Teil Deutschlands in ein Ackerland zu verwandeln, wie er sich im Morgenthauplan niederschlug, nur deshalb, weil die spätere BRD für sie als Bollwerk zum Zurückdrängen der Sowjetunion gebraucht und dementsprechend aufgebaut wurde. Die Sowjets demontierten anfänglich in großem Umfang Industrieanlagen, verzichteten aber im Interesse einer starken DDR ab 1953 auf weitere Reparationsforderungen.
Heute nehmen die Sieger des „Kalten Krieges“, allen voran die USA, selbst solch eigennützige Rücksicht nicht mehr.
Der auf Russland reduzierte sowjetische Gegner wurde und wird für sie als Bündnispartner gegen niemanden gebraucht; im Gegenteil, Russland ist den USA, die nach Selbstdefinition aus der Auflösung des Warschauer Paktes als die „einzige Weltmacht“ hervorgingen, beim Aufmarsch gegen China im Weg und aus ihrer Sicht bestenfalls als ausbeutbare Rohstoffbasis interessant.
Zugleich zahlt sich die Schonung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg und seine Einbeziehung in den herrschenden atlantischen Block bei dem Versuch, Russland auf die Rolle einer Kolonie zu reduzieren, heute politisch mit Zins und Zinseszinsen als Nibelungentreue Deutschlands gegenüber den USA in ihrem Kreuzzug gegen Russland aus.
Fortsetzung des „kalten Krieges“ mit anderen Mitteln
Dieser Kreuzzug, einer „feindlichen Übernahme“ eines Monopols durch ein anderes vergleichbar, setzte schon gegen Michail Gorbatschow ein, dessen naiver Entspannungswille missbraucht wurde, um die Sowjetunion aus Deutschland und Osteuropa hinauszudrängen, erschlichen durch die Zusage, die NATO nach der Auflösung des Warschauer Paktes nicht über die Grenzen der DDR hinaus nach Osten auszudehnen.
Es folgte die Unterstützung Boris Jelzins gegen Gorbatschows Versuche, den Sozialismus zu reformieren. Mit Jelzin, der die Sieger direkt zur Privatisierung des Landes einlud, war die Einvernahme Russlands leichter zu haben als mit Gorbatschow. Das Ganze war eine Fortsetzung des Kalten Krieges mit anderen Mitteln. Erst Wladimir Putin trat ihr entgegen, als er die Kommandobrücke in Moskau mit der Ansage betrat, Russland wieder stark machen, das hieß, das Land innenpolitisch stabilisieren und außenpolitisch wieder zum Integrationsknoten Eurasiens machen zu wollen.
Konsequent bestand Putins erste Amtshandlung darin, Russland aus der Schuldenfalle des Siegers zu lösen, indem er weitere Kreditierungen durch den Internationalen Währungsfonds (IWF) kündigte. Ergänzend dazu veranlasste er die Begleichung der sowjetischen Altschulden an die Weltbank — gegen deren erklärten Willen. Damit setzte Putin der Kolonisierung Russlands, wie sie unter Jelzin begonnen hatte, ein klares „So nicht weiter“ entgegen. „Russland auf dem Weg zu sich selbst“, lautete das Leitmotiv, unter dem Putin die Bevölkerung sammeln konnte.
Parallel zu diesen innenpolitischen Maßnahmen trat Putin im Deutschen Bundestag auf, wo er den Vorschlag vorbrachte, die mit dem Ende der Sowjetunion aufgebrochene Sicherheitsarchitektur, die in gegenseitiger Bedrohung durch NATO und Warschauer Pakt bestanden hatte, durch kooperative, das ganze Eurasien umfassende neue Sicherheitsvereinbarungen zu ersetzen.
Dämonisierung statt Kooperation
Der Vorschlag wurde von den Abgeordneten des Bundestages, woran man zwar nicht oft genug erinnern kann, in stehenden Ovationen beklatscht — aber nicht umgesetzt. Putins Angebot passte nicht zu den Interessen der „einzigen Weltmacht“, wie sie am klarsten in den Schriften von Zbigniew Brzeziński formuliert wurde. Er konnte sich zwar ein dreifach geteiltes Russland gut als ein östliches, westliches und mittleres Gebiet vorstellen — aber ohne Putin, das heißt, Russland als ein politisch amputiertes, willenloses Objekt kolonialer Ausbeutung. Ein Putin, der sich dagegen stemmt, noch dazu in möglichem Bündnis mit den Deutschen, war in dieser Vision nicht vorgesehen.
Zu erinnern ist hier auch an die Ausführungen der Friedmans und Co, die sich nicht scheuten, öffentlich zu erklären, dass die USA nichts so sehr fürchten wie ein Zusammenwachsen von Deutschland und Russland, Know-how und Ressourcen. In der Tat muss man dazu sagen: Ein Zusammenrücken von Moskau und Berlin könnte eine eurasische Ellipse entstehen lassen, welche die Hegemonie der USA infrage stellt. Dies zu verhindern hat für die USA existenzielle Dimensionen.
Auf der Linie dieser Strategie wurde das neue, nachsowjetische Russland, wie oft in letzter Zeit beschrieben, Schritt für Schritt durch NATO- und EU-Erweiterung sowie durch bunte Revolutionen eingekreist und eine massive ideologische Aufrüstung gegen Putin als neuer Stalin, wahlweise Hitler in Gang gesetzt, der das russische Imperium mit Gewalt restaurieren wolle.
Jahr für Jahr wiederholte Angebote, ja Mahnungen vonseiten Russlands zur Einrichtung einer neuen Friedensordnung prallten an dieser Strategie ab. Im Ergebnis sah sich Russland in wachsendem Maße bis dicht vor seine Grenzen vom Westen eingeschnürt. Der jetzige Krieg ist Ergebnis dieser Entwicklung.
Schaut man so in die Geschichte, insbesondere in die Jahre nach dem Ende der Sowjetunion zurück, dann wird deutlich, dass der jetzt in der Ukraine geführte Stellvertreterkrieg die Zuspitzung einer Politik ist, die kein Ende des Krieges nach dem Sieg mehr kennt. Jetzt ist nicht mehr nur von Sieg die Rede, jetzt ist die „Zerstörung“ Russlands das erklärte Ziel der sich herausbildenden westlichen Allianz unter amerikanischer Führung. Der Krieg ist nicht mehr die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, Politik nicht mehr die Fortsetzung des Krieges durch diplomatische Mittel, sondern Krieg und Frieden sind dabei in eine Dauerverbindung miteinander überzugehen, deren Ergebnis, wenn nicht ein Wunder geschieht, nicht eine neue Friedens-, sondern eine dauerhafte Kriegsordnung ist, in der sich Informations-, Sanktions- und wuchernde Stellvertreterkriege miteinander verbinden.
Und doch …
Noch jetzt wäre ein Waffenstillstand sofort möglich, in dem beide Kriegsparteien ihr Gesicht wahren könnten, wenn die Ukraine sich entsprechend ihrer geschichtlichen und geografischen Natur als Durchgangsland zwischen Ost und West, Norden und Süden zum neutralen Raum zwischen Russland und Europa erklärte. Möglich wären Vereinbarungen über eine lokale und mit diesem Schritt einhergehende eurasische Friedensordnung, wenn die USA und die europäische „Elite“ sie wollten, wenn die europäischen „Eliten“ sich von den USA unabhängig machen würden, wenn nicht das Trugbild einer Ukraine aufrechterhalten würde, die für „unsere“ Demokratie kämpfe und hinter deren Grenzen sich die „Barbarei“ öffne.
Was folgt aus all dem für Deutschland? Einfach gesagt, Deutschland wäre aufgrund seiner eigenen Geschichte, sich zweimal als Kriegsverlierer regenerieren zu müssen, sowie seiner aktuellen Stellung in der Europäischen Union die Kraft Europas, welche die Forderung nach sofortigem Waffenstillstand und nach einem Übergang in eine neue Friedensordnung jetzt und hier am glaubhaftesten vorbringen könnte. Dies gilt umso mehr, nachdem die Schweiz die Rolle des neutralen Vermittlers ohne Not abgegeben hat; es gilt aber auch nur dann, wenn Deutschlands politische Vertreter sich aus dem blinden Vasallentum gegenüber den amerikanischen Interessen lösen. Nur „Zögern“, allerdings aber zugleich Waffen an die Ukraine liefern, reicht dafür nicht. Es bedarf des klaren Auftretens für eine politische Deeskalation, statt der weiteren Befeuerung und tendenziellen Ausweitung des Krieges über die Grenzen der Ukraine hinaus.
Gebraucht wird Deutschland als Vermittler, der den sofortigen Waffenstillstand und die Aufnahme von Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien aktiv fördert, statt Waffen in die Ukraine zu schicken, wenn verhindert werden soll, dass die Menschen in der Ukraine, Ukrainer wie auch Russen, weiterhin als Kanonenfutter für den Stellvertreterkrieg, den die „einzige Weltmacht“ in der Ukraine gegen Russland führen lässt, benutzt und verbraucht werden und wenn Deutschland seine eigene Zukunft mit Russland retten will. Denn — um es in einem Bild zu sagen — Deutschland ohne Russland, das ist wie ein Ei ohne Schale, so wie umgekehrt Russland ohne Deutschland eine Schale ohne Ei ist. Zusammen, aktiv verbunden durch eine neutrale Ukraine, können sie eine Kraft bilden, die in die Zukunft weist, getrennt durch einen Dauerkrieg um die Ukraine sind sie nicht lebensfähig — nicht Deutschland, nicht Russland und auch nicht die Ukraine. Erst recht entsteht so keine neue globale Sicherheitsarchitektur.